Unter Sternen

In Tiflis gehen jeden Abend tausende Menschen auf die Straße. Sie kämpfen gegen ein NGO-Gesetz nach russischem Vorbild und für die Werte, die die EU ausmachen. DATUM hat einige von ihnen begleitet.

DATUM Ausgabe Juni 2024

Diese Geschichte gibt es hier zum Anhören.

Plötzlich ist sie eingekesselt von Polizisten in schwerer Montur, behelmt, eine ganze Reihe baut sich bedrohlich vor ihr auf, es gibt kein Vor und kein Zurück mehr. Da holt Ana Minadze ihren Lippenstift, nutzt den Schild des Polizisten direkt vor ihr als Spiegel und zieht sich die Lippen nach, als sei es das natürlichste der Welt. Ein Freund fotografiert die Szene, Ana ahnt noch nicht, dass das Foto sie berühmt machen wird. Sie habe keine Angst gehabt, zu keiner Zeit, wird Ana später sagen, denn jetzt sei einfach nicht die Zeit, Angst zu haben. Das Tränengas, das durch die Luft wabert, die Freunde, die festgenommen werden, das alles schiebt sie beiseite.

Ana ist 20, Politik-Studentin, und in diesen Wochen steht die zierliche Frau mit dunkelbraunen Haaren und sorgsam gezogenem Kajalstrich fast jeden Abend vor dem Parlament, dem wuchtigen Klassizismusgebäude mitten in Tiflis. Drinnen, so sieht sie das, zerstören die Abgeordneten der Regierungspartei ›Georgischer Traum‹ gerade ihre Zukunft und die ihres Landes. ›Ich bin hier für meine zukünftigen Kinder‹, sagt sie, ganz ernst, kämpferisch, sie klingt, als würde sie auf Jahrzehnte im Voraus planen. Dabei hangelt sie sich gerade von einem Protesttag zum nächsten. Ihre Kinder aber, das weiß sie, sollen später unbedingt in einem freien Georgien aufwachsen, das Teil der EU ist. Nur dort, glaubt sie, gibt es Sicherheit, Freiheit und Wohlstand.

Die Studentin gehört zu den Tausenden, manchmal Hunderttausenden, die gegen ein NGO-Gesetz der Regierung demonstrieren, das den Beitritt zur EU erheblich erschweren dürfte. Jeden Abend kommt es in Tiflis zu Protesten, längst hat die Protestwelle auch andere Städte wie Batumi am Schwarzen Meer und Telawi in Georgiens Weinregion erreicht. Und während drinnen im Parlament das Gesetz von einer Lesung zur nächsten gepeitscht und dann beschlossen wird, bereiten sie draußen die nächsten Demonstrationen vor. ›Wir werden nicht aufgeben‹, sagt Ana, ›wir wollen es den Abgeordneten unbequem machen‹. Das Parlamentsgebäude ist abgeriegelt, auf den Barrikaden steht ›Special State Protection Service‹ – unklar bleibt, wer hier wen beschützen soll. Die Barrikaden die Parlamentarier? Die Demonstranten die Freiheit?

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