Wie es ist … junge Menschen zu deradikalisieren

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Fotografie:
Stanislav Jenis
DATUM Ausgabe März 2025

Es gibt kein Schema, nach dem ich jemanden deradikalisieren kann. Jeder Fall ist anders. Die Menschen, mit denen ich arbeite, werden uns von Schulen, Jugendämtern oder der Justiz zugeführt. Manchmal bitten Familien um Hilfe. Es geht dabei nicht nur um religiösen Extremismus, auch wenn das häufig der Schwerpunkt ist.

Vor ein paar Jahren arbeitete ich mit einigen Personen um die 30 Jahre, die sich alle dem Islamischen Staat angeschlossen hatten. 

Eine von ihnen, sie wuchs in einem normalen Haushalt in Österreich auf, reiste ins Ausland, um im ›Kalifat‹ zu leben – auf der Suche nach einem idealisierten Bild des Islams. Doch die Realität dort entsprach nicht den Erwartungen, also kehrte die Person zurück. Während ihres Prozesses machte sie falsche Angaben, um ihre Strafe zu mildern. Das erste Mal traf ich sie im Gefängnis. 

Misstrauen dominierte unsere ersten Gespräche. Also begann ich, mit ihr zu ›fachsimpeln‹ – über die Weltanschauung, Akteure und Strömungen des politischen Islams. Sie erklärte mir ihre Überzeugung: Der Islam könne erst dann vollständig gelebt werden, wenn Gottes Gesetze zu jenen des Staates würden.

Nach und nach öffnete sie sich und erzählte, wie alles begann: Ihre Freundin beschäftigte sich mit dem Islam und besuchte einen Gebetsraum. Sie ging mit. Dort hörten sie einschlägige Vorträge. Parallel konsumierten sie extreme Inhalte im Internet. Die Botschaft war klar: Wer den Islam wirklich leben wolle, müsse auswandern. In Österreich sei das unmöglich, da Muslime hier verfolgt würden.

Die Herausforderung bestand darin, ihr festgefahrenes Weltbild aufzubrechen. Ich zeigte die Widersprüche auf. Die Vorstellung, dass der ›ideale Islam‹ an ein politisches System gebunden sei, ist nicht theologisch begründet, sondern politisch motiviert. Wir sprachen über die Ursprünge dieser Ideen, wie politische Bewegungen islamische Symbole instrumentalisierten, um Machtansprüche zu legitimieren.

Überzeugungen zu dekonstruieren, ist ein jahrelanger Prozess. Diese jungen Menschen haben dafür ihre Familie und Freunde hinter sich ge­lassen. Viele Sozialarbeiter reduzieren Radikalisierung auf familiäre Konflikte, Ausgrenzung oder Traumata, die es zu lösen gelte. Ja, sie spielen eine Rolle, aber die Ideologie selbst ist ebenso mächtig. Sie produziert Feindbilder, ohne dass jemand je selbst Zurückweisung erfahren haben muss. Diese Weltsicht müssen wir dekonstruieren.

Garantie für einen Erfolg unserer Arbeit gibt es nicht. Aber eine Annäherung. Das soziale Umfeld und ein geregeltes Leben sagen viel aus. Außerdem teste ich meine Klienten, indem ich provokante Bemerkungen, zum Beispiel über bestimmte Theologen, einstreue und beobachte, wie sie reagieren. Ist die Reaktion emotional, weiß ich, dass noch etwas in ihnen arbeitet. 

Aktuell verbreiten sich extremistische Ideologien sehr stark. In jeder städtischen Schule, die ich besuche, treffe ich junge Leute, die schon damit in Kontakt gekommen sind. Sie radikalisieren sich heute nicht nur in Gebetsräumen, sondern auch auf Telegram, Instagram oder Tiktok. Die Ideologie, das Grundproblem, bleibt dieselbe.

Deshalb ist Prävention­s­arbeit wichtig. In Schulen, Sportvereinen, Jugendzentren – überall dort, wo junge ­Menschen zusammen­kommen. Es geht darum, sie über radikale Ideologien aufzuklären, bevor sie damit in Kontakt kommen. •

Moussa Al-Hassan Diaw ist islamischer Religionspädagoge. Er ist Gründer der 2015 ins Leben gerufenen Organisation ›DERAD‹ und betreut Menschen mit extremistischem Gedankengut.

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