Wo die wilden Bären wohnen
Im Trentino sorgt der Braunbär M49 für Konflikte : Die einen wollen ihn loswerden, die anderen verteidigen seine Rechte. Wie viele Bären verträgt eine Tourismusregion ?
Wo die wilden Bären wohnen, tragen die Ortschaften melodisch klingende Namen wie Pinzolo, Folgarida und Andalo und senken sich zwischen bewaldete, nach oben zunehmend felsige Bergspitzen in grüne Täler hinein. Die Menschen in den Häusern mit den typisch roten Ziegeldächern leben meist von der Pracht des Naturparks Adamello-Brenta, indem sie die Almen landwirtschaftlich nutzen oder die Berge den Touristen zur Sommerfrische anbieten. Ein anderer Bewohner auf ledrigen Tatzen hat sich wiederum beides zunutze gemacht, die Natur und den Menschen : Dem Bären mit der Kennzeichnung M49 war die Wildnis in diesem Dolomitengebirge ein Zuhause, und um seinen Hunger zu stillen, hat er sich an landwirtschaftlichen Erträgen der Menschen gütlich getan. Dabei ist er in Ungnade gefallen.
M49, bald hieß er Papillon, war in seinem kurzen Leben schon vieles : Einbrecher, Ausbrecher, sediert, gefeiert, gefürchtet. Im Coronajahr 2020 besuchte der Braunbär unter den interessierten Blicken der italienischen und internationalen Presse leerstehende Almhütten und plünderte Bienenstöcke, wurde deshalb gejagt und eingesperrt und türmte mehrmals aus dem Gehege. M49 gehört zur derzeit größten alpinen Bärenpopulation, die mit EU-Mitteln gefördert wurde und nun stetig weiterwächst.
Im vergangenen Herbst wurde er endgültig eingefangen, führt seitdem in einem Tierpflegezentrum bei Trient hinter Zementmauern und Elektrozäunen ein recht eintöniges Leben und wartet darauf, wie über ihn gerichtet wird. Währenddessen verhärten sich außerhalb der Absperrungen die Fronten in der Frage, wie man denn mit Bären umgehen soll, allen voran mit jenen, die wie M49 aus der Reihe tanzen. Wie es scheint, ist die Akzeptanz der Trentiner Bevölkerung dem Bären gegenüber außerdem in den vergangenen Jahren stark gesunken. Will das Trentino seine Bären nicht mehr ? Und geht das noch zusammen, Natur und Zivilisation ?
Strembo ist ein kleines Dorf in der Val Rendena, ein mitten durch den Naturpark verlaufendes Tal. Die meisten Menschen und Häuser in Strembo sind alt, es gibt viele renovierte Höfe und dazwischen aufwändig gestaltete Bed and Breakfasts, außerdem ein Weltkriegsdenkmal, einen Supermarkt, ein Rathaus und das Naturparkhaus Adamello-Brenta. Würde man die Wälder um das Dorf herum röntgen, wer weiß, wie viele Bären man sehen würde, sagt Marco Armanini, Zoologe im Naturpark, in Windstopperweste und Cargohose, als er in den Jeep des Naturparks steigt. Der Jeep ist an der Seitentür mit dem Logo des Naturparks versehen : einem Bären vor grünen Bergen.
Die meisten Braunbären sind dämmerungs- oder nachtaktiv, die Chance, ihnen am helllichten Tag zu begegnen, noch dazu im Zentrum belebter Ortschaften, ist gleich null, erklärt er. Wenn sich ein Bär dann doch einmal in Menschennähe verirrt, macht er natürlich Schlagzeilen, sagt Armanini. L’orso fa l’orso, wie man hier so schön sagt. Ein Bär, der den Bären macht und im Wald vor sich hinlebt, ist keine Nachricht wert. Die mediale Aufmerksamkeit gehört den auffälligen Exemplaren.
Einer dieser auffälligen Bären ist M49. Hier, in der Val Rendena bekam er im Sommer 2019 seine ersten Schlagzeilen. Er schlich auf Almen herum und schlug Scheiben ein, um sich Nahrung zu beschaffen. Lokale Zeitungen beschrieben ihn als intelligent und mutig. Und auch ein bisschen selbstbewusst : 16 Einbrüche auf Almen in jenem Sommer gehen auf das Konto dieses Bären. Irgendwann trieb M49 das Spielchen zu weit und traf auf einen Hirten, der ihn erst mit einem Schreckschuss in die Flucht schlagen konnte. Dann überschlugen sich die Ereignisse : Maurizio Fugatti von der rechtspopulistischen Partei Lega, Landeshauptmann der autonomen Provinz Trient, sah in M49 eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und erteilte den Befehl, ihn einzufangen.
Der damalige italienische Umweltminister Sergio Costa hingegen plädierte für die Freiheit des Bären. Damit waren die Fronten geklärt und der Streit darüber entbrannt, wie man angemessen auf einen Problembären reagiert. Ganz nebenbei wurde aus dem Disput auch ein Kräftemessen zwischen dem Staat und dem Trentino, das sich in seinem Status als autonome Provinz angegriffen sah.
Heute ist es zwei Jahre her, dass M49 in der Val Rendena randaliert hat. Marco Armanini steuert den Jeep mit dem Bärenlogo knirschend über die steile Schotterstraße. Neben ihm sitzt Andrea Mustoni, auch er ist Zoologe im Naturpark. Die beiden wollen heute eine Genfalle überprüfen. Sie besteht aus einem kleinen Holzverschlag auf dem Waldboden, getränkt in Kadaver und totem Fisch. Vom Geruch angelockt, muss der Bär eine um den Verschlag gespannte Schnur überqueren, wo er ein bisschen von seinem Unterfell hinterlässt. Durch diese Haare lässt sich anschließend die DNA des Individuums und am Ende der Auswertung die Zahl der Bären im Gebiet feststellen. Heute sind die Zoologen in der Gegend in der Val d’Algone unterwegs, einer Bärenhochburg, wie Mustoni sagt.
Andrea Mustoni hat zwischen 1996 und 2004 das Bärenansiedlungsprojekt Life Ursus im Adamello-Brenta mitbetreut, das wohl größte faunistische Projekt auf europäischem Boden. Bereits hundert Jahre zuvor, 1919, erzählt er, habe man über die Notwendigkeit gesprochen, den Bären hier zu schützen. 1988 ist der Naturpark Adamello-Brenta schließlich mit diesem Ziel entstanden und hatte bald den Bären im Logo. Mustoni und sein Team haben in den 90er-Jahren zehn Bären in Slowenien eingefangen und im Trentino ausgewildert. Mittlerweile ist Life Ursus abgeschlossen, die Population mit mehr als hundert Exemplaren stabil, und die autonome Provinz hat das Management übernommen. Andrea Mustoni sagt : Aus wissenschaftlicher Perspektive war der Wiederansiedelungsversuch erfolgreich, aber allen war bewusst, dass Bären auch Probleme mit sich bringen würden. Man müsse eben darüber reden.
Die meisten Bären im Naturpark verhalten sich unauffällig. Auch für weidende Schafe und Kühe auf der Alm interessieren sie sich offenbar wenig, erzählt Mustoni. Überhaupt, sagt er unter seiner Maske im holpernden Jeep, verhält es sich bei den Bären ein wenig wie bei den Menschen : Viele Weibchen fressen kaum Fleisch, ernähren sich stattdessen von Wurzeln und Beeren und Insekten. Die mit dem Fleischhunger sind vor allem die jungen männlichen Tiere. Bären unterscheiden sich in ihrem individuellen Charakter erheblich voneinander. Manche sind scheu, andere neugierig. Und einige der Bären lernen, dass Weidevieh oder Müll eine einfache Futterquelle darstellen. Dann werden sie problematisch.
M49 ist als problematisches Exemplar im Naturpark in guter Gesellschaft. Zu seinen Stammesvorfahren zählt die Slowenin Jurka, die sich mehrmals Siedlungen genähert hatte und seitdem im Bärenpark Worbis im Schwarzwald lebt. Ihr Sohn Bruno erlangte in Bayern traurige Prominenz, als er nach Rissen von der bayerischen Regierung zum Problembär ernannt und von einem anonymen Jäger erlegt wurde. Ein Begriff ist den Menschen im Trentino außerdem der Fall von Daniza. Sie wurde nach einem Zusammenstoß mit einem Pilzesammler von der Provinz eingefangen und narkotisiert und erwachte nicht mehr.
Andere Bären wurden im Ausland erlegt oder verschwanden spurlos. Mit den auffälligen Exemplaren, den damit einhergehenden Schäden an Nutztieren und Almen und den sehr seltenen Begegnungen mit Menschen haben die Tiere wohl schlechte Publicity gemacht. Andrea Mustoni glaubt außerdem, dass sich in den Köpfen der Menschen Angst festgesetzt hat, ein Faktor, der bei der Akzeptanz eine entscheidende Rolle spielt. Umfragen zufolge waren zu Beginn von Life Ursus etwa 70 Prozent der Trentiner Bevölkerung mit dem Bären einverstanden, mittlerweile sind es wohl nur noch etwa 30 Prozent.
Seit einigen Jahren gibt es in Norditalien einen genauen Maßnahmenkatalog, der den Umgang mit dem Bären regeln soll. Die Provinz Trentino hat daran mitgearbeitet, das italienische Umweltministerium und auch der Naturpark Adamello-Brenta. Dort ist auch vermerkt, dass der Bär auf italienischer und europäischer Ebene streng geschützt ist, etwa durch die europäische Fauna-Flora-Habitatrichtlinie, die eine Tötung der Tiere ausdrücklich verbietet. Wird ein Bär auffällig, muss eine Reihe von Maßnahmen gestartet werden, die genauestens im Aktionsplan festgehalten sind : Er muss etwa mit Funkhalsband versehen oder mit Gummigeschoßen vergrämt werden. Hirten, Hunde oder Elektrozäune sollen das Almvieh schützen, bärensichere Tonnen den Müll.
Erst wenn alle Versuche scheitern und der Bär zur Gefahr für die Menschen wird, darf zum Blei gegriffen werden. Für den bisher noch nie eingetretenen Fall, dass der Bär sich in einer Siedlung befindet und Menschen bedroht, dürfen sogar lokale Behörden den sofortigen Abschuss anordnen. In allen anderen Fällen muss die Provinz vor jedem Schritt Rücksprache mit dem italienischen Umweltministerium halten, das als höchste Instanz über das Bärenmanagement wacht.
Das italienische Umweltministerium hat auch M49 das Leben gerettet, und Sergio Costa avancierte zum Patron der Bären. Als M49 das erste Mal im Juli 2019 in der Val Rendena eingefangen und ins Wildtierpflegezentrum Casteller bei Trient gebracht wurde, ergriff er ziemlich schnell die spektakuläre Flucht und überwand eine vier Meter hohe Mauer und mit 7.000 Volt gesicherte Elektrozäune. Diesmal erteilte der Landeshauptmann Schießbefehl, falls Menschen gefährdet werden. Umweltminister Costa schritt ein, M49 sollte schließlich lediglich wieder eingefangen werden. Rom und Trient stritten miteinander, und M49 bummelte währenddessen durch das Trentino und das angrenzende Südtirol, riss hie und da Schafe, brach in Almen ein und soll sich einer Unterkunft mit Hirten genähert haben. Im Jahr 2019 entkam er seinen Jägern und begab sich im November wohl zufrieden zur Winterruhe.
Im März 2020 erwachte er in einer Welt im Ausnahmezustand. Ausgezehrt vom langen Fasten, setzte M49 seinen Raubzug fort. Mittlerweile wurde er an seiner Methode erkannt, Türen zu Almhütten zu öffnen. Im April endete seine Reise vorübergehend wieder in der Val Rendena. Er landete erneut im Casteller und ergriff erneut die Flucht. Längst war er zum Medienstar geworden, Italien erfreute sich am widerspenstigen Bären, der willkommene Abwechslung zum Coronaalltag bot. Er wurde als Ausbrecherkönig gefeiert, und Sergio Costa nannte ihn fortan Papillon, in Anlehnung an den autofiktionalen Roman des Franzosen Henri Charrière, der darin über seine Fluchtversuche als Inhaftierter in Französisch-Guyana schreibt.
Für ihn als Zoologen gehe es um Populationen und nicht Individuen, betont Andrea Mustoni. Im Trentino hat ein Journalist unlängst einen Neologismus kreiert : ›orsessionato‹ als Bezeichnung für jene, die den Bären obsessiv wie einen Heiligen verehren. Wenn man einem Tier einen Namen gibt, sagt Andrea Mustoni, verliert es seine Wildheit, wird zum Haustier. Deshalb hat sich der Naturpark nach den anfänglichen zehn Tieren für fortlaufende Nummern mit der Geschlechtsbezeichnung entschieden. Papillon heißt hier deshalb pragmatisch : Männchen Nummer 49.
Marco Armanini parkt den Jeep neben einer breiten Forststraße. Die nützen die Bären gerne als Korridore, ganz wie die Menschen ziehen sie bequeme Wege den steilen Hängen vor. Der südliche Teil der Brentadolomiten ist wilder als die bekanntere Ecke um Madonna di Campiglio, viele Menschen trifft man hier nicht. Stattdessen viel Mischwald und Buchen, die Bären lieben das. Gut möglich, dass gerade welche in der Nähe sind. Andrea Mustoni untersucht die Bäume nahe der Genfalle nach Kratzspuren. Manchmal verstecken sie sich im Wald und beobachten die Menschen, sagt er, und um das nachzuahmen, legt er die Hände wie einen Feldstecher geformt um die Augen. Die Gefahr, jetzt von einem Bären angefallen zu werden, ist dennoch gering.
Reden Menschen miteinander oder rascheln geräuschvoll über den Waldboden, erschrecken sie die Bären nicht. Wer hingegen leise allein in der Abenddämmerung wandert, sollte lieber rechtzeitig auf sich aufmerksam machen. Andrea Mustoni macht es vor, klatscht in die Hände und schreit › ehi, orso ‹ in den Wald. Wichtig ist, für den Bären aus der Distanz hörbar zu sein.
Dass die Menschen wissen, wie sie sich in einem Bärengebiet zu verhalten haben, ist für ihn die Grundvoraussetzung für ein gelungenes Zusammenleben. Man weiß aus Studien, erzählt Mustoni, dass ein Mehr an Informationen weniger Aggressionen durch Bären nach sich zieht. Denn natürlich können Bären für den Menschen gefährlich werden, und es ist auch im Trentino einige Male passiert. Aber die Gefahr ist überschaubar und wird kleiner, wenn Wandernde aufgeklärt sind, Distanz wahren, nicht herumschleichen und ihren Müll wieder mitnehmen.
Die Menschen müssen verstehen, was die Bären in den Bergen machen und welche Rolle sie im Ökosystem spielen, sagt Andrea Mustoni mit Nachdruck : Dazu muss man sie aber auch studieren und von ihnen erzählen. Die Bevölkerung muss sich involviert fühlen, als Teil der Natur. Andrea Mustoni ist überzeugt, dass viele im Trentino trotz allem stolz sind, in einem Bärengebiet zu leben. Das sagt auch Marco Armanini, der am Jeep lehnt und in die Berge schaut : Dass sich die Art ändert, in die Natur zu gehen, wenn man weiß, dass es dort Bären gibt. Sie wird lebendiger und fordert mehr Respekt.
Mit der öffentlichen Kommunikation läuft es im Trentino aber offenbar unrund. Bereits 2002 wurde dazu ein eigener Plan entworfen, 2016 genehmigt und bis heute nur spärlich umgesetzt. Andrea Mustoni weiß das, er saß mit am Tisch und hätte im Naturpark einen Teil umsetzen und Bildung und Informationen vor Ort anbieten sollen. Die finanziellen Mittel dazu blieben bis heute aus. Auch von Seiten der Provinz heißt es dazu auf Nachfrage, dass sich das Informationsangebot durchaus steigern ließe, dass vor Corona immerhin die Internetseiten aufgerüstet worden seien und dass der Wille bestehe, in Zukunft nachzulegen.
Hinzu kommt, dass die Trentiner Lega mit Maurizio Fugatti an der Spitze einen eher bärenfeindlichen Kurs fährt. Dem Projekt Life Ursus stand die Partei seit jeher misstrauisch gegenüber, 2011 veranstaltete sie als Protest dagegen ein großes Bankett. Auf dem Speiseplan standen 50 Kilogramm Bärenfleisch, nach Aussagen von Maurizio Fugatti hatte man es legal in Slowenien erworben. Das Bankett wurde schließlich von Sicherheitsbehörden gestoppt, weil wichtige Dokumente für das Bärenfleisch fehlten. Seit Fugatti 2018 an der Macht ist, spricht er wiederholt von einer Bären-Überpopulation und von Bedrohung der öffentlichen Sicherheit. Erst im Juni dieses Jahres erließ Fugatti eine neue Verordnung, durch die die Provinz mehr Handlungsspielraum bei problematischen Bären gegenüber dem Staat erhält und schwierige Exemplare einfacher erlegen oder in Gehege bringen kann.
In der Provinzhauptstadt Trient, wo Maurizio Fugatti diese Entscheidungen trifft, sitzt Ornella Dorigatti, mit blondem, hochgestecktem Haar und glitzerndem Lidschatten auf den sonnenerwärmten Stufen des Brunnens am Domplatz. Sie widmet ihr Leben dem Wohl der Tiere, ist Vorsitzende des Tierschutzverbandes OIPA Trentino. Und Dorigatti ist wütend. Den Behörden der Provinz, allen voran Maurizio Fugatti, wirft sie absichtliche Untätigkeit vor. Man habe nie versucht, eine Kultur des Zusammenlebens zu schaffen, beute die Berge als Vergnügungspark, Skizirkus und Luxusresort aus, ohne sich um die Anwesenheit der wilden Fauna, der legitimen Bewohner der Natur zu scheren, sagt sie und tippt am Smartphone herum. In Aufklärung sei zu wenig investiert worden, das ist auch ihre Meinung. Und in den wenigsten Ortschaften im Naturparkgelände fänden sich bärensichere Mülltonnen.
Als M49 am siebten September 2020 zum dritten und letzten Mal in die Rohrfalle tappte und im Casteller landete, trat Ornella Dorigatti in den Hungerstreik, um für seine Freilassung zu demonstrieren, weil M49 niemals einem Menschen etwas angetan habe und im Casteller unnötig leide, wie sie betont. Sergio Costa schickte daraufhin eine Inspektion ins Tiergehege, um das Wohlbefinden der Tiere dort zu überprüfen. Das Gutachten der Spezialeinheit gab Dorigatti recht. In seinem Krankenblatt wurde M49s Zustand akribisch notiert : Zwei Tage nach der Ankunft hörte der Bär demnach auf zu fressen, hämmerte gegen die Wand und gab sich nervös. Die Erweiterungsarbeiten im Casteller und die Nähe zu einem anderen eingefangenen männlichen Bären machten ihm offenbar zu schaffen. Am elften September gab ihm der Tierarzt deshalb ein Beruhigungsmittel und Alprazolam gegen Angstzustände. Unter dem Einfluss der Psychopharmaka besserte sich M49s Zustand.
Seitdem hat der Medienrummel um Papillon etwas nachgelassen. Ornella Dorigatti und OIPA Trentino protestieren regelmäßig vor dem Landtag in Trient für die Freiheit des Bären. In Rom hat die Regierung den Winter nicht überlebt, und auch Umweltminister Sergio Costa musste seinen Posten räumen. Bei der Staatsanwaltschaft in Trient liegen mehrere Anzeigen wegen Tiermisshandlung im Casteller vor, aber die Mühlen des italienischen Justizsystems mahlen langsam.
Auch der Rechnungshof überprüft derzeit, ob die Haltung von M49 im Tiergehege, das mit öffentlichen Geldern finanziert wird, sinnvoll ist. Auf etwa 500.000 Euro im Jahr belaufen sich die Kosten für die derzeit im Casteller weilenden Bären. Ornella Dorigatti schrieb unzählige E-Mails, an Parlamentarier, den Papst, Kunstschaffende, an Staatspräsident Sergio Mattarella. Sie werde alles tun, um M49 zu befreien, sagt sie. Dann unterbricht sie das Gespräch, weil sie einen Anruf bekommt. Demnächst plant die OIPA Trentino ein Konzert in Trient für die Bären, erzählt Ornella Dorigatti, als sie ihr Telefonat beendet, in dem es offenbar um die Planung ging. Italienische Pop-Größen wie Vasco Rossi oder Laura Pausini werden wohl auftreten. Man müsse die Jugend miteinbeziehen in den Kampf, sagt sie.
Ob es richtig war, M49 einzufangen, darauf will Zoologe Andrea Mustoni nicht antworten. Er ist ein höflicher Mensch, spricht überlegt und mit ruhiger Gestik. Er ist aber überzeugt, dass ein in der Wildnis geborenes Tier in einem Gehege leidet. Auch aus diesem Grund steht der Naturpark entschieden hinter dem Abschuss problematischer Bären, eine Entscheidung, die ihm zufolge aber mit höchster Gewissenhaftigkeit getroffen werden muss. Die Brentadolomiten gehören nicht nur den Bären, sagt er, sie werden touristisch und landwirtschaftlich genutzt, und alle Beteiligten, ob Bär oder Mensch, müssten sich fürs Zusammenleben einschränken. Außerdem glaubt Mustoni, dass es besser ist, Problembären für ihre Population zu opfern : Die Menschen im Trentino müssten sich darauf verlassen können, dass sich jemand darum kümmert, wenn die Tiere Schwierigkeiten machen. Und wenn die Randalierer erlegt werden, kommt es zu weniger Negativschlagzeilen und das Bild des Bären kann langfristig vielleicht wieder aufgewertet werden.
Darin liegt nämlich die größte Hoffnung von Marco Armanini und Andrea Mustoni. Weil sich unter den damals zehn slowenischen eingeführten Bären nur zwei Männchen befanden, könnte die Population in den nächsten 50 Jahren an Inzucht zugrunde gehen. Technisch gesehen könnte man zwar ein externes Männchen und damit frisches Blut einführen. Aber der Protest der Bevölkerung wäre derzeit zu groß : Die Akzeptanz entscheidet letzten Endes über das Fortbestehen des Bären im Naturpark Adamello-Brenta.
Eine unscheinbare, von Rissen durchzogene Asphaltstraße führt am Rande von Trient an in den Hang geklebten Wohnblocks vorbei Richtung Wildtierpflegezentrum Casteller. Kein Straßenschild weist den Weg. Die Straße ist nach wenigen Metern wegen einer Baustelle großräumig gesperrt, und durch die Straßensperre gelingt kein Blick ins Gehege. Besuche sind nicht gestattet, und Anfragen bleiben unbeantwortet. Hier, irgendwo in den Mischwäldern vor den Toren der Stadt, schläft er vermutlich gerade, der famose Bär M49, oder wandert die Grenzen seines Seins ab. Im Winter dieses Jahres hat Filmdiva Brigitte Bardot die hier einsitzenden Bären nach Bulgarien eingeladen, wo sie zusammen mit den Vier Pfoten einen Park für ehemalige Tanzbären betreibt.
Auf Nachfrage heißt es aber, dass der Bärenpark wohl eher ungeeignet für in freier Wildbahn geborene Tiere ist. Die Provinz antwortet schriftlich, dass sie derzeit mit Wildtierparks in Deutschland über die Übernahme der zwei Bären im Casteller spricht. Fest steht jedenfalls : In die Wälder des Adamello-Brenta wird M49 wohl nie wieder zurückkehren. •
Das Projekt Life Ursus im Trentino
1967: Gründung Naturpark Adamello-Brenta mit dem Ziel, den Bären und sein Habitat zu schützen
1990er: Autochthone Restpopulation im Trentino: ca. 10 Bären
1996: Nach Jahren der Debatte Projektbeginn Life Ursus
1997: Die Autochthone Restpopulation im Trentino umfasst drei vermutlich alte und männliche Bären
1999-2002: Insgesamt zehn Tiere, acht Weibchen und zwei Männchen, werden in Slowenien eingefangen und im Adamello-Brenta freigelassen
2004: Projektende Life Ursus
2005: Populationsbestand Adamello-Brenta: ca. 15 Bären (exklusive Junge unter 1 Jahr)
2010: Populationsbestand: ca. 30 Bären
2013: Populationsbestand: ca. 40 Bären
2017: Populationsbestand: ca. 50 Bären
2019: Populationsbestand: ca. 60 Bären
2021: Populationsbestand: ca. 100 Bären