Nadine liegt am unbezogenen Bett, das nicht mehr so weiße Leintuch zusammengefaltet neben ihr, zwischen sich und der Matratze eine türkise Wolldecke. Schwarze Netzstrümpfe umhüllen die langen Beine. Ihre Brüste heben sich von ihrem schlanken Körper ab. Langes, rotbraunes Haar fällt verspielt auf ihr Dekolleté. Gelnägel zieren ihre kleinen, verbogenen Finger. Ihre Augenfarbe ist im Rotlicht nicht erkennbar, ihr Blick ist leer.
Im herbstlich kühlen Hinterhof eines Wohnhauses im zehnten Wiener Gemeindebezirk befinden sich, neben Mülltonnen, Fahrrädern und einer provisorischen Wäscheleine, auch die mit nassen Blättern bedeckten Steinstufen zum Hintereingang des ›Studio Lalolita‹, das Dominik leitet. Der Bordellpächter will nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen, öffnet aber die Tür in den Empfangsraum mit drei roten Ledersofas, einem Glastisch und einem Fernseher. Auf die Empfehlung eines Kollegen hin hat er sich eine Sexpuppe angeschafft. 2000 Euro hat Nadine gekostet, die Lieferung aus der Schweiz musste Dominik extra zahlen. ›Wenn’s gut geht, hat sie zwei bis drei Kunden am Tag. Wenn’s schlecht läuft, vielleicht vier bis fünf in der Woche.‹
Die Puppe ist mit ihrem Angebot von 60 Euro pro Stunde ein Schnäppchen, verglichen mit den 100 Euro für eine echte Frau. Sie hat einen Stammkunden, der sie wöchentlich besucht und kein Interesse an den Prostituierten zeigt. Viele wollen sich die Puppe nur ansehen und gehen nach 20 Minuten wieder. Die ›Mädels‹, wie Dominik seine Prostituierten nennt, schlafen teilweise auch im Studio, und Nadine muss die Nacht bei einer von ihnen im Zimmer verbringen. Nadine mag für manche Männer eine Liebhaberin sein, die ›Mädels‹ finden sie eher gruselig. Eins paar von ihnen wären aber zu einer Menage à trois mit der Puppe und einem Kunden bereit. Der Wunsch wurde noch von keinem geäußert. Die Wünsche der Freier bezogen sich bis dato auf andere Dinge. Einer der Kunden fragte etwa, ob er Nadine schlagen dürfe. Dominik bejahte, ersuchte ihn aber, es im Rahmen zu halten. ›Weißt eh, damit nicht der Schädel herumfliegt.‹ Ein anderer hat Nadine Kratzspuren zugefügt. Ohne vorher derartige Wünsche kundzutun.
Sexpuppen sind heute kein Nischenphänomen mehr. Man findet sie immer häufiger in Bordellen, und auch die Zahl ihrer Privateigentümer steigt. Wie soll eine Gesellschaft, die sich selbst als liberal betrachtet, damit umgehen, dass man sich das Abbild jedes beliebigen Menschen als Sexpuppe bestellen und nach Hause liefern lassen kann? Und was bedeutet es, wenn diese Abbilder bald auch noch ›lebendig‹ werden, sprechen und sich bewegen – zugleich aber buchstäblich alles widerstandslos mit sich machen lassen?
Dominik lehnt sich gegen die Wand und schlägt ein Bein über das andere. Die Wände des Etablissements sind mit einer Lederprint-Tapete ausgekleidet, auch die in Nadines Zimmer. Dominik schaut auf sein Smartphone. Vermutlich fällt er gerade noch ins Millenial-Alter. Mit dem Handy deutet er auf die Kiste in der Ecke: ›Da haben wir so Reinigungssets, Pflegecremen und Accessoires.‹ Nach jedem Kunden erfolgt eine Intimspülung bei Nadine, gebadet wird sie auch ab und zu. ›Damit sie halt geschmeidig bleibt!‹ Ein Grinsen huscht über Dominiks Lippen. Er trägt Jogginghose und T-Shirt. Seine hellbraunen Haare sind mit der Länge seines Dreitagebarts abgestimmt. Oder glücklicher Zufall.
Dominik denkt darüber nach, eine zweite Sexpuppe zu kaufen. Dieses Mal will er sie nicht aus der Schweiz schicken lassen, sondern vielleicht direkt in Wien bei ›Real Companion‹ erwerben. Der Sexpuppenverkäufer hat vor einem Jahr im dritten Stock eines Altbaus in Hietzing einen Schauraum für sein Unternehmen eingerichtet. Kunden werden im Empfangsbereich mit einem Getränk begrüßt und können im Raum daneben drei Puppenmodelle begutachten. Sie gleichen einander sehr: volle Lippen, langes Haar, überdimensionaler Busen, lange Beine. Auf einer braunen Sitzgarnitur aus Leder werden sie in Szene gesetzt, als säßen sie bei einem Kaffeekränzchen. Potenzielle Käufer dürfen die Puppen anfassen und bekommen so eine Vorstellung von ihrer zukünftigen Liebhaberin. Die Dolls von ›Real Companion‹ werden alle maßgefertigt. Kunden können ihre Puppen selbst designen, bis auf das kleinste Detail. Wespentaille oder Babybauch, 150 verschiedene Köpfe, Fingernägel, Tattoos, etc. Es gibt sogar zwei Vaginavarianten: den billigen Schlauch zum Rausnehmen sowie die Labia, die einem echten Menschen nachempfunden wurde und fest in den Körper vergossen ist. ›Von der außergewöhnlichsten schwarzen Hautfarbe bis hin zu Elfenohren ist alles möglich. Es gibt auch Leute, die Gnome wollen‹, erklärt Josef Le, der mit ›Real Companion‹ seit 2017 Sexpuppen in Österreich vertreibt. Er lacht herzhaft. Durch die jetzt erkennbaren Lachfalten sieht er aus wie Anfang vierzig. Seine schwarzen Haare werden von einem Mittelscheitel geteilt. Sie reichen bis unter seine Augen und fallen ihm bei kleinen Bewegungen ins Gesicht. ›Wenn sich jemand in eine Frau verliebt hat und uns ein Foto bringt, können wir auch eine Puppe mit ihrem Aussehen kreieren. Es gibt kein ‚Nein’ in der Branche,› sagt Le. Nur der Kauf von Kindersexpuppen sei für Privatkunden bei Companion nicht möglich. Dennoch werden Dolls mit einer Grösse von 148 cm mit jugendlichem Gesicht an Laufhäuser und Bars verkauft, damit diese alle Fetische der Sexbranche abdecken können. ›Das ist noch vertretbar, kleiner geht es nicht,‹ meint Le. Eine ›Teenie-Doll‹ hat er etwa dem Laufhaus Vienna verkauft, das ein eigenes Puppenhaus betreibt: ›Ich finde, wir haben schon einen großen Nutzen gebracht, wenn Pädophile mit Puppen schlafen können, anstatt mit Kindern.›
Puppen mit einer Körpergröße von 148 cm? Es gibt kein Nein in der Branche.
Kathleen Richardson glaubt nicht an den Nutzen von Sexpuppen in Form von Therapie. Nicht in Bezug auf Pädophilie und auch nicht in anderen Bereichen. Sie ist Professorin für Ethik und Kultur von Robotern und Künstlicher Intelligenz an der De Montfort Universität in Leicester und hat die ›Kampagne gegen Sexroboter‹ gestartet. ›Wenn eine Person an einer sozialen Angststörung leidet, wird sie mit einer Puppe nicht lernen, damit umzugehen. Therapie soll ein Problem in einer Person ansprechen. Das können Puppen nicht›, sagt Richardson. Die Ethikerin will sie alle verboten sehen: ›In Form von Frauen und Mädchen. Ich bin auch nicht für männliche Sexpuppen, aber es ist nicht dasselbe, ob wir über Männer oder Frauen sprechen‹. Männer hätten sich eine Industrie kreiert, die ihnen Zugang zu weiblichen Körpern ermögliche.
Die technischen Möglichkeiten sind den Bemühungen, sie gesetzlich einzuschränken, allerdings weit voraus. Und dabei erweist sich die Sex-Industrie nicht zum ersten Mal als Innovationsmotor: Die erste VHS-Kassette war ein Porno, erst ein Jahr später erschien ein Hollywood-Film in diesem Format. Auch Online-Streaming und Videochats entsprangen der Pornobranche, bevor sie jenseits von sexueller Nutzung massentauglich wurden. Zurzeit arbeitet die Industrie an Virtual Reality-Pornos und immer realer erscheinenden Sexpuppen beziehungsweise Sexrobotern, ihren ›intelligenten› Pendants. Auch das, so meinen Apologeten des Fortschritts, könnte nur der erste Schritt zu einer vielfältigeren Nutzung menschenähnlicher Roboter sein.
Die Pornoindustrie wäre das Nächste, das Professor Richardson in Angriff nehmen würde, sollte sie ihr Ziel erreichen und Sexpuppen wären verboten. ›Ich bin Abolitionistin. Ich will Praktiken der Entmenschlichung abschaffen. Frauen werden als Formen von sexuellem Besitz gesehen, also will ich alle Industrien beseitigen, in denen das passiert. Das ist die Grundlage für unsere Freiheit.‹
Spätestens an diesem Punkt wird es kompliziert. Mehr Freiheit durch rigorose Verbote im Namen des Schutzes von Frauen? Wenn Kathleen Richardson in Fahrt kommt, dann kann es passieren, dass sie eher puritanisch als feministisch klingt. Ging es bei der Freiheit, die Feminismus meint, aber nicht auch einmal um sexuelle Freiheit, um das Sprengen rigider, konservativer Moralvorstellungen? Sind wir in den liberalen Gesellschaften nicht gerade erst so weit gekommen, uns von Staat, Kirche und anderen Autoritäten nicht mehr vorschreiben zu lassen, wann, wie und mit wem wir Lust empfinden?
Als Beate Uhse 1962 in Flensburg den ersten Sexshop der Welt gründete, war es eine Nachfolgeorganisation des ›Kölner Männervereins zur Bekämpfung öffentlicher Unsittlichkeit‹, der sie als Erstes anzeigte. Damals waren die Fronten noch klar gezogen: hier die feministische Unternehmerin, die neben Aufklärungsbroschüren auch Sexspielzeug vertreibt, um Frauen eine erfülltere Sexualität und mehr Unabhängigkeit zu ermöglichen; dort die konservativen Männerbünde, die den Untergang des Abendlandes und das Ende der bürgerlichen Ehe herandräuen sehen, wenn der männliche Phallus durch einen Kunststoffdildo ersetzbar wird.
Den Vergleich zwischen Dildos und Sexpuppen weist Professor Richardson allerdings entschieden zurück, der Unterschied liege in der Wahrnehmungsverzerrung: ›Ein Vibrator ist ein Stück Gummi mit einem Motor drin. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass man mit einer elektrischen Zahnbürste mehr oder weniger das gleiche Gefühl erzeugen kann‹, sagt Richardson. Puppen seien hingegen anthropomorph, von menschlicher Gestalt. Nutzer könnten den Bezug zur Realität verlieren und ein ähnliches Verhalten von Frauen erwarten, meint auch Christina Raviola, klinische Psychologin und Verhaltenstherapeutin: ›Diese Puppen können sehr echt wirken. Aber sie sind teilnahmslos, sie lassen alles mit sich geschehen, sie sehen teilweise mädchenhaft oder nuttig aus, sie sind austauschbar, man kann sie in die Ecke werfen und beschimpfen.‹
Auch Robodolls sind aus Sicht der Kritikerinnen in dieser Hinsicht absolut kein Fortschritt. Eine Robodoll ist ein Sexroboter, das heißt, die Puppe hat ein Heiz- und/ oder Soundsystem sowie, bei erheblichem Aufpreis, integrierte Gesichtsmimik. Auch solche Produkte bietet Josef Le von ›Real Companion‹ in Hietzing an. ›Wir arbeiten in weiterer Zukunft an einer Technik, wo die Puppe zum Beispiel die Vorlieben des Benutzers lernt.‹ Le streicht das Haar der Roboterpuppe über ihre Schulter. Hinter ihrem linken Ohr wird ein Einschaltknopf sichtbar. Er betätigt ihn. Die Puppe gibt auf Chinesisch zu verstehen, dass sie betriebsbereit ist. ›Der Körper würde jetzt circa eine halbe Stunde benötigen, damit er 36,8° hat. So hat der Konsument nicht das Gefühl, mit einem leblosen Ding zu schlafen.› Le massiert die Brüste der Puppe. Sie gibt metallisch klingende Töne von sich, die im weitesten Sinne an ein Stöhnen erinnern. ›Da sind Drucksensoren drinnen, die dafür sorgen, dass die Puppe das empfinden kann.‹
Le spricht bei dieser Puppe von Künstlicher Intelligenz. Der Begriff scheint in diesem Fall allerdings weit hergeholt. Sogar das Wort Roboter wirkt im Angesicht der Robodolls irgendwie euphemistisch. Josefs Modelle können sich, abgesehen von der Gesichtsmimik bei den teureren Versionen, nicht bewegen. Schon gar nicht selbstständig. Durch einen Auslöseimpuls, wie das Streicheln der Brust, wird ein mechanischer Prozess vollzogen: Stöhnen. Die Puppen sind damit nicht intelligenter oder roboterhafter als ein Getränkeautomat. Dennoch verkauft ›Real Companion‹ in der Regel immerhin eine Robodoll im Monat. Ab 4500 Euro ist so eine Puppe zu ergattern. Nach oben hin sind kaum Grenzen gesetzt, jedes Extra steigert den Preis. Eine Puppe ohne Elektronik kostet dagegen nur ungefähr 2000 Euro. Und im besten Fall handelt es sich dabei sogar um eine einmalige Investition. ›Real Dolls ohne Elektronik können bei der richtigen Handhabung ein Leben lang halten‹, verspricht die Firma.
Richtige Handhabung heißt in diesem Fall Reinigung, aber auch Zärtlichkeit. ›Bei den Laufhäusern kommt es öfters vor, dass sich Kunden an der Puppe austoben‹, erzählt Le. Der Reparaturservice von ›Real Companion‹ hatte etwa mit Biss- und Fesselspuren sowie Spuren von Peitschenschlägen zu tun. Es gab Fälle von Erdolchungen und Knochenbrüchen am Metallskelett. ›Poweruser‹, wie Le sie nennt, verringern die Lebensdauer der Puppe damit nachhaltig. Von Privatkunden gab es hingegen bisher keine Reklamationen. Diese Nutzer nennt Le ›Liebhaber‹. Sie sind es auch, die bereit sind, mehr in ihre Puppe zu investieren. ›Je nachdem, wie groß das Börserl ist, kann die Puppe eben mehr oder weniger. Manche sehen es als Partnerersatz, andere würden es eher als Luxussextoy bezeichnen.‹ Es ist wohl genau der Unterschied in der Bedeutung dieser beiden Begriffe, der die Diskussion des Phänomens Sexpuppe so schwierig macht.
Tausend Kilometer nördlich vom ›Real Companion‹ grinst Stephan in die Kamera. Mehrere Sexpuppen sitzen hinter ihm auf einem weißen Sofa. Dass Babsi die Erste war, hat Stephan ihr bis heute nicht vergessen. Bei ihm im Bett schlafen dürfen Alina, Animée und Larissa trotzdem, wenn auch immer nur eine auf einmal. Zurzeit kuschelt er am liebsten mit Larissa. Aber Babsi hat doch einen besonderen Status bei ihm. Stephan ist aus Kiel, 39 Jahre alt, in der IT-Branche tätig, Puppenbesitzer. Er trägt eine dunkelblaue Vliesjacke, den Reißverschluss bis oben zugezogen.
Stephan erklärt gerne. Wenn er seine Sätze nicht mit ›So‹ beendet, setzt er ein fragendes ›Ne?‹ hinten nach, ohne eine Reaktion zu erwarten. Bei rhetorischen Fragen nötigt er sein Gegenüber zu einer Antwort, um ihn zu bestätigen.
›Sprichst du mit den Puppen?‹
›Du hast als Kind Stofftiere gehabt, oder?‹
›Ja.‹
›Mit denen hast du früher auch gesprochen, hm?‹
›Ja.‹
›Ja, mach ich jetzt auch, nur dass die halt etwas größer sind, ne?‹
Er lacht stolz. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen verschwindet auch jetzt nicht. Auf seiner Stupsnase sitzt eine schmale Brille. Seine dunkelblonden, kurzen Haare sind leicht gewellt. ›Die Puppen geben mir ein Stück weit Nähe und Gesellschaft. So. Von daher, ne, mach ich jetzt erst mal Pause von den Frauen. Ich bin jetzt nicht drauf angewiesen, dass jemand kommt und irgendeine Leere bei mir füllen muss.‹
Rechts von Stephan sitzt Pamela auf einem Sessel. Er sieht sie an, während er über sie spricht. Sie ist ein ›Teddy Babe‹, das heißt, sie ist aus Stoff. ›Ich kam auf den Namen, weil Pam – Plüsch. Wenn du die neu kaufst, kostet die 699 Euro, und das ist für ein Stofftier natürlich ne Menge Holz. Ich wär nicht auf die Idee gekommen, die selber zu kaufen, aber sie ist irgendwie so ein richtig cooles Kuscheltier.‹ Stephan hat nur drei seiner Puppen gekauft. Er hat sie sehr viel günstiger bekommen, erzählt er, weil zwei beschädigt waren, eine gebraucht. Wieviel er gezahlt hat, möchte er nicht sagen: ›Einen gewissen Betrag.‹ Die drei anderen Puppen hat er durch seine Initiative geschenkt bekommen, den sogenannten ›Gnadenhof‹. Stephan rief online dazu auf, ihm Puppen zu schicken, die nicht mehr gebraucht werden, deshalb hat er jetzt sechs Sexpuppen. Diesen Zungenbrecher muss Stephan aber nicht über die Lippen bringen, er verwendet seine Puppen laut eigener Aussage nämlich nicht für Sex.
Erdolchungen und Knochenbrüche am Metallskelett: ›Poweruser‹, nennt Le diese Kunden.
Nicht weniger bedenklich, findet Kathleen Richardson, Stephan sei trotzdem Teil des Problems: ›Vielleicht steckt er seinen Penis nicht hinein, aber er lebt trotzdem eine Fantasie aus. Er hat seine Puppen auf der Grundlage der Entmenschlichung von Frauen gekauft. Und wenn er ein Foto von sich und der Puppe ins Internet lädt, werden sich Männer das ansehen.‹ Und das tut er. Stephan ist in einigen Internetforen unter dem Alias ›icewind‹ bekannt. Seine Fotos und Fotostorys postet er aber auch gerne auf WordPress und Facebook. Stephans Fotostorys lassen ein Frauenbild erahnen, das Richardson und andere Kritikerinnen als Beleg für ihre Thesen anführen würden. Eine Episode der Reihe ›Frauengeschichten‹ handelt etwa von zwei Stoffhasen, den ›Frauenverstehern‹, die Stephans Puppen dabei helfen, einen Lipgloss in einer überfüllten Handtasche wiederzufinden. Seine Lieblingspointe lautet: ›Typisch Frau‹. Stephans Fotos portraitieren darüber hinaus alles von ›Puppe sitzt auf Stuhl‹ bis hin zu ›Puppe hält Waffe‹. Eine Fotoserie handelt davon, dass eine seiner Puppen, Babsi, erwachsen wird: Er hat ihren 1,55-Körper gegen einen 1,58-Körper ausgetauscht.
Nutzer von Sexpuppen würden, da ist sich Verhaltenstherapeutin Raviola sicher, Persönlichkeitsvariationen oder -störungen aufweisen. ›Die emotionale Bindungsfähigkeit liegt hier offensichtlich im Argen, wenn ich nicht fähig bin, interaktiv in einem persönlichen Gespräch mit dem jeweiligen Liebesobjekt in Kontakt zu treten.‹ Die Ursachen eines solchen Verhaltens könnten nicht auf einen Nenner gebracht werden. Es könne aus einem Trauma resultieren, es könne sich aber auch um eine zufällige Reizreaktionsverbindung und um das Gefühl von Macht handeln, meint die Psychologin. Macht, die sich mitunter in Gewaltexzessen manifestieren würde. Das in der Sexpuppen-Branche bewährte Argument ›Besser Gewalt an Puppen als an Menschen‹ überzeugt die Expertinnen dabei nicht: ›Die Puppe wird nicht verletzt. Es wird uns als Frauen schaden‹, meint Richardson. ›Eine Puppe oder ein Gegenstand ist letztendlich etwas, das Gott sei Dank tote Materie ist‹, ergänzt Raviola. ›Es ist aber trotzdem bedenklich, weil der Aggressionsfaktor, wenn auch unbewusst, sehr hoch ist. Die Problematik ist: Wie lange genügt mir in diesem Fall die Puppe? Wann stelle ich mir immer mehr vor, es auch an lebenden Objekten zu tun?‹
Eine Sichtweise, die an die Verknüpfung von Amokläufen und gewalttätigen Videospielen, insbesondere sogenannten Ego-Shootern, erinnert. Während in den 90er-Jahren immer wieder Totalverbote dieser Games gefordert wurden, pflegt die Gesellschaft heute einen etwas entspannteren Umgang mit Computerspielen. Verantwortlich dafür war nicht zuletzt empirische psychologische Forschung, die zeigte, dass Menschen auch bei hohem Gaming-Konsum nicht plötzlich zu Massenmördern werden. Nur wer bereits massive psychische Probleme hat, kann durch zeitintensives Eintauchen in eine virtuelle gewalttätige Parallelwelt den letzten Anstoß dafür erhalten, seine Fantasien Wirklichkeit werden zu lassen. Ob solche Täter ihre Verbrechen ohne Gewaltspiele nicht trotzdem begangen hätten, lässt sich im Nachhinein aber auch niemals mit Sicherheit sagen. Eine Datenbasis, auf der man schwerlich ein Verbot für alle durchsetzen kann.
Ob die Dinge beim Thema Sexpuppen ähnlich liegen, kann heute seriöserweise noch niemand beantworten: Dafür fehlen aussagekräftigen Studien. Derzeit ist vor allem ein ideologischer Kampf zwischen begeisterten, meist männlichen Nutzern und ihren profitorientierten Puppendealern auf der einen, sowie lautstark warnenden, meist weiblichen Kritikerinnen auf der anderen Seite zu beobachten. Wobei keineswegs gesagt ist, dass die Frontlinien zwischen den Geschlechtern beim Thema Sexpuppen so stabil bleiben: Computerspiele, auch solche mit gewalttätigen Inhalten, finden seit einigen Jahren zunehmend auch bei weiblichen Gamern Anklang. Und laut einer Statistik des Online-Pornoanbieters Pornhub sind inzwischen immerhin 26 Prozent der Porno-Konsumenten Frauen. Wenn die Puppenhersteller ihr noch uneingelöstes Versprechen von eloquenten, sich geschmeidig bewegenden Sex-Robotern eines Tages doch wahr machen sollten: Wer vermag zu sagen, ob Frauen daran nicht ähnlich viel Gefallen finden werden wie Männer? Und wäre das dann ein Erfolg des Feminismus oder sein endgültiger Niedergang?
Einige Monate nach dem ersten Besuch im Hinterhof des ›Studio Lalolita‹ in Favoriten: Die nassen Blätter des Herbstes sind dem Hochsommer gewichen. Geschäftsführer Dominik aber ist nicht mehr da, das Studio hat jetzt eine neue Betreiberin. Und Nadine? Wo man im Herbst noch über den Kauf einer zweiten Puppe nachdachte, will man jetzt von der ersten schon nichts mehr wissen. Nadine sei nicht mehr im Einsatz, sagt die neue Chefin. Sie liege im Keller, und hergerichtet sei sie auch nicht.
Mitarbeit: Anatol Vitouch