Bedrohliche Wachsamkeit

Ein Jugendlicher in einem oberösterreichischen Regionalzug hat keine gültige Fahrkarte für seinen Hund. Die Zugbegleiterin holt die Polizei. War hier tatsächlich Gefahr in Verzug?

Im Regionalzug zwischen Linz und Spital am Pyhrn kam es zu einem Zwischenfall, der vermeidbar gewesen wäre. Ein Fahrgast (etwa 16 Jahre alt) wurde an der Weiterfahrt gehindert und der Polizei übergeben. Der Jugendliche fiel mir bereits auf, als er den Zug bestiegen hatte und lautstark von sich gab, dass es hier stinke und man doch die Fenster öffnen solle. Dabei war sein ausländischer Akzent unüberhörbar. Bei der Ticket-Kontrolle stellte sich heraus, dass er zwar einen Fahrschein für sich selbst gelöst hatte, nicht aber für seinen mitgeführten Hund, woraufhin die Zugbegleiterin seinen Ausweis verlangte und auf die Strafsumme von 90 Euro in bar verwies.

Der Jugendliche, soweit ich das von meinem Platz aus wahrnehmen konnte, reagierte aufbrausend und fragte, was denn passiere, wenn er jetzt nicht zahle. Die Zugbegleiterin antwortete überraschend harsch und aggressiv (so doch das Abmahnen von Strafzahlungen zu ihren Standardtätigkeiten zählen müsste): Dann hätte er eben vorzeitig auszusteigen. Darauf zeigte sich der Fahrgast, wenn auch murrend, einsichtig und meinte, die 90 Euro könne er sich schon leisten. Weswegen am Ende der Diskussion, die nun am Gang des Waggons ausbrach und im gesamten Zugteil mitverfolgt wurde, dennoch ein Polizeieinsatz stand, ist für mich eine beunruhigende Randnotiz zu einer umfassenderen Debatte über Sicherheit und Freiheit.

Vorerst aber zurück in den Zug. Ich saß nicht im selben Waggon wie die Diskutierenden. Da es sich aber um die neueren Garnituren der ÖBB S-Bahn-Flotte handelte, gab es keine Trennwand und ich hatte die beiden aus etwa zehn Meter Entfernung im Blick wie auch im Ohr, denn nun wurde es laut zwischen ihnen. Die Zugbegleiterin ging auf die trotzige Aussage des Jugendlichen hin, er könne seinetwegen auch das Doppelte zahlen, wenn sie sich den bürokratischen Aufwand antuen wolle (und er dürfte an dieser Stelle die Hand in ihre Richtung gehoben haben), dazu über, den strafeinsichtigen und zahlungswilligen Fahrgast von der Weiterfahrt auszuschließen. Er solle aufstehen und beim nächsten Halt den Zug verlassen.

Es kam zur brüsken Gegenwehr des Jugendlichen: Einen Scheiß würde er aussteigen! Darauf die Zugbegleiterin: Sie behielte seinen Ausweis ein, bis er ihr auf der Stelle 90 Euro gäbe. Nun richteten sich einige der umsitzenden Fahrgäste auf, doch keiner tat etwas. Jeder hoffte, das Gespräch würde sich unter den beiden noch in Vernunft auflösen. Als der junge Mann allerdings meinte, das mitgeführte Bargeld gehöre nicht ihm, sondern seiner Mutter, griff die Zugbegleiterin zum Funkgerät und orderte an, die Polizei sei umgehend zu informieren.

Ich ärgere mich – nein, ich bin wütend, dass ich an dieser Stelle nicht aufgestanden war, um zu intervenieren, denn es brauchte keine Exekutive. Es lag keine Sicherheitsfrage vor. Auch keine strafrechtlich relevante. Es war ein sozialer Konflikt aufgetreten, der ruhig und besonnen zu lösen gewesen wäre. Sie, die Schaffnerin, so hätte ich sagen sollen, müsste lediglich einen läppischen Zahlschein ausstellen und den pubertierenden Jugendlichen nicht als Aggressor, sondern als Provokateur begreifen, der zwar körperliche durchtrainiert, aber rhetorisch unbeholfen wirkte.

Wäre hier ein Mann im Anzug und mit Laptop gesessen, ohne ausländischem Akzent, und hätte dieser auf das Ticket für seinen Schoßhund vergessen, wie wäre die Reaktion ausgefallen? Ein Auge zuzudrücken kann nicht verlangt werden. Die ordnungsgemäße Abwicklung eines Regelverstoßes wäre aber anzunehmen. Die Polizei jedoch zu verständigen, machte aus dem überschaubaren Konflikt eine diffus beängstigende Situation. War hier tatsächlich Gefahr in Verzug? Hatte ich nicht alles wahrnehmen können? War die Frau von dem Jugendlichen bedroht worden? War es nicht ihre Pflicht, so sie gefährdende Anzeichen vermutete, auf die Sicherheit der Personen im Zug zu achten? Wann lässt sich aber von Gefahr sprechen? Bei einem unguten Gefühl im Bauch? Bei aufdringlicher Diskussionswilligkeit? Bei Respektlosigkeit? Genau diese warf die Zugbegleiterin nun dem jungen Mann nämlich vor. Der verwies darauf, dass er nichts gemacht hätte und die Kamera im Waggon, auf die er mit einer Handbewegung deutete, als hätte er sie schon seit Beginn des Gesprächs anvisiert gehabt, würde ihm Recht geben.

Die Zugbegleiterin beharrte aber darauf, dass er sich unmöglich benehme und daher wegen Ordnungswidrigkeit die Fahrt abzubrechen habe. Was ging in ihr vor? Hatte sie einen schlechten Tag? Handelte es sich um den vierten, fünften Schwarzfahrer in dieser Woche? Unterschied sie nicht zwischen Korrektheit, Penetranz und unnötiger Härte? Oder hatte das Ganze mit dem Foto in der Gratiszeitung zu tun, die am Sitz neben mir lag, zurückgelassen, aufgeblättert: ›Mehr Sicherheit! Mehr Freiheit!‹ Dazu der erhobene Arm des Innenministers, ein mehrere Seiten starkes Papier in Händen haltend.

Ich versuchte mich in die Lage der Zugbegleiterin zu versetzen. Sie war hier verantwortlich. Und was ist zu tun, als Verantwortungsträgerin, wenn landauf, landab Bedrohungsszenarien debattiert werden und Regierungsmitglieder die Sicherheit von Staat und Bevölkerung zur Doktrin erheben möchten? Wie gesagt: Es ist dies eine singuläre Notiz. Ein Einzelfall. Womöglich aber Symptom einer beunruhigend nervösen Wachsamkeit.

Der politische Aufruf, als Zivilbevölkerung vorsichtig zu sein, ist dabei keine Neuerung. Ich erinnere mich noch gut an meine Irritation in der Subway von New York, wo ich vor sechs Jahren erstmals von einem Plakat gefragt wurde: ›What is wrong with this picture?‹, darunter das Bild eines U-Bahn-Innenraums mit Fahrgästen, Alte und Junge, Schwarze und Weiße, Gruppen und allein Sitzende. Es dauerte die ganze Fahrt lang, bis mir der Koffer in der Darstellung auffiel, der scheinbar zu keinem der Umsitzenden gehörte und demnach eine Bedrohung als mutmaßliche Bombe darstellte. Die Durchsage, man solle auf herumstehende Gepäckstücke achten, war ich bislang nur von Flughäfen gewohnt.

Mittlerweile sind derlei Hinweise auch in österreichischen Zügen zum Standard geworden, besonders seit der Rail-Jet bis zum Flughafen Wien geführt wird. Verwunderung lösen sie bei mir nicht mehr aus. Vielmehr merke ich, wie rasch ich nun selbst bei merkwürdigen Vorgängen im öffentlichen Verkehr eine große Achtsamkeit an den Tag lege. Wenn die U-Bahn ins Stocken gerät oder abrupt abbremst, wenn Menschen zusteigen, die alkoholisiert sind oder deren Verhalten ich nicht abschätzen kann, wenn Männer mit dunkler Hautfarbe in einer Gruppe auftreten, wenn Rauch aus einem Mülleimer am U-Bahn-Ausgang steigt – ich bin in diesen Fällen sonderbar alarmiert und erlebe sie zugleich als Normalität meines Alltags.

So nahm ich Anfang dieses Jahres auch die Laufschrift in der Berliner U-Bahn, Merkwürdiges sei umgehend zu melden, als völlig selbstverständlichen, ja drei Wochen nach dem Attentat am Breitscheidplatz sogar beruhigend notwendigen Schritt einer Großstadt hin, präventiv die Aufmerksamkeit der Zivilbevölkerung zu erhöhen. Meine Bereitschaft also, die Freiheit, in der ich lebe, auch als Pflicht einer aktiven Teilhabe an staatlicher Sicherheitspolitik zu verstehen, ist in den letzten Jahren gestiegen, in denen ich zugleich das Falsche in meinem Weltbild (›What is wrong with this picture?‹) verinnerlicht habe. Meine Sensoren des sozialen Friedens sind geschärft. Ich bin, ohne es bewusst gewollt, noch gelernt zu haben, zu einem wachsamen Zeitgenossen geworden.

Als ich letzte Woche aber mitansah, wie ein junger Mann zu Unrecht in seinen zivilen Freiheiten eingeschränkt wurde, verdeutlichte sich mir die bedrohliche Seite der Wachsamkeit und das Fehlen dessen, was angebracht wäre: eine neue Wachheit nämlich. Wach zu sein, könnte für eine Gesellschaft im besten Falle bedeuten, die Entwicklungen der Welt nicht zu verschlafen. Wachsam hingegen geht eine Nation zu Bett, welche die Welt und ihre Entwicklungen als schlafgefährdend wahrnimmt – immer mit dem Gefühl, aus den eigenen Träumen gerissen zu werden. Der wache Geist geht von der Welt aus, die einen umgibt. Der wachsame begreift sie als Störfaktor und bildet Raster der Bedrohung, um in ständiger Bereitschaft das ganze Land notfalls aufzuwecken und Gegenwehr einzuleiten.

Freilich sind nicht alle, die mit Vorsicht auf die Straße treten, Vorposten einer Verteidigungsgesellschaft. Doch führt das Reden davon, die Augen offen zu halten, nicht allein zu offenen Augen. Und so sind die verbalen Äußerungen, die den Handlungen im Regionalzug zwischen Linz und Spital am Pyhrn vorausgegangen waren, nicht belanglos oder beiläufig gefallen, sondern von einer privaten sowie gesellschaftlichen Grundstimmung mitbestimmt. Diese Stimmung steht der Abwehr näher als der Öffnung. Sie spielt der Eskalation in die Hände, nicht der Entspannung. Sie schafft ein Mehr an diffusen Emotionen, trägt wenig zu Fakten bei. Sie entspringt viel eher einer Politik verordneter Beunruhigung, denn einer Gesellschaft wacher Geistesschärfe.

Natürlich, ein Einzelsymptom belegt noch keine allgemeine Diagnose. Und bei zunehmender Terrorbedrohung von aktiver Bürgerbeteiligung zu reden, ist nicht per se paranoid. Und ja, der Jugendliche in dem konkreten Fall im Zug auf der Pyhrnbahn war latent unberechenbar. An keiner Stelle aber agierte er dezidiert gefährlich oder kriminell. Etwa 15 Menschen saßen ringsum im Waggon. Sie alle verfolgten samt mir das Geschehen in erhöhter Aufmerksamkeit. Jedes Zucken der Augenlider der beiden Diskutierenden wurde genau geprüft. Müsse man sich um die Sicherheit der Zugbegleiterin Sorgen machen? Ist die aufbrausende Art des jungen Mannes Anlass einzuschreiten? Wie kann die Zugbegleiterin selbst beruhigt werden, die auf jedes Einwirken von außen noch verbissener zu reagieren schien? War sie an diesem Freitagabend, am Ende einer harten Arbeitswoche, schlicht überfordert – der Vorfall letztlich also Ausdruck persönlicher Belastungsgrenzen?

Kann sein. Als ich ausstieg jedoch, nachdem der Zug 40 Minuten angehalten und die Polizei die direkt Beteiligten vernommen hatte, nachdem sich das Protokoll einer Uneinsichtigkeit der Zugbegleiterin zu ergeben schien, die nun selbst die anderen Fahrgäste lautstark zurechtwies, sie würden sich hier unbefugt einmischen, ja, es hätte ja keiner hören können, was ihr von dem Jugendlichen mit dem schwarzfahrenden Hund als Drohung zugeflüstert worden wäre, nachdem dieser nun lautstark den ganzen Zug befragte: habt ihr etwas gehört, hat hier irgendjemand etwas gehört? – und alle verneinten und manche sich nun vehement für den Beschuldigten einzusetzen begannen, nachdem die eskalierte Ticket-Kontrolle durch den tatsächlichen Rausschmiss des jungen Mannes mit dem ausländischen Akzent aus dem Zug für beendet galt, da erwartete mich mein Schwiegervater in Kirchdorf an der Krems und dieser schilderte, wie auch hier am Bahnhof über das Vorgefallene geredet worden war. Und der Bahnhofsvorstand hätte berichtet, es käme nun fast täglich vor, dass man die Polizei brauche.

Ist dem wirklich so? Im vorliegenden Fall wäre sie meiner Ansicht nach entbehrlich gewesen. Und ich fürchte, in den meisten dieser Polizeieinsätzen ist keine Sicherheit gefährdet, sondern ein vorauseilendes Ordnungsbedürfnis am Erwachen, in dem sehr genau gehört wird, was Politikerinnen und Politiker über die Verfassung von Demokratie, Wohlstand und Freiheit sagen: Passen Sie auf, sonst ist bald alles vorbei!

Der Vorfall im Zug bleibt eine regionale Nebenbemerkung. Ich weiß leider weder, ob die Aussagen der Umsitzenden, welche die Anschuldigungen der Zugbegleiterin widerlegten, von den beiden diensthabenden Polizisten unvoreingenommen zu Protokoll kamen, noch, ob es mit der Verwaltungsstrafe wegen eines schwarzfahrenden Hundes getan war. Jedenfalls nehme ich mir vor, in Zukunft couragierter zu handeln, und das zur rechten Zeit. Denn letztlich denke ich, der provokante Jugendliche mit dem ausländischen Akzent hatte beim Einsteigen in den Zug recht: hier stinkt es und wir sollten die Fenster öffnen – gerade weil an vielen Orten dieser sicherheitswütigen Gegenwart gar nicht mehr die Möglichkeit besteht, die Aussichtsflächen zur Welt aufzumachen und Luft zu holen, für weitsichtigere Handlungen.

Thomas Arzt ist Dramatiker und lebt in Wien. Neben seinen Arbeiten fürs Theater schreibt er essayistische Gedankensplitter und Alltagsbeobachtungen, zu lesen unter thomasarzt.at.