Nur noch wenige Zeitzeugen können aus eigener Erfahrung von der ns-Zeit berichten. Wie können wir die Erinnerungskultur trotzdem lebendig halten?
Abba Naor sitzt in einem roten Ledersessel und wartet. Seine Arme liegen ruhig auf den Lehnen, er blickt nach links und nach rechts, rückt seine Brille zurecht. Warum machen Sie bei dem Projekt mit, Herr Naor? ›Manche sind der Meinung, man kann nicht zulassen, dass die Überlebenden vom Holocaust verschwinden‹, sagt Naor. ›Und dass die Menschheit davon nicht mehr weiß. Wir sind ja nur kleine Teile, aber unser Wissen dürfen wir nicht mitnehmen, mit ins Grab. Und da jetzt Leute da sind, die bereit sind, sich damit zu beschäftigen, Chapeau.‹ Abba Naor hat diese Frage einmal beantwortet – in einem Studio 2018. Gestellt wurde sie ihm seitdem viele Male. Genauer gesagt: seinem virtuellen Abbild.
Naor ist Teil des Projektes ›Lernen mit digitalen Zeugnissen‹ (Lediz) von der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seinem 3d-Zeugnis – und jenen anderer Überlebender der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – kann man mithilfe von Künstlicher Intelligenz Fragen stellen. Rund tausend Fragen hat Naor dafür beantwortet. Mit Sprach- und Texterkennung wird eine Gesprächssituation simuliert.
Fragt man etwa: ›Was ist Ihre Geschichte?‹, beginnt Abba Naor von der schlimmsten Zeit seines Lebens zu erzählen: Das Ghetto in Litauen, die Erschießung seines Bruders, das Leid im Vernichtungslager Stutthof, Zwangsarbeit, Gewalt, Hunger, Überleben Tag für Tag, der Todesmarsch von Dachau, der Tag der Befreiung. Durch die scheinbare Interaktion und Naors Positionierung – er sitzt zentral im Bild und blickt direkt in die Kamera – wirkt es, als würde er die Zusehenden direkt ansprechen. Abba Naor erzählt ruhig, beinahe sachlich. Das macht das Gesagte nicht weniger erschütternd.
Wörter: 1912
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