Wo alle sein wollen

Das Wort Mittelschicht ist in der Politik zum Kampfbegriff geworden. Die meisten Menschen zählen sich selbst dazu – viele davon zu Unrecht. Auch der Wissenschaft fehlt eine einheitliche Definition.

DATUM Ausgabe September 2020

Wenn das Wort Mittelschicht fällt, haben die meisten Menschen sofort ein Bild im Kopf: Studium, Karriere, Heirat, Eigenheim, zwei Kinder, ein Hund. Etwa so stellen sich viele nämlich den Lebensweg der Mittelschicht vor. Aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir von der Mittelschicht sprechen? Das kommt ganz darauf an, wen man fragt. Der Begriff ist politisch und umkämpft. Auch weil er viel darüber aussagt, wie wir Armut und Reichtum definieren.

Grundsätzlich wird die Mittelschicht meist über das Netto-Haushaltseinkommen bestimmt. Dazu zählt das Gehalt genauso wie Dividenden, staatliche Beihilfen, aber auch beispielsweise Taschengeld der Großeltern. Ausgehend vom Nettomedianeinkommen gibt es jedoch sehr verschiedene Grenzwerte.

Für die Statistik Austria etwa zählen 60 Prozent bis unter 180 Prozent des sogenannten äquivalisierten Medians zu den mittleren Einkommen.  › Äquivalisiert ‹ bedeutet, dass durch statistische Berechnungen Haushalte verschiedener Größe vergleichbar gemacht werden. 2019 waren das dann 1.286 bis 3.859 Euro netto monatlich. Der untere Grenzwert entspricht der Ar­­muts­­gefährdungsschwelle – wer formal nicht von Armut bedroht ist, zählt hier schon zur Mitte. Rund 78 Prozent fallen nach Statistik Austria in die Mittelschicht – 13 Prozent rangieren darunter und neun Prozent da­­rüber. 

Die OECD dagegen begrenzt die Mittelschicht mit 75 bis 200 Prozent des Medians, wodurch die Mittelschicht nach oben rückt. Das waren 2019 bei einem Single-Haushalt 1.717 bis 4.579 Euro pro Monat. Für jeden weiteren Erwachsenen und jedes Kind wird der Betrag gestaffelt erhöht. Nach dieser Definition reicht die Mittelschicht bis weit in die obersten zehn Prozent der Einkommen und umfasst 67 Prozent der Bevölkerung.

Für beide Definitionen gilt: Die Mittelschicht ist darin keine homogene Gruppe. Die Lebensrealität jener, die am unteren und oberen Rand der Mittelschicht stehen, ist kaum vergleichbar. Viele entscheidende Aspekte werden durch die Abgrenzung nur nach Einkommen nicht erfasst. › Es macht auch einen Unterschied, welchen Zugang zu Ressourcen und Chancen Menschen haben. Ist man prekär beschäftigt oder hat einen unbefristeten Arbeitsvertrag? Welche Aufstiegsmöglichkeiten hat man? Hat man Vermögensbestände? Erbt man? Wohnt man in der Stadt oder am Land? Aus welchem Milieu kommt man? ‹ sagt Carina Altreiter, Soziologin an der Wirtschaftsuniversität Wien. 

Während 48 Prozent der mittleren Haushaltseinkommen nach Statistik Austria angeben, ein Haus zu besitzen, erklären auch 15 Prozent dieser Mitte , keine unerwarteten Ausgaben tätigen zu können. Für sieben Prozent der vermeintlichen Mittelschichtsangehörigen sind Sozialleistungen die Haupteinnahmequelle, und rund jeder zehnte Mittelschichts-Haushalt gibt an, sich keinen Urlaub leisten zu können. Die Lebenskosten steigen seit Jahren rascher als die Löhne. Die Grenze bleibt aber dieselbe.

Eine naheliegende Lösung des Definitionsproblems wäre es, mehrere Parameter – etwa Einkommen, Konsum und Vermögen  – hinzuzuziehen. Das hat die österreichische Nationalbank im Jahr 2017 auch ge­­macht. Dafür wurden jeweils ganz pragmatisch die mittleren 60 Prozent jeder Kategorie als Mittelschicht definiert – eine weitere Definition, die auch die OECD verwendet. Das Ergebnis: nur 27 Prozent der Bevöl­kerung zählen bei allen drei Kriterien zur Mitte, über ein Viertel jeweils nur in einem der Bereiche.

Ein ähnliches Bild zeigt die Clusteranalyse der Wirt­­schaftswissenschaftlerin Gloria Kutscher. 

Sie hat dafür die Klassenstruktur (ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital) mit der Diversitätsstruktur verbunden. So ergibt sich eine prekäre Klasse (13 Prozent), Arbeiterklasse (40 Prozent), Mittelklasse (35 Prozent), wohlhabende Klasse (acht Prozent) und eine Elite (vier Prozent). Diese Mittelschicht ist kleiner als in gängigen Definitionen, entspricht aber auch mehr der landläufigen Vorstellung: › Die Mehrheit sind Berufstätige mittleren Alters in Paarhaushalten. Sie besetzen sichere Branchen, Verträge und Einkommen. Sie sind qualifiziert, aber Handwerker sind ge­­nauso vertreten wie Studierte. Viele haben Eigentum. Und sie leben meist schon seit mehreren Generationen in Österreich ‹, fasst Kutscher die Ergebnisse zu­­sammen.

Es gibt also nicht die eine Mitte. Zusätzlich können Daten ohne einheitliche Definition selektiv genutzt werden, andere wiederum stehen gar nicht zur Ver­fügung. › Das ist wie eine Brille, die immer nur be­­stimmte Ausschnitte der Wirklichkeit zeigt. Nach dem Einkommen beurteilt, hat Österreich nach wie vor eine breite, stabile Mitte. Nach dem Vermögen schaut die Mitte hingegen sehr mager aus ‹, sagt Altreiter. Und weil nur wenige sich theoretisch mit Definitionen auseinandersetzen und sie aushandeln, aber die meisten dennoch eine Vorstellung davon haben, was Mitte ist, wurde sie zu einem Symbol, einem Narrativ. Wie etwa das Wort › Migration ‹ wird auch das Wort › Mittelschicht ‹ politisch – und populistisch – bedient, ohne dass überhaupt ein kollektives Verständnis darüber besteht, was dieses Wort bedeutet. › Das macht den Diskurs schwierig. Die Interessen der Mittelschicht können deswegen weder von ihr selbst noch von anderen klar vertreten werden. Es wäre wichtig, trotz aller Heterogenität gemeinsame Nenner zu identifizieren ‹, so Kutscher.

Genauso umkämpft wie der Begriff selbst sind auch die Stimmen der (vermeintlichen) Mittelschicht. Im Wahlkampf 2019 fordert die SPÖ eine Vermögens- und Erbschaftssteuer. ÖVP und FPÖ sprechen sich dagegen aus: Das schade der Mittelschicht, die sich das Geld hart erarbeitet habe! Umgekehrt spricht sich die SPÖ – genauso wie FPÖ und ÖVP – gegen die CO2-Steuer aus. Damit würde die bereits so belastete Mittelschicht getroffen! Fast alle wollen heute also nicht nur eine Partei der Mitte, sondern auch eine für die Mitte sein.

Auch weil sich weit mehr Menschen als Teil der Mittelschicht angesprochen fühlen, als tatsächlich dazugehören. Die Wahrnehmung, was und wer zur Mittelschicht gehört, ist – egal, welche Definition man heranzieht – weit von den wahren Verteilungsverhältnissen entfernt. Laut einer Studie der österreichischen Nationalbank (2017) schätzen Befragte aller ökonomischen Schichten ihr Vermögen im Vergleich zur allgemeinen Vermögensverteilung durchschnittlich zu weit Richtung Vermögensmitte ein. Die Verkennung der Vermögensverhältnisse habe auch mit dem Gesellschaftsbild zu tun, das mit dem Begriff Mittelschicht von der Politik konstruiert und aufrechterhalten werde, denkt Altreiter: › Es vermittelt eine ausgeglichene Gesellschaft. Wenige oben und unten. Alles ist wenig polarisiert. Das verdeckt viel von den tatsächlichen sozialen Ungleichheitslagen. ‹

Arm und reich sind jedenfalls für die meisten nur die anderen – man selbst ist die Norm.

Das liegt auch an den Attributen, mit denen die Mittelschicht besetzt wird: strebsam, fleißig, stabilisierend. › Diese Mitte wird als ein Sehnsuchtsort beschrieben. Als das leistungsfähige Rückgrat des So­­zialstaates. Da will man natürlich dazugehören ‹, sagt Altreiter. Sich einzugestehen, dass man arm oder reich ist? Das fällt den meisten schwerer. Beide Kategorien werden – von unterschiedlichen Playern und mit verschiedener Motivation – weniger positiv besetzt. Nur sind die, die nach unten treten, damit erfolgreicher. › Die vermeintliche Mittelschicht wird durch den politischen Diskurs moralisch in Stellung gegen die sogenannte Unterschicht gebracht. Man konstruiert, dass das eine die Sozialschmarotzer, das andere die Fleißigen sind, und spielt sie so gegeneinander aus ‹, so Altreiter. Auch aus diesem Erhabenheitsgefühl heraus orientieren sich viele eher an den klassischen Interessen der Reicheren – etwa gegen Vermögenssteuern und Gesamtschulen – und blicken auf jene, die weniger haben, herab. Oder wählen zumindest so.

Nicht zuletzt wegen der Hoffnung, man könnte bald selbst zu den Reichen gehören. Dabei ist die ökonomische Mobilität zwischen den Schichten in Österreich im internationalen Vergleich besonders gering. Von einer größeren Durchlässigkeit könnten womöglich auch viele aus der allzu breit gefassten Mitte profitieren. •