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Briefe ans 15-jährige Ich

Fotos:
privat
DATUM Ausgabe Juli/August 2019

Wir haben zehn Personen gebeten, für uns Briefe an ihr 15-jähriges Ich zu verfassen und uns ein Foto aus ihrer Jugend zukommen zu lassen. Wir wünschen viel Lesevergnügen mit diesen Ratgebern, Erinnerungen und nostalgischen Rückblicken.

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Lieber Klaus,

es mag sinnlosere Ansinnen geben, als Briefe an 15-Jährige zu schreiben, aber einfallen tut mir auf die Schnelle keines. 15 ist ein wahrhaft schreckliches Alter: zu jung, dumm und unerfahren, um alle Vorzüge des so genannten Erwachsen-Seins voll auskosten zu können; aber zu alt, um sich angesichts der Konsequenzen des Irrsinns, den man aufführt, darauf ausreden zu dürfen, dass man noch ein Kind sei und es deshalb nicht besser wisse. Dazu die für das Alter typische, aus grenzenloser Unsicherheit gegenüber der Welt an sich geborene Arroganz und die daraus resultierende, bisweilen selbst- wie mörderische Verwegenheit. Gestern wie heute gibt es keinen auch nur halbwegs ernst zu nehmenden 15-Jährigen, der sich nicht mindestens einmal täglich mit dem unersetzlichen Wiglaf Droste sagt: Es gibt ein richtiges Leben im falschen, nämlich meins. Dementsprechend – und gottlob – sind jegliche auch noch so gut gemeinten Ratschläge für einen 15-Jährigen, die darauf abzielen, wie er leben soll, für die Katz. Aber gut, wenns denn sein muss und weil man Teenagern ohnehin gar nicht oft genug sagen kann, wie total verpeilt sie sind, und wenn’s nur dafür ist, sich selber besser zu fühlen: Listen, dumbass. 

Hör weniger Onkelz und Mötley Crüe und mehr Count Basie und Wire. Lies mehr Dostojewski und Pasternak und weniger Bukowski und Kerouac. Schau mehr ›Alpensaga‹ in den dritten Programmen und weniger ›Wunderbare Jahre‹ in den ersten. Prügel dich ausschließlich mit Leuten, die es verdienen, und versuch deine Freunde zu überzeugen, das gleiche zu tun, auch wenn es aussichtslos scheint. Rauch nicht so viel. Trink weniger. Nimm die Toten und das Land, in dem du lebst, so ernst, wie sie das verdienen. Lass dir weiter nichts gefallen, auch wenn es dich kostet. Behandel deine Freundinnen besser. Und wenn du mit Erwachsenen zu tun hast, die dir erzählen, dass sie, wenn sie ihr Leben nochmal leben könnten, ›alles genauso wieder machen würden‹: Glaub ihnen kein Wort.

DATUM-Gründer Klaus Stimeder, Jahrgang 1975, ist freier Schriftsteller und Journalist und studiert internationale Entwicklung und Migration an der University of California, Los Angeles.

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Liebe Hanna,

ich hab dir so viel zu sagen und so wenige Zeichen. Ein paar Dinge haben Platz, halte dich an sie. 

Lies bessere Bücher und lies die Originale. Sie mögen dir im Original zu anstrengend vorkommen, aber nur so lernst du. Über diese Bücher zu lesen bringt dir nichts, als ihren Inhalt zu kennen. Der Inhalt ist egal. Der Prozess des Lesens ist, was wichtig ist. Du lernst nicht boxen, indem du die fünfjährigen Nachbarsjungen herausforderst. Du musst dich den Großen stellen – auch wenn es einschüchternd und frustrierend ist. 

Du hättest auf jeden einzelnen Blockbuster verzichten können. 

 Umgib dich öfter mit Menschen, die etwas zu erzählen haben. Und seien es die Freundinnen und Freunde deiner Mutter.  

 Denk mehr drüber nach, was du werden möchtest und wie du da hinkommst – und geh diese Schritte. Du darfst deine Meinung ändern, dann mach einen neuen Plan und verfolge den. 

 Red dir nicht die ganze Zeit ein, wie fehlerhaft du bist.

 Sei mutiger.

 Sei nicht so zerstörerisch dir gegenüber. 

 Geh mehr in die Natur. Nimm ein Buch über Bäume mit, sammle Blätter, schau nach, wie sie heißen. 

 Sei öfter nicht wie alle anderen. Ich verstehe, dass du Angst hast, du passt nicht mehr in die Herde, wenn du eigene Sachen suchst und findest. Aber du wirst die Menschen um dich herum nicht verlieren. Und du wirst ihnen viel zu erzählen haben. 

 Sei mutiger.

 Hör nicht die Musik, die deine Freunde hören, nur weil sie sie gut finden und weil sie überall läuft. Versuch einmal Leonard Cohen, Neil Young, Bob Dylan, Cat Power. Ich versprech dir, du wirst sie mögen. Versuch es einmal wirklich mit Klassik. Quartiere dich eine Woche bei deinem Vater ein und höre alles auf seiner Anlage, sag ihm, er soll dir alles über Musik beibringen, das er weiß. 

 Frag deine Mutter öfter, wie es ihr geht. Hör ihr öfter zu, was sie zu erzählen hat. Sie hat so viel zu sagen.

 Sei mutiger.

 Du wirst jetzt 13 Jahre Strache aushalten müssen. Aber was dann kommt, wird die 13 Jahre wert sein. 

 Sei mutiger.

Hanna Herbst, geboren 1990, war bis 2018 stellvertretende Chefredakteurin des Onlineportals Vice und macht zur Zeit ein Sabbatical auf den Philippinen.

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Liebe Heidi, 

in großer Distanz zu einer Zeit, die ich nicht in bester Erinnerung habe, könnte ich mir nur einen wesentlichen Rat geben: keine Angst. All die Unsicherheiten, die einem mit 15 das Leben wirklich schwer machen können, die Befürchtungen, nicht zu entsprechen, seine Ziele zu verfehlen, all das ist völlig entbehrlich, ganz und gar entbehrlich und Verschwendung von Lebenszeit, und die wächst bekanntlich nicht allenthalben zur freien Entnahme auf Bäumen. Ziele ja, die sind wichtig, damit man in Bewegung bleibt, sich Möglichkeiten erschließt, aber die Palette der Angebote ist immer viel größer, als man sich das mit 15 überhaupt vorstellen kann; manche Ziele entwickeln sich erst im Gehen, und im Nachhinein entdeckt man, dass man genau das gewollt hätte, wenn man davon gewusst hätte. Es ist keine Katastrophe, wenn Pläne scheitern, hinter jedem Eck lauern neue Möglichkeiten; wenn man nur bereit ist, sie zu ergreifen, können sie viel weiter tragen, als man sich das je gedacht hätte. Wichtig ist es, offen zu bleiben für Erfahrungen, offen dafür, dass Erlebnisse Einstellungen und Sichtweisen verändern können. Ein klarer innerer moralischer Kompass ist äußerst hilfreich, um sich nicht zu verirren, aber wenn die Richtung passt, kann man auch überraschende Entdeckungen machen. Keine Angst! Ob man sich zu Tode fürchtet oder sein Leben lebt, in jedem Fall ist man irgendwann tot, nur hat man eben im ersten Fall das Leben versäumt. 

Und noch etwas: Vergangenes ist vergangen und nicht mehr veränderbar, vorwärts gehen und rückwärts schauen führt nur dazu, dass man unnötig stolpert. Dinge aus der Vergangenheit, auch äußerst unangenehme, lassen sich nicht mehr verändern. Man kann sie betrauern, und das kann wehtun, aber man überlebt es, und dann sollte man weitergehen, nach vorne. Nichts, was ich erlebt habe, hat die Macht, mich zu bestimmen, wenn ich es nicht zulassen will. Der einzige wirkliche Fehler wäre, sich aus Starre, Angst, Verbissenheit und Vergangenheitsfixierung schon im Leben tot zu stellen. Zum Tot-Sein gibt’s noch reichlich Gelegenheit. 

Adelheid Kastner, 56, ist Primaria der Klinik für Psychiatrie mit forensischem Schwerpunkt an der Kepler-Uniklinik und war Gerichtsgutachterin im Fall Fritzl. (ohne Foto)

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Lieber Thomas,

Grüße aus der Zukunft.

Bitte reg dich etwas ab. Vor dir liegt ein aufregender Weg, der manchmal sehr herausfordernd wird. Sei aber versichert, es kommt fast alles besser, als du im Augenblick denkst.

Was du jetzt als Schwäche ansiehst, deine Begeisterung für Kindergeschichten zum Beispiel, das wird später zu deinem größten Erfolg.

Du bist in manchen Dingen anders als deine Alterskollegen, und das verunsichert und tut auch weh. Du zweifelst an dir, du bist besorgt, du fühlst dich gegenüber Gleichaltrigen minderwertig. Das bist du nicht, du bist nur etwas anders, und das ist gut so.

Thomas, du hast keine Ahnung, wie viel du derzeit schon richtig machst. So wie du jetzt bist, bist du gut, und das, was du als ›anders‹ und vielleicht minderwertig empfindest, wird dir in deinem Leben helfen, besondere Wege zu gehen. Du wirst eines Tages sagen: Wie gut, dass es damals so war.

Bitte sei nachsichtig mit deinen Eltern. Sie sind nicht so großartig, wie sie dir als Kind erschienen sind, weil sie einfach Menschen sind, mit allen Stärken und Schwächen. Sie sind aber auch wirklich nicht so schrecklich, wie sie dir derzeit manchmal erscheinen.

Das Wichtigste überhaupt: Lerne, lerne, lerne – lerne von Menschen, die du kennst und die ein freudiges Leben leben. Frag sie nach ihren wichtigsten Grundsätzen, beobachte sie. Ahme sie zu Beginn nach und finde so deinen Weg zu einem erfüllten Leben.

Thomas, was vor dir liegt, mag dir ein wenig bedrohlich erscheinen, und du bist voller Zweifel über dich selbst. Ja, das ist so, und in deinem Alter gehört es vielleicht sogar dazu. Aber auch das führt dich zur Kraft.

Habe Mut und Vertrauen in das Leben und deinen Weg. Geh immer weiter und gib niemals auf. Nie, nie, nie!

Du schaffst das. Ich weiß das.

Dein 

Thomas

Thomas Brezina wurde 1963 in Wien geboren und arbeitet als Autor, Moderator und Produzent. 

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Lieber Stefan,

hurra, endlich 15. Aber nennen wir dein Alter der Einfachheit halber doch eine Art Zwischenraum. Du bist mit 15 jetzt kein Kind mehr, als Jugendlicher gehst du auch noch nicht durch. Du bewegst dich also irgendwo dazwischen. So schlecht ist das gar nicht, denn im Grunde kannst du machen, was du willst, und bist je nach Lust und Laune Kind oder eben ein Jugendlicher. Und damit lässt es sich doch ganz passabel durch den Tag kommen. Für alle anderen ist das zwar manchmal etwas anstrengend, aber das kann dir eigentlich egal sein. Rückblickend weiß ich ja, dass man mit 15 seine Zukunft schon ziemlich genau im Kopf hat, dass man genau weiß, was man will. Freilich ist einem noch nicht klar, dass sich das permanent ändern wird und dass vieles einfach nicht planbar ist. Deswegen würde mich ja umgekehrt viel mehr interessieren, was du mir zu sagen hättest. Wie du als 15-Jähriger auf das schaust, was ich heute bin und mache, und ob sich das mit deinen Vorstellungen, Wünschen oder Träumen zumindest ansatzweise deckt. Vielleicht schüttelst du über manche Entscheidungen einfach nur fassungslos den Kopf und denkst dir, so habe ich mir das alles nicht vorgestellt. Aber vielleicht ist es genau umgekehrt, und du musst dir eingestehen, eigentlich ist das alles noch besser gelaufen als erwartet. Spannend würde ich mir deshalb eine direkte Konfrontation zwischen uns beiden vorstellen, hier der 15-Jährige, der gerade Lehrer und Eltern mit seiner Aufsässigkeit und Nonchalance zur Verzweiflung und in Rage bringt und kurz davor ist, von der Schule zu fliegen, dort der heute 50-jährige Vater von zwei Buben im nahezu selben Alter. Wären wir einander fremd?  Müsste ich mir ein paar Vorwürfe und Flegeleien anhören? Würden wir uns anschreien, oder wäre das Gespräch von Harmonie und gegenseitigem Verständnis geprägt? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich würde es aber eine Mischung aus beidem sein. Was ich aber weiß: dass wir uns nach wie vor ziemlich ähnlich sind, vielleicht sogar zu ähnlich, und dass das vielleicht mit diesem Zwischenraum zu tun hat, den wir beide offenbar nie verlassen werden. 

Stefan Kaltenbrunner, Jahrgang 1967, war von 2009 bis 2015 Chefredakteur des DATUM. Nach Stationen bei Kurier und Addendum übernimmt er ab Juli die Chefredaktion Digital bei Puls 4.

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Lieber Florian

solltest du noch letzte Zweifel daran haben, ob es eine gute Idee war, statt mit deiner Band ›Evidence‹ lieber mit deinem besten Freund Fifi, dem lustigen Werner aus der 5B und dem -schrägen Mini aus der Achten aufzutreten, und dabei nicht ›Stairway to heaven‹, sondern ein paar selbst geschriebene Sketches zu spielen: Vergiss die Zweifel.

Es ist nämlich eine gute Idee. Und du wirst sehen: Die Frage, was du nach der Matura machen sollst, wird sich praktisch von selbst beantworten.

P. S.: Nur weil dir der Verkäufer im Meki-Plattengeschäft unlängst gesagt hat, du musst dich entscheiden, ob du Clash- und Talking-Heads-Fan oder Queen- und Pink-Floyd-Fan bist: Nein, musst du nicht.

Florian Scheuba wurde 1965 in Wien geboren  und ist als Kabarettist, Autor und Schauspieler tätig.

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Liebes 15-jähriges Ich!

Wäre ich heute du, wäre ich wahrscheinlich jetzt jeden Freitag statt in der Schule auf der Straße. Obwohl wir damals, also Ende der 1970er-Jahre, CO2-mäßig eher unbedarft waren. Eines unserer großen Ziele war es, endlich in drei Jahren den Führerschein machen zu können, denn das war für uns die Lizenz zur Freiheit. Der Begriff ›ökologischer Fußabdruck‹ war damals noch nicht geboren. Wenn jemand irgendetwas von Nachhaltigkeit gepredigt hätte, wir hätten nur Bahnhof verstanden. Und das sicher nicht, weil wir bewusst den Zug statt das Auto gewählt hätten.

Nun ist mein heutiges Ich vier Jahrzehnte später natürlich etwas klüger, als du es damals warst. Aber das sind auch die heute 15-Jährigen, verglichen mit dir, damals, meine ich. Also das mit den Ratschlägen an dich oder besser an die heutigen 15-Jährigen ist eine heikle Angelegenheit. Raus in die weite Welt ziehen, über meinen Tellerrand hinaussehen, war wahrscheinlich das Nachhaltigste meiner eigenen Unternehmungen. Denn zu sehen, wie die Welt woanders tickt, ist das beste Rezept gegen eigene Überheblichkeit. Das gilt für alle Ichs zu allen Zeiten. 

Einen Rat hätte ich doch noch an mein eigenes 15-jähriges Ich mit Migrationshintergrund. Es hat bei mir ein wenig gedauert, zu kapieren, dass das Konzept der Identität immer etwas Konstruiertes ist. Fühlt man sich als Deutscher oder als Ägypter oder als arabischer Piefke beim ORF? Oft habe ich mir diese Frage gestellt. Ehrlich gesagt: Zu viel Zeit habe ich damit verschwendet, eine dieser Identitäten 150-prozentig nachzuahmen. Wenn du noch einmal von vorne anfängst, dann halte dich bitte nicht damit auf. Inzwischen habe ich verstanden, dass neben oder über einer Identität zu stehen den besten Blickwinkel hergibt auf diese nicht unkomplizierte Welt. 

Denn gefeit gegen jeglichen Nationalismus und Rassismus kann man sich dann den wirklichen Problemen dieses Planeten zuwenden. ›Weniger ist mehr‹ dürfte dabei das letzte verbliebene Überlebenskonzept für die heutigen 15-Jährigen werden. Die befinden sich erst am Anfang, nicht nur ihres Lebens, sondern einer neuen Zeit. Deren Zeichen stehen auf Zurückschrauben, weil die Generation meines jetzigen Ichs immer nur mehr aufgedreht hat. Wie verwegen von uns, die es verbockt haben, euch Ratschläge erteilen zu wollen. Ich warte auf Post. Vielleicht verraten mir die heutigen 15-Jährigen, wie es jetzt weitergehen soll.

Ratlos und in Erwartung baldiger Antwort,

Karim (56-jähriges Ich) El-Gawhary

Karim El-Gaw-hary wurde 1963 geboren und leitet seit 2004 das Nahostbüro des ORF in Kairo. 

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Liebe Heide!

Ich schreibe dir zu deinem 15. Geburtstag, und das ist ein merkwürdiges Gefühl. Denn du bist ich, und das aus einer Zeitdistanz von 55 Jahren zu erspüren, ist gar nicht so einfach.

Ich will dir Gründe zu Optimismus geben: Du brauchst ihn jetzt, um den Schwung und die Unbefangenheit zu haben, dein Leben in die Hand zu nehmen. Und du brauchst ihn später, um mit Enttäuschungen umgehen zu können und dir Lebensfreude zu erhalten.

Du wächst mit deinen 15 Jahren in einer Gesellschaft auf, in der jeder erwachsene Mensch von der Unmenschlichkeit des Krieges geprägt ist, von der Entsolidarisierung, Verrohung und direkter oder indirekter Gewalterfahrung im gesellschaftlichen Umgang. Wie lebt man mit solchen Eindrücken, woher nimmt man die Kraft zur Schuldeinsicht, wie bewältigt man die Scham? Über all das wird kaum geredet, nicht in deinem Umfeld, nicht in der Öffentlichkeit. Vielleicht willst du deshalb Psychologie oder Psychiatrie studieren, aber du wirst letztlich bei der Juristerei landen, und das ist gut so. Das wird dir so manches verdeutlichen. Du wirst die Siebziger mit einer großen Strafrechts- und Familienrechtsreform als Aufbruch erleben: Der Mann ist nicht mehr das ›Oberhaupt der Familie‹, der allein über Frau und Kinder bestimmen, ja ›väterliche Gewalt‹ ausüben darf, die Strafbarkeit von Homosexualität wird beseitigt und vieles mehr. Die Arbeitsbedingungen der ArbeitnehmerInnen ändern sich gravierend, die Demokratisierung der Hochschulen schreitet voran. Die Stellung der Frau wird eine andere. Du profitierst von einer sozialdemokratischen Agenda, ohne diese Partei zu wählen, aber Jahre später gründest du die erste liberale Partei Österreichs. Auch sie leistet einen Beitrag zu mehr Offenheit und Toleranz. Das alles war möglich. Es ist daher auch möglich, dem auferstehenden Nationalismus etwas entgegenzusetzen und der wieder wachsenden sozialen Ungleichheit, den aus dem Ruder gelaufenen Kapitalismus zu zivilisieren, den Klimawandel zu stoppen, die Humanität zu retten. Die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen geben Anlass zur Hoffnung, Greta Thunberg ist nur ein Jahr älter als du, und sie lebt heute. 

Wie gesagt, wir brauchen Optimismus, du und ich. Und wir wollen nicht darüber streiten, für wen er wichtiger ist, denn wir sind eins.

Deine Heide

Die Juristin und Politikerin Heide Schmidt, Jahrgang 1948,  war bis 1993 als Mitglied der FPÖ Abgeordnete im Nationalrat und gründete dann das Liberale Forum. 

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Hey Jonas,

wie ich dich kenne, liegst du aktuell mit irgendwelchen Leuten in einer Wiese, rauchst Bong und bist unglücklich verliebt. Irgendwie sowas, nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Und keine Angst, das hier wird nicht kitschig werden. Ich weiß, wie sehr du das verabscheust.

Womit wir zu dem Problem kommen, dass es mir eigentlich fast unmöglich macht, dir diesen Brief zu schreiben: Ich kenne dich zu gut.

 Ich weiß, dass du dich nicht magst. Ich weiß, dass du nicht hören willst, dass das normal ist. Und ich weiß, dass es dich irrsinnig aggressiv machen würde, wenn ich dir sagte, dass du unterm Strich eigentlich ganz in Ordnung bist.

Du wirst jetzt schon mit den Augen rollen und mir vorwerfen, dass meine offensive Abgeklärtheit zum Kotzen sei. Und du hast völlig Recht. Deshalb werde ich dir hier nicht sagen, dass die Dinge, die dir Angst machen, es nicht müssen. Ich sage nicht, dass nichts Beschissenes passieren wird oder dass alles seinen Sinn hat. Das wären alles Lügen, und ich will dich nicht anlügen.  

Stattdessen werde ich dir einen Fehler an dir nennen. Einen, den du bislang übersehen hast. Dir fehlt die Vorstellungskraft. Du hast einfach keine Ahnung, auf welche verschlungenen Wege das Leben diesen dicken Teenager aus dem Rheinland führen wird. 

Du wirst ein Studium gegen die Wand fahren und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in ein anderes Land ziehen. Du wirst am anderen Ende der Welt von Premierministern beschimpft werden. Du wirst Jobs machen, die aktuell völlig unerreichbar scheinen und sie ohne mit der Wimper zu zucken aufgeben, wenn der Moment dafür gekommen ist. Du wirst von einem Auto mit 100 km/h angefahren werden und quasi unverletzt aufstehen. Nicht zuletzt wirst du viele, viele Menschen treffen, die auch finden, dass du unterm Strich ganz in Ordnung bist. 

Und du wirst an Dingen scheitern. Zum Beispiel daran, so einen Brief komplett kitschfrei hinzubekommen. 

Jetzt zeigst du mir wahrscheinlich gerade den Mittelfinger, bisschen zu recht auch. Aber ich weiß dann halt schon ein paar Dinge, die du noch nicht weißt.

Genieß die Zeit. 

Dein Jonas

Jonas Vogt, 34, schloss kürzlich nach siebenjähriger Uni-Pause sein Studium der Politikwissenschaft ab. Er schreibt neben DATUM für die Zeit, Standard und Kurier.

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Hallo Steffi!

Jetzt, mit einem gewissen Abstand, würde ich dir gerne folgende Dinge sagen und dich wissen lassen.

Hör nie auf, DIR und anderen zu vertrauen. Ich möchte nicht lügen, du wirst verletzt werden, dein Vertrauen wird missbraucht werden, du wirst hinfallen, es wird sehr schmerzhaft sein. ABER du wirst wunderbare Menschen um dich haben, Freunde, die dich auffangen, dir helfen und dich für deine Offenheit schätzen. Verlier niemals den Blick dafür, was wirklich zählt und wer wichtig in deinem Leben ist.

Lerne, um Hilfe zu bitten, das ist keine Schwäche, sondern zeugt von Mut und Charakter. Du musst nicht glauben, immer alles alleine schaffen zu müssen, du kannst formulieren, dass du eine helfende Hand brauchst, und sei gewiss, dass du Menschen um dich haben wirst, die das selbstlos und aus Liebe und Wertschätzung zu dir tun werden.

Du musst dich nicht dafür schämen, welche Musik du gerne hörst und welche Klamotten du trägst. Jetzt, wo du gerade 15 bist, wirkt es vielleicht manchmal ›uncool‹, aber weißt du was, es wird diese Art von ›Vintage Revival‹ geben, und alles, was mal nicht ›in‹ war, wird richtig hip. Heb deine ganzen Sneakers auf, sie werden wieder gebraucht werden, und dann musst du nicht teure neue kaufen und sie auf alt stylen, sondern hast die Originale von damals. Ist vor allem in Berlin, wo du gerade bist, ein absoluter Hit.

Du kannst dir nicht ausmalen, wieviel Schönes da gerade noch auf dich zukommen wird. Genieß es, verkrampfe nicht, weil du denkst, du musst die Zeit anhalten, das geht nun mal leider nicht, aber tauche in alle Erlebnisse voll und ganz ein, ATME und lass dich fallen. 

Ich weiß, du brennst und lebst für Theater, bist so fasziniert von Spielern und dem Bühnengeschehen, und du hast grade Bilder von dieser ›Birgit Minichmayr‹ in deinem Zimmer hängen, während alle anderen Pop-Stars und Bands an ihren Wänden haben. 

Es wird eine Zeit kommen, wo diese wunderbare, faszinierende Schauspielerin in einem deiner Stücke sein wird und DIR sagt, wie toll sie dich findet. Du wirst völlig überfordert sein mit dieser Situation – GENIESSE es, das wird zu einem der tollsten Ereignisse überhaupt werden!!!

Stefanie Reinsperger wurde 1988 geboren. Sie absolvierte ihre Ausbildung am Max-Reinhardt-Seminar und ist heute Film- und Theaterschauspielerin.