2007: Nachtvogel singt

Mit zehn musste Ruth Weiss aus Wien vor den Nazis nach Amerika fliehen. Dort avancierte sie in den 50ern zur Poesie-Ikone der Beatniks. Spontan und ehrlich erzählen ihre Texte von einem wahrhaft unruhigen Leben.

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Fotografie:
Jacqueline Godany
DATUM Ausgabe Juli/August 2024

Nein, Ruth Weiss ist keine Wienerin, wie Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny jüngst anmerkte. Anlässlich der Verleihung der Ehrenmedaille der Hauptstadt an die 78-jährige Dichterin stellt sich die Frage, für welche der beiden Seiten die späte Würdigung die größere Zier darstellt. Nach Jahrzehnten des Vergessens lässt es sich publicityträchtig mit einem Leben schmücken, das nur durch Glück der frühen Vernichtung entkommen war. Dass Wien sich überhaupt und noch dazu von Amts wegen an Weiss erinnert, verdankt sich einer Mischung aus Zufall, individuellem Engagement und der nie versiegenden Neugier einer Frau, die sich durch alle Ungewissheiten hindurch eine einzigartige Leichtigkeit bewahrt hat.

Die Dame mit den kurzen roten Haaren und der einprägsamen tiefen Stimme ist ›ein Nachtvogel. Das war ich schon als Kind‹. Bis zum Morgengrauen habe sie nach der Premiere ihres Stückes ›No dancing aloud‹ im Künstlerhaus-Theater mit den Mitwirkenden und Freunden geredet, geraucht und getrunken, erzählt sie. Deshalb komme ihr auch die persönliche, bohèmehafte Atmosphäre im Künstlerhotel Fürstenhof gegenüber dem Westbahnhof so entgegen, wo es Frühstück bis Mittag gebe, was in Wien eine Seltenheit sei. Bald hat sie ihre Müdigkeit abgestreift und springt in ihren Erzählungen nicht nur zwischen Deutsch und Englisch, sondern auch zwischen den Kontinenten und Jahrzehnten hin und her.

Hinter der Geschichte

Ruth Weiss ist ein Teil der Wiener Emigrations- und Vertreibungsgeschichte. Von 1938 bis 1998 war sie nicht in der Stadt und wurde dann hierzulande dennoch noch zu einer künstlerischen Größe. Als ich das Interview gemacht habe, hatte sie gerade das Ehrenzeichen der Stadt Wien bekommen. Ich fuhr mit Jacqueline Godany zum Hotel Fürstenhof gegenüber des Westbahnhofs, das es heute nicht mehr gibt. Es war ein klassisches Künstlerhotel. Weiss empfing uns dort gegen drei oder vier Uhr nachmittags, und man sah, sie war gerade erst aufgestanden. Ihr Frühstück bestand aus einem Bier und Zigaretten. Weiss war dann noch bis 2012 regelmäßig in Wien und hat die Stadt sehr genossen, bis sie altersbedingt nicht mehr fliegen wollte. Alles in allem war ihre späte Rückkehr sicher eine glückliche. Thomas Antonic dokumentierte sie später noch filmisch, konnte sie kurz vor ihrem Tod 2020 noch interviewen. Er will jetzt eine neue Edition ihrer gesammelten Texte gestalten, um ihr literarisches Erbe zu bewahren.

Für DATUM habe ich bis 2014 regelmäßig geschrieben. Meine berufliche Laufbahn veränderte sich aber allmählich. Seit 2010 arbeitete ich in Archiven. Zunächst in der Nationalbibliothek im Literaturarchiv und dann in Niederösterreich. Dort leite ich seit 2022 das Archiv der Zeitgenossen.

Helmut Neundlinger

Ruth Weiss ist keine Berlinerin. Auch wenn sie dort 1928 zur Welt kommt und die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbringt. ›Mein Vater war Wiener, arbeitete aber von 1923 an als Journalist für eine Nachrichtenagentur namens Wolfs Büro in Berlin. Meine Mutter, die einer wohlhabenden jüdischen Familie aus der Nähe von Zagreb entstammt, hat er noch in Wien kennengelernt.‹ Ruth ist das einzige Kind der Familie, die in der Nähe des heutigen Flughafens Tegel wohnt; eine damals noch sehr ländliche Gegend. ›Unserem Haus gegenüber lag ein Bauernhof, von dem wir unsere Milch holten.‹ 1933 muss sie gemeinsam mit den Eltern das erste Mal vor den Nazis fliehen: nach Wien, wo die Mutter ihres Vaters im neunten Bezirk eine kleine Pension führt.

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