Zombiepolitik
Angesichts der vielen Nachrufe, die in den vergangenen Jahren auf die Volksparteien unseres Landes geschrieben wurden, muss man dieser Tage konstatieren: Totgesagte leben nicht nur länger – sondern vermögen immer noch zu überraschen.
Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass die ÖVP sechs Jahre nach ihrer Unterwerfung vor Sebastian Kurz und eineinhalb nach dessen Sturz noch Selbstachtung übrig hat, die man dem Machterhalt opfern kann? Doch siehe da, kommt die ÖVP Niederösterreich, tauscht Werbeverbot für lebensrettende Impfung gegen Duldung durch Kellernazis und beweist, dass es auch lange nach dem Abschied von christsozialen und europäischen Werten noch Raum zum Einknicken vor der FPÖ gibt.
Auch Johanna Mikl-Leitners Schützling im Bundeskanzleramt stellt derzeit gerne wissenschaftlichen Konsens in Frage, freilich nicht nur in medizinischen, sondern auch in klimatechnischen Fragen. Denn was wäre besser geeignet, um den grünen Koalitionspartner in die Schranken zu weisen, als das Relativieren von ›Untergangsapokalypsen‹ zur Aufgabe politisch Verantwortlicher zu küren? Höchstens vielleicht noch ein einmaliger Wohnkostenzuschuss nach wochenlangen Verhandlungen über eine Mietpreisbremse, den nicht nur die Arbeiterkammer, sondern auch der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts als faulen, weil inflationstreibenden Kompromiss bezeichnen.
Und was tut die SPÖ mit dieser Steilvorlage? Stürzt sich in eine Mitgliederbefragung über den Parteivorsitz, deren Regeln sie erst nach dem Startschuss zu diskutieren beginnt. Ob dieser strategisch eher eigenwillige Selbstfindungsprozess die Partei nur temporär oder auf Dauer aus dem Spiel nehmen wird, ist noch nicht absehbar – zu Redaktionsschluss kreiste die Debatte jedenfalls um die Statuten der Partei, eine konzentrierte Auseinandersetzung über die inhaltlichen Positionen der Kandidaten war (noch?) nicht in Sicht.
Im Vergleich zum Kniefall der Mikl-VP vor der Kickl-FP mögen die roten Chaostage samt Giraffe und anderen Spaßkandidaten zwar einen höheren Unterhaltungswert haben, aber auch sie lenken ab von nicht ganz trivialen Fragen, für deren Beantwortung der Ideenwettbewerb zweier Volksparteien im besten Sinne durchaus nützlich wäre: Wie lindern wir die Folgen des Krieges in Europa? Wie reduzieren wir unsere Abhängigkeiten von Staaten, die unsere politischen Werte nicht teilen? Und wie reagieren wir auf die exponentielle Geschwindigkeit, mit der Große Sprachmodelle und andere Formen Künstlicher Intelligenz lernen?
Wie aber kommen wir zu politischem Personal, das diesen Fragen gewachsen ist? Der Medienmanager und Neos-Mitgründer Veit Dengler hat vor Kurzem einen Vorschlag gemacht, nämlich: die drastische Reduzierung der üppigen Parteienförderung und eine verpflichtende Umreihung der Kandidatenlisten für den Nationalrat nach Vorzugsstimmen. Das würde das Parlament aufwerten, höher qualifizierte Nationalräte wahrscheinlicher machen und die Macht aufteilen, schrieb Dengler Ende März im Standard. Wie man die Parteien in absehbarer Zeit dazu bringt, sich selbst das Geld zu kürzen, verriet er allerdings nicht.
Der Mangel an Zeit ist vielleicht einer der Gründe, warum ausgerechnet die Klimaaktivisten der Letzten Generation die Hoffnung nicht aufgegeben haben, dass die Politik doch noch ins Handeln kommt, wenn sie nur simpel genug formulierte Forderungen aufstellen und oft genug den Frühverkehr stören. Was sie vorhaben, wenn sich diese Hoffnung nicht erfüllt, lesen Sie in der Titelgeschichte dieses Heftes. •
Viel Freude damit wünscht Ihnen
Elisalex Henckel
elisalex.henckel@datum.at
Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:
Bei Austria-Kiosk kaufen