Das Selbst im Anderen
Warum Nan Goldin seit Jahrzehnten Menschen in ihrer direkten Umgebung fotografiert.
Den Arm in die Hüfte gestützt und den anderen hinter den Rücken gelegt: Entspannt blickt die Person im weißen Kleid frontal in die Kamera – zugewandt und voller Offenheit. Schon immer fotografiert Nan Goldin Menschen in ihrer direkten Umgebung. Sie verbringt Zeit mit ihnen, teilt Emotionen – es entsteht Freundschaft. Diese Unmittelbarkeit des Selbst im anderen zeigt sie an vielen unterschiedlichen Stellen.
Die ersten Fotografien des Projekts ›The Other Side‹, das erstmals 1993 in Buchform veröffentlicht wurde, stammen aus den 1970er-Jahren, als Goldin in Boston mit einer Gruppe von Drag Queens lebt und deren Glamour und Verletzlichkeit dokumentiert. In den frühen 80er-Jahren dokumentiert Goldin das Leben von Transgender-Freunden in New York, als AIDS radikal ihre Gemeinschaft zu dezimieren beginnt. Intime, von Zärtlichkeit durchdrungene Porträts von einigen ihrer liebsten Freunde. ›The Other Side‹ beleuchtet heute, wie sich der Diskurs über Geschlecht und sexuelle Orientierung weiterentwickelt. Es ist ihre Hommage an die Königinnen, die sie in den letzten vier Jahrzehnten geliebt und von denen sie viele verloren hat.
Die Bildkompositionen, das spezielle Licht und die Farben sind es, die ein Bild von Goldin zu einem anderen Bild machen. Und wie kann man dieses Licht besser fassen als in einer Projektion und in einem abgedunkelten Raum? Durch die ausschließliche Konzentration auf Diashows und Videoinstallationen in ihrer aktuellen Retrospektive ›This Will Not End Well‹ folgt sie der Vision, wie ihr Werk erlebt werden sollte: Alle Bilder haben das gleiche Format auf schwarzem Hintergrund, sind in einer Reihenfolge und häufig mit Sound begleitet.
Ich habe mich immer wieder gefragt, was die Bildsprache von Goldin so unverwechselbar, einzigartig und besonders macht. Vielleicht ist es diese Mischung aus empathischer Nähe zum Gegenüber und dem Spiel aus Licht und Farbe, die Nan Goldin aktuell und zu einer der bedeutendsten Stimmen des 21. Jahrhunderts macht. •
Nan Goldin (*1953, Washington, D.C./USA) ist seit den 1980er-Jahren eine der weltweit renommiertesten Künstlerinnen, die mit Fotografie arbeiten. Als Aktivistin hat sie in den letzten Jahren einen bedeutenden Beitrag zur Hinterfragung ökonomischer Mechanismen besonders im Hinblick auf die Pharmaindustrie geleistet (siehe den Film ›All the Beauty and the Bloodshed‹, 2022).
Im Herbst 2024 eröffnet ihre große Retrospektive (nach dem Moderna Museet in Stockholm) in der Neuen Nationalgalerie, Berlin. Die oben genannten Bücher, erschienen im Steidl Verlag, sind bereits jetzt Sammelobjekte.
* Felix Hoffmann leitet das Foto -Arsenal Wien, Österreichs neues Zentrum für fotografische Bilder und ›Lens Based Media‹. Mehr Informationen: www.fotoarsenalwien.at