Wie es ist … einen Videospiel-Charakter zu verkörpern

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Fotografie:
Jennie Scott
DATUM Ausgabe Mai 2024

Einen Videospiel-Charakter zu verkörpern, unter­scheidet sich stark vom ­klassischen Schauspielern. Ich trage dabei einen Motion-Capture-Suite mit dutzenden Sensoren und Mikrofone am Körper, keine Kostüme. Rund um mich ist alles grau und voller Kameras. Die Zeilen meines Gegenübers spricht kein Schauspieler, sondern jemand hinter einer Glaswand. Viele meiner Co-Stars, mit denen ich etwa in ­›Baldur’s Gate 3‹ rede, teilweise sogar Beziehungen führe, habe ich erst nach dem Erscheinen des Spiels so richtig kennengelernt. 

Ich verkörpere darin ­Shadowheart, eine Begleiterin des Spielers. Sie hat ihre Erinnerungen verloren und sucht nun nach ihrer wahren Identität. All das, ihre Vergangenheit und wie sie sich ihr­ ­nähert, schrieben die Autoren erst während der Produktion des Spiels fertig. Ich wusste anfangs also kaum etwas über Shadowhearts Leben. Während die Figur im Spiel mehr darüber erfuhr und sich entwickelte, lernte auch ich mehr darüber. 

Insgesamt dauerte es viereinhalb Jahre, bis ich meine Rolle zu Ende gespielt hatte. Diese lange Zeit braucht so ein umfangreiches Spiel. Alle Bewegungen, die Shadowheart in dem Spiel macht, stammen von mir. Jeder ihrer Atemzüge ist ursprünglich meiner. 

Gefilmt haben wir in einer grauen Box voller Kameras, meine Umgebung wurde später animiert. Das Gute an diesem Setting war, dass wir Szenen vom Beginn des Spiels auch gegen Ende der Dreharbeiten neu aufnehmen konnten, ohne ein Set aufbauen zu müssen. Die Leere war aber erdrückend. Im Theater habe ich wenigstens ein paar Requisiten auf der Bühne. Während der Arbeiten zu ›Baldur’s Gate‹ gab es nichts Greifbares, ich musste jede Umgebung in meinem Kopf erzeugen. Es war ein bisschen so, also wäre ich wieder sechs und würde mit imaginären Freunden spielen. Diese Fähigkeit habe ich trainiert wie einen Muskel. Anfangs tat ich mir schwer, mir vorzustellen, plötzlich in einer Höhle gegen Goblins zu kämpfen. Mittlerweile kann ich mit einem Wimpernschlag in eine andere Welt eintauchen.

Am schwierigsten waren romantische Szenen, in denen es auch Vorspiel und Sex zu sehen gibt. Wir hatten dafür einen eigenen Intimitäts-Coach, der uns darauf vorbereitete. Er stellte sicher, dass ich das Drehbuch gut studiert hatte und auch emotional bereit war, jetzt einen sexuellen Akt zu spielen, auch wenn ich dabei allein in meiner grauen Box war. Ganz allgemein sollte sich jeder am Set wohl und sicher fühlen.

Was für mich während dieser Aufnahmen witzig war: Ich hatte mich zuvor in Aliona Baranova, meine Bewegungs-Anleiterin, verliebt. Wir kamen recht bald zusammen und waren schon während der Dreharbeiten ein Paar. Deshalb war sie ein toller Barometer für meine Performance. Je röter sie hinter der Glasscheibe des Studios wurde, umso besser hatte ich die Sex-Szenen gespielt.

Es sind solche Geschichten, deretwegen ich bezweifle, dass mein Job in Gefahr ist. Klar, Künstliche Intelligenz besorgt uns alle, aber nichts schlägt die Emotionen, Spontanität und Kreativität von echten Menschen. Meine eigenen ­Erfahrungen als Jennifer haben den geschriebenen Charakter von Shadowheart so viel menschlicher gemacht, als es ein Programm je könnte. Und ich glaube nicht, dass Spieler etwas anderes wollen würden. ›Baldur’s Gate 3‹ wurde Spiel des Jahres. Das spricht wohl für sich. •

Zur Person:

Jennifer English arbeitet als Schauspielerin und Synchronsprecherin für Videospiele. Die gebürtige
Britin hat Charakteren in Spielen wie ›Elden Ring‹ und ›Baldur’s Gate 3‹ ihre Stimme und in letzterem auch ihren Körper geliehen.