Der Krieg in Chiaroscuro

Warum wir auch in der Fotografie ›embedded journalism‹ brauchen.

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Fotografie:
Roman Pilipey/AFP/picturedesk.com
DATUM Ausgabe Mai 2024

Man muss genau schauen, um hinten an der Wand die Kinderzeichnungen mit den Herzen in den ukrainischen National­farben und den Panzern zu ent­decken. Im Zentrum des Fotos, das der ukrainische Pressefotograf Roman Pilipey in ­Bachmut im Osten der Ukraine aufgenommen hat, steht beziehungsweise liegt der nackte Patient am Behandlungstisch eines improvisierten Feldlazaretts. 

Das Bild spielt durch Motiv und Licht­situation auf die christliche Ikonographie an, meint Annette Vowinckel. Sie beschäftigt sich als Expertin für Visual History am Zentrum für zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam mit der Geschichte der Pressefotografie und bildethischen Fragen. ›Mir fallen Darstellungen der Grablegung Christi oder vom ungläubigen Thomas ein, zum Beispiel vom Barock-Maler Caravaggio‹, sagt die ­Historikerin. In der Kunstgeschichte nennt man diesen Hell-Dunkel-Kontrast ›Chiaroscuro‹. Das bringe nicht nur Dramatik, sondern lenke auch den Blick auf die Figuren. Eventuell seien die Lichtverhältnisse nachbearbeitet, mutmaßt Vowinckel. Dass nicht wie üblich in OP-Räumen extrem hell aus­geleuchtet ist, unterstreicht die Ausnahme­situation und die Notlage zusätzlich. 

Die Expertin weist auf eine Art Dreiecksstruktur hin: ›Von der Decke hängt mittig der Tropf, rechts und links hantieren zwei kaum erkennbare Männer, die wie der Arzt in der Mitte olivgrün gekleidet sind. Das lässt auf den militärischen Kontext schließen.‹ Vowinckel vermutet, dass Pilipey sich in der Malereigeschichte auskennt. Jedenfalls habe er ein professionelles Gespür dafür, wie Bildaufbau funktioniert. ›Das ist ein Bild, das hätte man so malen können – wenn auch nicht mit all den Details. Es ist durchkomponiert wie ein Gemälde‹, sagt sie. ­Einzig die gelbe Kunststoffverpackung fällt aus dem Farbspektrum. ›Man hätte sie wegretuschieren können, aber das macht man nicht als Pressefotograf.‹ Insofern sei sie ein Indiz dafür, dass es sich um eine authentische Aufnahme handle. ›Und hätte eine Künstliche Intelligenz das Bild erstellt, ­würden hier keine Feuchttücher liegen‹, ergänzt die Geschichtswissenschaftlerin. 

Roman Pilipey arbeitet als ›embedded journalist‹. Das bedeutet: Er ist zeitweise mit der Armee am Kampfschauplatz. ›Embedded journalism‹ sei keine neue Erfindung, ­sondern so alt wie die Fotografie selbst, erklärt Vowinckel. Das habe es bereits im amerikanischen Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben, versichert sie. Neu ist die schnelle Übertragung durch die Digitalisierung. Bilder werden in manchen Situationen direkt von der Kamera in die Redaktionen geschickt. Die Journalisten agieren an der Front als ihre eigenen Bildredakteure. Sie treffen aus ihren täglich hunderten Bildern eine erste Auswahl.

›Das Zitat, dass die Wahrheit das erste Opfer im Krieg ist, halte ich für Quatsch‹, sagt Vowinckel. Gerade diese Art von Fotografie hätte einen hohen Anspruch, nämlich zu zeigen, wie der Krieg wirklich aussieht, und zwar wortwörtlich. ›Wir wissen, es hängt immer auch davon ab, welche Perspektive man einnimmt und welchen Ausschnitt man wählt, aber dadurch, dass diese Fotografen mit den Truppen unterwegs sind, haben sie eine ganz andere Nähe zum Geschehen‹, ­betont sie, um gleich danach den berühmten Kriegsreporter Robert Capa zu zitieren: ›If your pictures aren’t good enough, you are not close enough‹. Das zeige den Anspruch auf Unmittelbarkeit in der Kriegsfotografie. ›Wenn wir embedded journalists nicht hätten, wären wir nur auf die Fotos der Militärfotografen angewiesen. Und stellen Sie sich vor, irgendwelche russischen Soldaten unter Putin liefern die Bilder! Das ist, was wir als Propagandabild bezeichnen würden.‹ •