Dabei ist gar nichts passiert
Wie 2.678 Flüchtlinge Steinhaus am Semmering verändert haben.
Der Refrain eines Liedes im Radio. So lange dauert es, im Auto durch Steinhaus am Semmering zu fahren, einmal von Ortsschild zu Ortsschild. Dazu muss man von der Schnellstraße S6 abfahren und beim lachsrosa gestrichenen Laufhaus scharf rechts einbiegen. Der Ort liegt ab vom Schuss, man erspäht ihn nur zufällig. Der Zug, dessen Rattern gelegentlich die Stille durchbricht, macht hier nicht halt. Steinhaus am Semmering, das ist ein Dorfgasthaus, ein Kindergarten, ein kleiner SPAR-Markt mit anschließendem Stüberl, umrahmt von viel Landschaft. In den hölzernen Schauboxen neben der Straße befestigen Stecknadeln die neuesten Aushänge der ÖVP, SPÖ, FPÖ, des Touristenvereins und Kameradschaftsbundes. Sie zeugen davon, dass die Welt hier noch in Kategorien zu passen scheint. Für die Steinhauser bringt die Abgeschiedenheit ihres Ortes viel Bewegungsfreiheit. Sie ist das, was sie unter Lebensqualität verstehen. Eine Qualität, die aus Sicht vieler von ihnen vor fünf Jahren, im September 2014, plötzlich beschnitten wurde.
Will man verstehen, was von der Flüchtlingsbewegung vor fünf Jahren bleibt, welche Spuren der Umgang Österreichs mit Asylwerbern vor Ort hinterlassen hat, dann lohnt ein Blick auf den Mikrokosmos Steinhaus, das zur Gemeinde Spital am Semmering gehört. Der Ort ist in vielen Aspekten die Regel: Eine von unzähligen österreichischen Gemeinden, in denen Asylwerber untergebracht sind. Er ist zugleich aber auch die Ausnahme, ein Extrembeispiel. Denn zwischen 2014 und 2018 haben insgesamt über zweieinhalbtausend Asylwerber in Steinhaus gelebt – während die einheimische Bevölkerung gerade einmal 600 Seelen zählt. Was macht das mit einem Ort?
Hertha Kahr sitzt im Stüberl des SPAR-Marktes im Ortszentrum von Steinhaus am Semmering. Es ist fünf Minuten nach elf, Zeit für den Mittagseinkauf. Heute braucht sie nicht viel. Nur ein Sack Vogelfutter wartet im Einkaufswagen darauf, nachhause gebracht zu werden. Ihre Hand umfasst einen Plastikbecher voll Automatenkaffee, spendiert von einer Verkäuferin. Hertha und Steinhaus – das ist etwas Langfristiges. In ihrem Elternhaus, in dem sie 1949 als Tochter des örtlichen Sägemeisters und einer Hausfrau geboren wird, lebt sie noch heute. In Steinhaus geht sie zur Schule, hier zieht sie ihre beiden Kinder groß, kellnert bis zur Pensionierung im Ortsgasthof. Anfang der 1980erJahre versorgt sie dort Flüchtlinge. Es sind 30 der insgesamt 33.000 Menschen aus Polen, die in Österreich zu dieser Zeit um Asyl ansuchen und nach einer Erstregistrierung in Traiskirchen vor allem in Gemeinden strukturschwacher Regionen verlegt werden. In Orte wie Steinhaus. ›Vor den Polen musstest du dich nicht fürchten‹, sagt die Steinhauserin heute. Als im Jahr 2014 erneut Flüchtlinge nach Steinhaus kommen, ändert sich für Hertha vieles. ›Die waren immer im Rudel unterwegs‹, sagt sie über die neuen Menschen in ihrem Ort, junge Männer aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak. Sie sieht sie auf der Bundesstraße spazieren, bei der einzigen Bushaltestelle von Steinhaus oder auf dem Spielplatz neben ihrem Haus. Hertha Kahr ist eine, die sagt: ›Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.‹ Schon kurz, nachdem die Asylwerber durch den Ort ziehen, beginnt sie, die Bushaltestelle zu meiden, lässt ihre Enkelkinder nicht mehr auf den Spielplatz, geht nachts nicht mehr alleine raus. Von einem Tag auf den anderen wird Herthas kleine, sichere Welt enger. Das alleine ist schon eine Zumutung, findet sie.
Der Bürgermeister beruft eine Bürgerversammlung ein. Heute wertet er das als Fehlentscheidung.
Die Entscheidung, die Herthas Welt verengt, ist eine ökonomische. Es ist eine Entscheidung, von der einige wenige profitieren werden und unter der der kleine Ort leiden wird. Thema dieser Entscheidung ist ein blassrosafarbener, dreitraktiger Gebäudekomplex, das ›Haus Semmering‹. Erbaut wurde es in den 60er-Jahren vom Gewerkschaftsbund für 30 Millionen Schilling, knapp zwei Millionen Euro. Auf 2.700 Quadratmetern verbauter Fläche wacht das ›Haus Semmering‹ auf einer Anhöhe über die Einfamilienhäuser und Gaststätten im Ort. Bahnschienen, auf denen täglich Züge zwischen Wien und Graz verkehren, bilden eine Trennlinie zum Ort Steinhaus. So imposant das ›Haus Semmering‹ von außen ist, so spartanisch ist die Einrichtung. Ein Zimmer, das ist ein Bett und ein Waschbecken. Zwei Zimmer teilen sich die Dusche am Gang. Die Gewerkschaftsmitglieder besuchen Seminare, gehen wandern oder zum Einkaufen hinunter in den Ort.
Dann kommt das Jahr 2006. Die Bawag-Krise trifft die Gewerkschaft hart, sie muss das Haus abstoßen. Es geht in die Hände einer slowakischen Investorin, die es renoviert und als Hotel betreibt. Mit 24.000 Nächtigungen pro Saison ist das ›Haus Semmering‹ ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für den Ort, das touristische Flaggschiff unter den kleinen Pensionen im Zentrum. Im Innenpool schwimmen zahlende Gäste. Es sind Menschen, von denen die Region wirtschaftlich profitiert. Menschen, die die angrenzenden Skilifte am Semmering benutzen, im Ort einkaufen, im Gasthaus zu Abend essen.
Bis zum September 2014, als die Eigentümerin das Haus Semmering an den Bund verpachtet. Es wird ab sofort als Asylunterkunft verwendet. Bis zu 250 Asylwerber können in ihm untergebracht werden. Von einem Tag auf den nächsten wohnen in einem Trakt Hotelgäste, in anderen Geflüchtete aus Afghanistan, Syrien und Somalia. Die einen schwimmen im von einer Mosaiksonne bewachten Swimmingpool und essen à la carte. Die anderen warten in Steinhaus auf die Nachricht, wie ihr Leben in Österreich weitergehen soll. Es ist eine absurde Situation, die nicht nur die Gäste, die im ›Haus Semmering‹ ihren Urlaub verbringen, überfordert.
Die Nachricht vom neuen Pächter trifft auch Reinhard Reisinger unvermittelt; als SPÖ-Bürgermeister von Spital am Semmering ist er auch für Steinhaus zuständig. Erst einen Tag, bevor die ersten Asylwerber ihre Betten im ›Haus Semmering‹ beziehen, erfährt er, dass sein Ort bald bis zu 200 weitere Menschen beherbergen wird. 141 Asylwerber beziehen im September ihre Betten, 110 davon Männer, sowie 23 Frauen und acht Kinder. Es sind Menschen, über die das ganze Land diskutiert. Im Landtag und am Stammtisch, bei Familienessen, in Foren und auf Social Media werden Fragen gestellt: Wo bringt man die Asylwerber unter? Was ist der Bevölkerung zumutbar? Wie kann das Zusammenleben funktionieren? Es ist die Zeit, in der eine Quotenregelung die Bundesländer in die Pflicht nehmen soll, Unterbringungen für Asylwerber zur Verfügung zu stellen. In Steinhaus leben zu diesem Zeitpunkt bereits 70 Asylwerber und Menschen mit Asylstatus in zwei landesbetreuten Herbergen. Es habe keine Schwierigkeiten gegeben, das Auskommen sei problemlos abgelaufen. Steinhaus habe seinen Teil geleistet, meint Reisinger. Nun sind die Bewohner seiner Gemeinde plötzlich mit Fragen konfrontiert: Welche Menschen sind das, die jetzt unter uns wohnen? Und: Warum muss ich Lebensqualität einbüßen, damit ein Asylwerber mehr davon bekommt?
Das Innenministerium verfügt auf Nachfrage über keine offizielle Kriminalitätsstatistik für den Ort.
Der Bürgermeister beruft für den Folgetag eine Bürgerversammlung ein. Heute, fünf Jahre später, wird er das als Fehlentscheidung einstufen. Denn die Versammlung ruft nicht nur Einwohner aus Steinhaus und den angrenzenden Gemeinden auf den Plan, sondern auch die Medien und Ortsfremde. Es sind Menschen, die Reisinger und andere Steinhauser der Identitären Bewegung Steiermark zuordnen. Solche, die Schimpfwörter und ›Ganz Österreich braucht keine Asylwerber‹ rufen. Am nächsten Tag hängen Banner aus schwarzem Stoff auf einem Brückengeländer gegenüber des Rathauses. ›Semmering wehrt sich‹, steht mit weißer Farbe darauf. Daneben prangt das Lambda, Symbol der Identitären Bewegung. Über die Bürgerversammlung wird in den Tageszeitungen zu lesen sein. Die Steinhauser, vorher in der öffentlichen Wahrnehmung inexistent, werden von einem Tag auf den anderen als ›Wut-Bürger‹ bekannt. ›Es tut mir heute noch weh, dass wir ins rechte Eck gerückt wurden‹, sagt Bürgermeister Reisinger heute.
Über fünf Jahre sind es insgesamt genau 2.678 Asylwerber, Menschen aus 17 verschiedenen Nationen, die in Steinhaus unterkommen. Sind es anfangs noch Familien, so leben ab der großen Fluchtbewegung in den Jahren 2015 und 2016 hauptsächlich UMFs, also unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hier. 213 Menschen sind es zur Zeit der Höchstbelegung, davon 163 aus Afghanistan. Seyed Mojtaba ist einer von ihnen. An einem heißen Nachmittag Ende August sitzt der 20-jährige Afghane in einem Café am Grazer Hauptbahnhof. Über dem Asphalt flimmert die Hitze, es hat knapp 30 Grad. Sein Wasserglas rührt Seyed nicht an. Er spricht schnell und hastig, als möchte er den Raum mit möglichst vielen Worten füllen. Kommt das Gespräch auf seine Flucht, wird er wortkarg. Seine Kindheit verbringt Seyed als afghanischer Flüchtling in der iranischen Hauptstadt Teheran, bis er 2013 in die Türkei aufbricht. Es folgen Griechenland, Mazedonien, Serbien, Ungarn und schließlich, im Sommer 2016: Österreich. ›Nach einem Jahr konnte ich nicht mehr weitergehen‹, sagt er heute. Ein Freund erzählt ihm, dass man in Österreich Chancen hat, Asyl zu bekommen.
Er will dem Bürgermeister nicht in den Rücken fallen, ›der Reinhard‹ habe es schon schwer genug.
Drei Wochen verbringt Seyed im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen, schläft unter freiem Himmel, ernährt sich von einer Semmel und einer Flasche Coca Cola am Tag. Am 24. Juni 2016 steigt er in einen Bus, der ihn von Traiskirchen nach Steinhaus am Semmering bringt. ›Das ist das Paradies‹, denkt er, als er das ›Haus Semmering‹ zum ersten Mal durch das Busfenster sieht. In Steinhaus bekommt Seyeds Leben Struktur. Er erinnert sich gerne daran zurück. An sein Zimmer, dessen Wände er mit Post-Its voller Deutschvokabel pflastert. An den Putzdienst, bei dem er beim Wäsche waschen oder Staubsaugen hilft und sich ein kleines Taschengeld dazuverdienen kann. Selbst an die Ausgangssperre, nach der er um zehn Uhr abends in seinem Zimmer sein muss. Manchmal ist Seyed im SPAR-Markt oder spaziert durch den Ort. Er würde gerne mit den Steinhausern reden, aber sein Deutsch ist noch schlecht. Seyed findet es schön in Steinhaus. Bleiben wird er dennoch nicht.
Für die Steinhauser, für Menschen wie Hertha Kahr, werden Asylwerber wie Seyed Mojtaba ein Teil des Rudels, ein Unsicherheitsfaktor. Im Alltag sehen sie sie, wenn sie in größeren Gruppen auf der Bundesstraße vom Supermarkt im Nachbarort zurück zum ›Haus Semmering‹ spazieren, an der Bushaltestelle warten oder am Spielplatz Fußball spielen. Im Ort fragt man sich: Wieso sind es nur junge Männer? Wo sind die Frauen, wo die Kinder, wo die älteren Menschen? ›Ich hatte Mitleid. Du weißt nie, was die Menschen erleben mussten. Aber meine Aufgabe ist es, meine Kinder zu schützen. Du weißt ja nicht, ob einer nicht in seinem Heimatland ein Verbrechen begangen hat‹, erzählt eine Mutter. Der Spielplatz ist für ihre Tochter ab sofort verboten, statt wie zuvor mit dem Bus bringt sie sie nun mit dem Auto in die Schule. Den Asylwerbern geht sie aus dem Weg. Kommunikation, ein Plausch beim Einkauf oder auf der Straße findet nicht statt. Ist es allgemeine Unsicherheit? Oder die Sprachbarriere? Vielleicht beides. Auch Hertha Kahr spricht nicht mit den Asylwerbern. Sie geht auch nicht zur Bürgerversammlung. Aber sie liest Zeitung. Darin stehen Geschichten über brennende Matratzen, Schlägereien mit Zaunlatten und Gabeln oder Drogenkonsum im ›Haus Semmering‹. Für die Einwohner sind diese Geschichten kleine Blitzlichter davon, was sich wenige Kilometer von ihren Haustüren entfernt abspielt. Sie fragen sich: Sind die Asylwerber eine Bedrohung?
Die konkreten Fälle nachzuprüfen ist nicht möglich. Die Polizei, die in der Zeit zwei Beamte für das ›Haus Semmering‹ abstellt, verweist auf das Ministerium. Das Innenministerium verfügt auf Nachfrage der Autorin über keine offizielle Kriminalitätsstatistik für Steinhaus am Semmering in den Jahren 2014 bis 2018. Aus der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage kann eine Momentaufnahme gezeichnet werden. Demnach kam es von September 2014 bis Juli 2016 zu 37 Polizeieinsätzen in Zusammenhang mit dem ›Haus Semmering‹. Es wurden 93 Verwaltungsübertretungen angezeigt und 61 Verdächtige beziehungsweise Beschuldigte ermittelt.
Spricht man mit den Betreuerinnen, die ihre Tage innerhalb der Mauern des Asylquartiers verbringen, relativiert sich das Bild der Asylwerber als Gefährder. Eine von ihnen, Natascha Ofner*, sagt heute: ›Alle, die dort gearbeitet haben, vermissen die Zeit.‹ Sie arbeitet zu jener Zeit im ›Haus Semmering‹, als vor allem unbegleitete Minderjährige dort untergebracht sind. ›Meine Burschen‹, nennt sie die jungen Männer aus Afghanistan, dem Irak oder Syrien. Sie weist Neuankömmlinge ein, gestaltet Billardturniere und Volleyballmatches, begleitet sie zu Arzt und Behörden. Manchmal muss sie ihnen erklären, dass man nicht auf den Bahngleisen oder der Schnellstraße spazieren gehen darf. Bei vielen jungen Männern sieht Ofner* parallel verlaufende Narben am Unterarm, Spuren von Selbstverletzungen, etwa mit Rasierklingen. Einige der UMFs nehmen die Betreuung der klinischen Psychologin in Anspruch, die acht Stunden täglich vor Ort ist. An schwerwiegende Probleme kann sie sich nicht erinnern, eher an kleine Raufereien, verlorene Gegenstände und Rauchmelder, die plötzlich anschlugen. Steinhauser kamen nicht in das Haus. Das Asylquartier sei eine abgeschlossene Zone gewesen, ähnlich einem Internat, in das ja auch keine Fremden kommen, sagt Natascha Ofner*. Sie könne die Bevölkerung schon verstehen, Steinhaus am Semmering sei in einer Ausnahmesituation gewesen. Doch alles in allem war das Haus Semmering immer ein Vorzeigequartier, sagt Ofner*.
Kein Asylwerber wird eine Lehre im Tourismus machen, seine Kinder in den Ortskindergarten schicken.
›Ich darf nicht darüber reden, was passiert ist. Dabei ist gar nichts passiert‹, sagt auch Viktoria Fidler, ehemalige Praktikantin im ›Haus Semmering‹. In ihrem Vertrag ist eine Schweigevereinbarung integriert. Aber sie spricht über den Tag, an dem ihr Engagement für Asylwerber beginnt. An einem Sommernachmittag im Jahr 2015 fährt sie mit ihrem Fahrrad an einer Siedlung vorbei, in der Asylwerber wohnen, als sie ein junger Mann anspricht. ›Der will mich ausrauben‹, denkt Viktoria Fidler und tritt stärker in die Pedale. Minuten später schämt sie sich für ihre Gedanken. So will sie nicht sein. Sie bewirbt sich für das Praktikum und gründet eine Initiative, mit der sie sich, gemeinsam mit einer Handvoll anderer junger Leute, für die Integration von Asylwerbern in der Region engagiert. In den folgenden Jahren organisiert sie Fahrräder, Besteck und Kinderbettchen, veranstaltet Spielenachmittage und Begegnungscafés. In ihrer Freizeit begleitet sie Menschen zu Behördengängen oder zum Arzt. Im ›Haus Semmering‹ zeigt sich die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung vor allem durch Kleiderspenden. Die Betreuer lassen den Swimmingpool aus. Rasch füllt er sich mit Pullovern, Hosen und Schuhen bis zu dem Punkt, an dem Kleiderspenden abgewiesen werden müssen. Dann brechen die Spenden ab, es kommt keine Kleidung mehr. Auch Viktoria Fidler erzählt von Hilfsbereitschaft, sie nennt es einen Hype, der plötzlich endet. Sind es im Jahr 2015 noch eine Handvoll Menschen, die sich bei ihrer Initiative engagieren, wird es vor allem nach den Übergriffen in Köln in der Silvesternacht 2015 /16 immer schwerer, Helfer zu finden. Die Menschen waren verunsichert, hatten Angst, sagt Viktoria Fidler heute im Rückblick.
Die Antwort auf die Frage, ob Asylwerber eine Bedrohung für den Ort waren, hängt vom Blickwinkel ab. Klar ist: Für die Politik sind die Asylwerber und die Unsicherheit der Bevölkerung im Umgang mit ihnen ein Faktor, der Wahlerfolge bringen kann. Die FPÖ macht das ›Haus Semmering‹ zum Thema, stellt parlamentarische Anfragen im Landtag. Die vorwurfsvolle Frage: Warum ist das Haus noch nicht geschlossen? In seiner Gemeinde muss Bürgermeister Reisinger immer öfter erklären, dass das Land bei Verträgen, die der Bund abschließt, nicht eingreifen kann. ›Das war eine Strategie, um das Thema auf die politische Agenda zu holen‹, konstatiert Siegfried Schrittwieser heute. Der Sozialdemokrat war als steirischer Landesrat im Jahr 2014 und 2015, der Hochzeit der Diskussion rund um das ›Haus Semmering‹, auch mit der Asylagenda betraut. Im Landtag hat er viele parlamentarische Anfragen der FPÖ beantwortet. ›Was die FPÖ gemacht hat, war Hetze. Damit haben sie bundes- und landesweit Wahlen gewonnen‹, resümiert er trocken.
Das Wort Hetze nimmt Richard Pink nicht in den Mund. Der ehemalige FPÖ-Gemeinderat sitzt im Ortsgasthof von Steinhaus, vor sich auf einem Puntigamer-Untersetzer ein Bier. Er hat von der Bergsonne gebräunte Haut. Seinen Lodenjanker lässt er trotz Wirtshauswärme an. Pink spricht sonor, nicht wie jemand, der populistische Reden schwingt. Er sagt: ›Wir hatten in Steinhaus seit 20 Jahren immer Asylwerber. Wir hatten nie Probleme. Das war nie Thema in der Gemeinde und es hat auch kaum jemand zur Kenntnis genommen.‹ Richard Pink ist kein Radikaler, sondern ein loyaler Mensch, der zu seiner Gesinnung steht – so sagt er selbst. Auf Gemeindeebene will er dem Bürgermeister nicht in den Rücken fallen, ›der Reinhard‹ habe es schon schwer genug gehabt. Aber auch in den Aussendungen der Steinhauser FPÖ ist das ›Haus Semmering‹ Thema. Von den Ergebnissen der Nationalrats-, Landtags- und Gemeinderatswahlen ist Pink heute noch überrascht. Besonders bei den ersten Wahlen nach der Eröffnung des Heimes kann die FPÖ in Steinhaus Erfolge einsammeln. Bei der Gemeinderatswahl 2015 gewinnen die Freiheitlichen neun Prozentpunkte dazu, bei der steirischen Landtagswahl ist es ein Plus von 19 Prozentpunkten. Bei der Nationalratswahl im Jahr 2017 wählen knapp 36 Prozent der Steinhauser blau, die FPÖ ist somit stärkste Kraft. ›Das war einfach gigantisch‹, sagt Richard Pink heute.
Am 31. Oktober 2018 verkündet der damalige Innenminister Herbert Kickl die vorläufige Verlegung aller Asylwerber vom ›Haus Semmering‹ in landesbetreute Quartiere, im Dezember wird der letzte Asylwerber überstellt. Weder Seyed noch die anderen werden in der Region Oberes Mürztal, geschweige denn in Steinhaus bleiben. Niemand wird eine Lehre im Tourismus oder der Gastronomie machen, Arbeit finden, seine Kinder in den Ortskindergarten schicken. Das war allerdings auch nie geplant. Denn das ›Haus Semmering‹ ist als Transitquartier nur eine Bleibe auf Zeit. Eine Art Schleuse, in der Asylwerber wenige Tage, Wochen oder Monate verbringen, bevor ihr Antrag auf Asyl entschieden wird und sie entweder abgeschoben oder in landesbetreute Quartiere verlegt werden. Seyed Mojtaba wohnt heute in einer kleinen Wohnung in Graz. Er hat einen Freundeskreis, macht eine Lehre als Zerspanungstechniker bei einem Industriekonzern. Die Fußballschuhe, die er aus dem Pool im ›Haus Semmering‹ gefischt hat, trägt er, wenn er für den Gebietsligisten Gratwein-Straßengel über den Rasen läuft. All das, so Seyed, wäre in Steinhaus nicht möglich gewesen.
Die Asylwerber sind heute weg. Durch Steinhaus am Semmering spazieren keine fremden Männer mehr. Wenn Hertha Kahr heute zum SPAR-Markt geht oder zur Bushaltestelle, um in den Nachbarort zu fahren, sieht sie keine unbekannten Gesichter mehr auf der Straße. Es scheint wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Welche Lektionen haben die Menschen gezogen? ›Vor allem eine Sache. Große Einheiten für 200 Menschen in einem Ort, der so klein ist wie unserer, das ist einfach nicht das Richtige‹, sagt Bürgermeister Reisinger. Was er heute anders machen würde? ›Keine Medien mehr‹, sagt Reisinger bestimmt. Eine Bürgerversammlung wie im Sommer 2014 wird er nicht wieder abhalten. Er würde die Angelegenheit im Ort abhandeln, auf Hausbesuche und Aussendungen setzen. Die Austragung auf medialer Ebene hat ihm und seiner Gemeinde vor allem Verunsicherung und schlechte Schlagzeilen gebracht.
Und die Betreuerinnen Natascha Ofner* und Viktoria Fidler? Sie sprechen von einer persönlich bereichernden Zeit im ›Haus Semmering‹. Viktoria hat sie ihren weiteren Berufsweg vorskizziert – sie studiert jetzt Inklusionspädagogik auf Lehramt. Für Natascha Ofner* hat sich der Ort ihres Engagements geändert, sie arbeitet aber weiter mit jungen Menschen, als Betreuerin in einem Heim für Berufsschüler. Ihr Resümee: ›Es macht keinen Unterschied, ob du 200 minderjährige Flüchtlinge oder 200 österreichische Jugendliche betreust, es tauchen dieselben Probleme auf.‹ Auch die Steinhauser Bevölkerung würde heute bestimmt anders reagieren, glaubt Richard Pink. ›Weil es eigentlich nicht so schlimm war, wie man es sich vorgestellt hat. Es ist nicht so viel passiert, kein Totschlag. Da muss man auch ehrlich sein‹, sagt er heute, fünf Jahre nachdem die Nachricht von der Öffnung des Asylquartiers den Ort erreichte. Richard Pink beschäftigt heute etwas anderes.
Denn dem Ort Steinhaus am Semmering bleibt von der Geschichte dreierlei: Der Ruf als ausländerfeindliche Gemeinde, der Verlust von 24.000 Nächtigungen im Jahr und ein massiver Gebäudekomplex, ausgestattet mit ausreichender Infrastruktur, um hunderte Menschen zu beherbergen, der jetzt leer steht. Wie im Dornröschenschlaf thront das ehemalige Gewerkschaftsheim und Hotel über dem Ort, ein Mahnmal hastig getroffener politischer Entscheidungen. Im mosaikbewachten Pool – in dem einst Hotelgäste ihre Längen schwammen und sich dann Kleiderspenden stapelten – scheinen heute, akkurat aufgetürmt, hölzerne Schreibtische und Stühle auf ihren baldigen Einsatz zu warten. Das Haus dem Verfall preiszugeben, kein Wasser mehr durch die Leitungen zu lassen, sei eine Schande, meinen die Steinhauser. Aus dem Innenministerium heißt es aber, man könne das Haus als Vorsorgekapazität nutzen, für den Fall einer erneuten starken Fluchtbewegung nach Österreich, wie in den Jahren 2014 und 2015.
Aber das ›Haus Semmering‹ hat auch Konsequenzen für den österreichischen Steuerzahler. Denn der Pachtvertrag, der im September 2014 abgeschlossen wurde, hat eine Laufzeit von 15 Jahren. Bis Ende des Jahres 2029 überweist der Bund deshalb einen Mietzins von 45.000 Euro im Monat an die slowakische Besitzerin des Hauses. Der Vorschlag von Bürgermeister Reisinger, es als Zentrum für die Grundausbildung von Polizeischülern zu nutzen, wurde abgelehnt. Die Begründung: Um in Steinhaus am Semmering Polizeischüler einzuquartieren, liege der Ort einfach zu weit ab vom Schuss. •
* Name von der Redaktion geändert
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