Schenken Sie ein Jahr Lesefreude! Mit dem DATUM-Weihnachtsabo.

Das Sofa gegen die Straße tauschen

Über den Schutz der kritischen Infrastruktur Demokratie.

DATUM Ausgabe März 2017

Auf der Münchener Sicherheitskonferenz horchte ich auf, als die deutsche Innenstaatssekretärin Emily Haber sagte: ›Die Demokratie ist Teil unserer kritischen Infrastrukturen.‹ Zur Erläuterung: Kritische Infrastrukturen nennt man Institutionen und Einrichtungen mit großer Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden. Beispiele sind Energie- und Wasserversorgung, aber auch Regierung, Parlament und Justiz.

Habers Satz ist eine Erinnerung an Staatenlenker, ihren Wahlauftrag zu kennen und zu schützen, was es zu schützen gilt. Umgekehrt geht es auch darum, Bürgerinnen und Bürger – den Souverän also – als aktive Hersteller und Hüter der kritischen Infrastruktur eines staatlichen oder supranationalen Gemeinwesens zu begreifen.

Regierungen werden die Europäische Union nicht im Alleingang retten, verbessern oder gar weiterentwickeln. Der erste Bündnispartner einer demokratischen Regierung sind nicht andere Staaten; es sind wir. In der heutigen Lage heißt das, wir sollten laut sagen, was wir schützen möchten und geschützt haben möchten. Wir könnten uns zum Beispiel gemeinsam mit den Nachbarn vom Sofa auf die Straße begeben.

Tatsächlich sind in den vergangenen Wochen hunderttausende Europäer verschiedenster Berufe und Lebenshintergründe für europäische Werte, Errungenschaften und Ziele auf die Straße gegangen. Ende März werden es beim ›Marsch für Europa‹ noch einmal so viele sein. Aus Bukarest überraschten uns die Großdemonstrationen gegen Korruption und schlechte Regierungsführung.

In Barcelona wälzte sich an einem Sonntag Ende Februar eine ›marea azul‹ (Blaue Flut) von mehreren hunderttausenden Menschen durch die Straßen, um sich für die Rechte geflüchteter Menschen einzusetzen. Es ging um drei Ziele: die Forderung an Madrid und Brüssel nach Mechanismen für die Aufnahme. Die Unterstützung derer zu sichern, die schon angekommen sind. Und der ›fremdenfeindlichen Welle‹ zu begegnen, die derzeit durch Europa spüle. Bepackt waren die Demonstranten mit blauen Spruchbändern, Schildern und katalanischen Fahnen. ›Keine Toten mehr‹ und ›Nicht Wohltätigkeit, sondern Solidarität‹ stand darauf. An der überparteilichen Initiative haben sich auch die Bürgermeisterin Barcelonas und die Präsidentin des katalanischen Parlaments beteiligt.

Von Berlin bis Frankfurt und von Amsterdam bis Edinburgh sind zuletzt tausende Frauen, Männer und Kinder erstmals in ihrem Leben zu einer Kundgebung gegangen – zu ›Pulse of Europe‹. Begonnen hat alles mit einer einzigen Handlung. Sabine und Daniel Röder aus Frankfurt verschickten Anfang des Jahres E-Mails an Freunde: ›An der rasanten Radikalisierung des politischen Lebens wirkt vieles bedrohlich. Wir wollen einen Beitrag dazu leisten, dass es auch danach noch ein vereintes, demokratisches Europa gibt. Wir sind nicht gegen etwas, sondern für etwas. Es ist nicht die Zeit der Proteste. Es ist Zeit, für die Grundlagen unserer Wertegemeinschaft im positiven Sinne einzustehen.‹ Tage später versammelten sich unter dem Titel ›Pulse of Europe‹ normale, teils unpolitische Leute mit wenig Protesterfahrung. Man demonstriert jeden Sonntag um 14 Uhr in der eigenen Stadt. Die Grundausstattung für Nachahmer: Europaflagge, Beethovens ›Ode an die Freude‹ sowie ein offenes Mikro.