Es ist globale Zeitenwende, und wir sind mittendrin. Laute Gruppen stellen wesentliche rechtsstaatliche Errungenschaften und Garantien, individuelle Grundrechte, bürgerliche Freiheiten und in manchen Ländern auch Verfassungsgüter, sogar Grundsätze von Staatlichkeit infrage. Wähler dieser Gruppen machen ein Kreuzerl für Präsidenten von Demokratien – und bekommen Autokraten. In den USA, Russland und der Türkei, in Polen, Ungarn und Österreich: Populisten sind auf Erfolgskurs. Ihre Kraft der Verführung scheint groß.
Egal wie häufig und in welcher Verpackung dieses Politikangebot daherkommt: Es stellt die Interessen von wenigen über die Rechte von allen. Populisten treiben Keile zwischen Menschen. Populisten kapern Gemeingüter. Die Erfolglosen unter ihnen belassen es beim Vorsatz, während die Erfolgreichen ihren Zugriff auf den Staat missbrauchen: Sie privatisieren oder plündern ihn gar, materiell wie immateriell.
Unsere größte Pflicht und wichtigste Stärke wird es sein – in einem Jahr, in drei und in zehn Jahren –, uns jeden Tag von Neuem vor Augen zu halten, wie inakzeptabel dieses Politikangebot ist und bleibt. Es wird wesentlich und schwierig sein, diese Haltung durchzustehen. Und noch mehr, mit ihr die Deutungshoheit zu erringen und zu bewahren. Denn wir werden verführt werden: vom Anschein der Normalität, von der Verunsicherung unserer bisherigen Grundannahmen, von der Süße des Arrangierens. Nein?
Für das Nein helfen die Kopien zweier Texte in der Manteltasche: ›Autokratie – Regeln für das Überleben‹ von Masha Gessen (New York Review of Books, 10. November 2016) und ›Eine Zeit der Verweigerung‹ von Teju Cole (New York Times Magazine, 11. November 2016).
Der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Cole greift ein Theaterstück des französisch-rumänischen Schriftstellers Eugène Ionesco auf, ›Die Nashörner‹. Er schrieb es 1957 als Hinweis auf unseren Umgang mit dem Totalitären und dem Konformen. Der Plot: zwei Männer in der Stadt, ein Nashorn spaziert vorbei. Zuerst glaubt man es kaum, es ist zu absurd! Immer mehr Menschen werden zu Nashörnern! Cole zitiert den Dialog, in dem Behringer zu seinem Freund Hans sagt: ›Sie sind sich doch klar darüber, dass wir eine Philosophie haben, die die Tiere nicht haben. Ein Gebäude von unvertauschbaren Werten. Jahrhunderte menschlicher Zivilisation haben es erbaut.‹ Hans, bereits fast zum Nashorn geworden, antwortet: ›Nieder damit, es wird uns ohne besser gehen!‹ Fast jeder verwandelt sich: jene, die die schiere Kraft der Nashörner mögen. Jene, die den Anzeichen von Beginn an keinen Glauben schenkten. Auch jene, die von Beginn an Alarm geschlagen hatten. Einer sagt: ›Wenn man kritisiert, dann wohl besser von innen heraus.‹ Sagt’s und wird vorsätzlich zum Nashorn.
Das zweite Textstück für die Manteltasche ist von der russisch-amerikanischen Autorin Masha Gessen. Sie gibt uns sechs Regeln für die neue Zeit mit. Regel eins: Der Autokrat meint, was er sagt. Zweitens, kleine Anzeichen von Normalität (etwa Beruhigung an den Börsen) trügen. Drittens, Institutionen werden uns nicht retten. Regel vier: ›Be outraged.‹ Gessen legt uns ans Herz, die Fähigkeit zum Schock und zum Abstandhalten zu bewahren: ›Die Leute werden dich unvernünftig und hysterisch nennen, dich der Überreaktion bezichtigen. Es ist nicht lustig, die einzige hysterische Person im Raum zu sein. Bereite dich vor.‹ Regel fünf: keine Kompromisse. Regel sechs: nach vorne denken, Zukunft üben. Laut Gessen gewinnt nur Wahlen, wer eine Vorstellung von der Zukunft hat.
Die Autorin leitet den Bereich Internationales bei der Stiftung Mercator.
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