Der große Umzug

Einmal im Monat übersiedelt das EU-Parlament von Brüssel nach Straßburg. Muss das sein?

·
Fotografie:
Christoph Platzer
DATUM Ausgabe Mai 2019

Im imposanten Glaskubus am flachen Ufer der Ill reflektieren sich die ersten Strahlen der kühlen Märzsonne. Die Äste der kargen Bäume vor den meterhohen Glaswänden zieren weiße Blüten. Die morgendliche Ruhe in der Avenue du Président Robert Schuman stört nur ein Mann in Flanellhemd und Jeans, der soeben aus dem Gebäude tritt. Er öffnet die Laderampe eines LKWs, in dem ein Meer aus bunten Plastikkisten zum Vorschein kommt. Festgezurrt, in Reih und Glied geordnet, türmen sie sich aufeinander. Der Mann zieht einen Stapel von der Rampe, durch den Ruck baumelt auf seinem Hinterkopf ein schwarzer Pferdeschwanz. Dann verschwindet er in dem Gebäude, aus dem er kam. Vor dem Europäischen Parlament in Straßburg wird soeben einer der acht LKWs entladen, die seit dem Vortag 2.500 dieser Kunststoffboxen transportieren. 30 kg schwere Dokumente befinden sich in jeder von ihnen. Vor 450 Kilometer weit entfernten Bürotüren platziert und abgeholt, sind die Kisten nun Vorboten einer ritualisierten Invasion, deren erster Akt an diesem Morgen erneut beginnt.

Wenn einmal im Monat Tausende Menschen nach Straßburg reisen, verwandeln sich menschenleere Gebäude am Quai du Bassin de l’Ill in hektische Zentren der Macht. Die Ankunft der bunten Kunststoffboxen bedeutet, dass es wieder so weit ist. Bald wird eine Welle aus 751 Abgeordneten, Assistenten, Journalisten, Pressesprechern, Übersetzern und Chauffeuren die pittoreske Fachwerkstadt überschwemmen – denn die Plenarwoche des EU-Parlaments steht bevor. Über 8.000 Menschen reisen bis Montagabend an. Die Farbe der Box vor ihrer Bürotür verweist auf das Gebäude in Brüssel, aus dem sie stammen. Nur vier Tage wird ihre Invasion dauern. Sie werden debattieren und votieren, Pinot Blanc trinken und Sauerkraut essen, in den gleichen Lokalen, in denen sie es im Vormonat getan haben. Vier Wochen später werden sie kommen und dasselbe wieder tun. Denn so steht es im EU-Vertrag, der das Pendeln seit 1997 juristisch festschreibt: Im Vertrag von Amsterdam bestimmen die EU-Staaten Straßburg als Parlamentssitz. Das EU-Parlament ist seither verpflichtet, hier jährlich zwölf ordentliche Plenartagungen abzuhalten. Die restliche parlamentarische Arbeit findet in Brüssel statt. Circa 115 Millionen Euro kostet das Pendeln jährlich, rund 20.ooo Tonnen CO2 werden dabei emittiert. Der institutionalisierte ›Shuttleparlamentarismus‹ wird schon lange kritisiert. Seit 2006 fordern Abgeordnete mit der ›Single Seat‹-Initiative die Auflösung eines der beiden Standorte. Die Mehrheit (etwa 80 Prozent) spricht sich für den siège unique in Brüssel aus. Die Debatte finden viele so alt wie das Parlament selbst – und deshalb irrelevant. Vier Wochen vor der EU-Wahl könnte sich das aber ändern.

Eine junge Frau lehnt an der Balustrade der Besuchertribüne im leeren Plenarsaal. Sie reckt einen Kalender empor. ›Heute ist der Plenarsaal komplett leer‹, sagt sie zu der deutschen Besuchergruppe. Sie ist Visitors’ Guide. ›Das ist nicht nur so, weil Samstag ist.‹ Mit einem Finger zeigt sie auf bunte Kästchen auf dem Kalenderblatt. ›Nur in den roten Wochen kommen sie. Das leere Gebäude wird dann zur kleinen Stadt.‹ Abseits der ›roten‹ finden in ›beigen‹ und ›grünen‹ Wochen Ausschuss- und Fraktionssitzungen in Brüssel statt. In dieser Zeit stehen die nach Václav Havel, Pierre Pflimlin, Winston Churchill und Louise Weiss benannten Gebäude fast völlig leer. Nur rund hundert Personen von Security, Kantine, Instandhaltung und Verbindungsbüro arbeiten fix in Straßburg. ›Euro­scola‹, die Schüler aus ganz Europa einlädt, Touristen und verschiedene Events füllen das Gebäude dann und wann. Sonst sind die Bars am tapis fleuri, dem bunten Teppich im Erdgeschoss, geschlossen, der Fitnessraum unbenutzt. In der Kantine öffnet nur eine anstatt sieben Kassen, die Tische sind spärlich besetzt. Damit sich der Betrieb rentiert, mischen sich zum Essen unter die wenigen Angestellten auch Mitarbeiter des Europarats. Trotz gähnender Leere müssen die Gebäude geheizt und belichtet, ihre Fenster geputzt und der Rasen gemäht werden. Da strikte Sicherheitsvorkehrungen den Zugang im Ernstfall verzögern, gibt es einen eigenen Feuerwehr- und Rettungsdienst. Um Strom zu sparen, schalten sich in den Büros um 18 Uhr die Telefone ab, die Lampen werden gedimmt, um 20 Uhr fahren die PCs herunter. Vor jeder Plenarwoche untersuchen Spürhunde jeden Sitz im Plenarsaal nach Sprengstoff. Um Verschmutzungen zu vermeiden, werden sämtliche Wasserhähne auf- und wieder abgedreht. Weil kaum geheizt wird, ist es im Winter oft so kalt und zugig, dass eine dicke Jacke zur Grundausstattung der Mitarbeiter gehört. Doch nicht nur sie finden das überaus unangenehm. Der Leerstand kostet Geld. 2014 schätzte der Europäische Rechnungshof das jährliche Einsparungspotenzial auf 109 Millionen Euro. Durch den reduzierten Reiseaufwand von Kommission und Rat könnte man jährlich weitere fünf Millionen einsparen.

Wenn einmal im Monat Tausende Menschen nach Straßburg reisen, verwandeln sich menschenleere Gebäude am Quai du Bassin de l’Ill in hektische Zentren der Macht.

Wie es zum Pendeln kam, erhellt sich aus der Geschichte: 1952 gründete sich die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), aus der 1992 die EU entstand. Deren Sitz befand sich zunächst in Luxemburg. Der Europarat hingegen tagt seit 1949 in Straßburg. Da die EGKS Platz für ihre Delegierten benötigte, stellte der Europarat seinen Plenarsaal zur Verfügung. 1997 wurde Straßburg als offizieller Sitz des EU-Parlaments im Amsterdam-Vertrag fixiert. In der Zwischenzeit verschob sich das Institutionengefüge aber maßgeblich: Kommission und Rat rückten Brüssel in den Fokus, wo heute 90 Prozent der parlamentarischen Arbeit passieren. In Ausnahmefällen gibt es auch dort ›kleine‹ Plenarwochen (Mini-Séssions). Dennoch stampfte man 1999 um 500 Millionen Euro das futuristische Gebäude aus der grünen Wiese des Straßburger Messegeländes. Neben Brüssel und Straßburg hat das Parlament zudem noch einen dritten Sitz: In Luxemburg sitzt die Verwaltung. Um die enorme Bürokratie zu stemmen, pendeln Post-Shuttles zwischen den drei Städten hin und her. Bestrebungen, den Sitz in Straßburg aufzugeben, scheitern bislang am Veto Frankreichs im EU-Rat. Seit nunmehr 20 Jahren reisen die Parlamentarier monatlich ans Ill-Ufer. Und seit 20 Jahren ist die Diskussion darüber vor allem eine um Symbol- und Realpolitik, hohe Kosten, geringen Nutzen und das sich verändernde Selbstverständnis der Abgeordneten. 

Im Innenhof des Louise-Weiss-Gebäudes, der sogenannten Agorá, ist das Rollen kleiner Kofferräder zu hören. Es ist Montag in der elsässischen Metropole, 13 Uhr 30. Eine weitere jener ›roten Wochen‹ beginnt. Die ersten Abgeordneten passieren die Sicherheitsschleuse am Haupteingang, auch Journalisten und Dolmetscher sind darunter. Sie ziehen ihre Trolleys durch die eisigkalte Zugluft, ohne dabei für Selfies zu posieren, wie die Touristen, an denen sie vorbeihuschen. Der erste Termin der neuen Woche wartet: Parlamentssprecher Jaume Duch Guillot lädt zum traditionellen Pressebriefing. Die ›intensivste Plenarwoche der Legislaturperiode‹ steht bevor. Tatsächlich ist der Papierbogen der Tagesordnung so dick wie nie. Copyright und Brexit dominieren die Agenda. Ein schrilles Klingeln läutet um 17 Uhr die Debatte ein.

Streng genommen ist die Plenarwoche keine Woche, sie dauert nur dreieinhalb Tage: Von Montagmittag bis Donnerstagnachmittag. Das bedeutet auch abseits von Brexit und Copyright enormen Zeitdruck. Um Kosten zu sparen, wurde sie in den Nullerjahren verkürzt. Damals schon dabei war Thomas Mayer. Seit 1994 ist der Standard-Mitbegründer als Korrespondent in Brüssel tätig, nach einer kurzen Rückkehr nach Wien schreibt er seit 2009 wieder von dort aus. Heute seien MEPs ›zugepflastert mit Tagesordnungspunkten, Sitzungen und Lobbyterminen‹, sagt der 56-Jährige. Dienstags, mittwochs und donnerstags wird abgestimmt, zwischen 12 und 14 Uhr. Nur dann ist der Plenarsaal restlos gefüllt, sonst stehen Interviews und Sitzungen an. Nicht nur Boulevardmedien, auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gibt dieser Umstand immer wieder Anlass für Kritik. Die Leere im Plenarsaal, auch bei Besuchen von Staats- und Regierungschefs, sei wegen der Termindichte aber nicht verwunderlich, sagt Mayer. In den 1990er-Jahren dauerte die Woche noch bis Freitag. ›Da war Brüssel zu. Da war kein Kommissar, kein Journalist, wir waren alle hier.‹ Heute sei alles gedrängter, gehetzter. 

Straßburg hat etwas von ›Wir sind alle Internatsschüler und schreiben jetzt gemeinsam die Matura‹, sagt SPÖ-Delegationsleiterin Evelyn Regner. Der erste Blick in ihr Büro überrascht. Nicht mehr als zwölf Quadratmeter teilt sich die SPÖ-Delegationsleiterin mit Assistentin, Pressesprecher und Praktikant. Aus der Wand lassen sich ein kleiner Tisch und eine Couch ausklappen, auf deren rubinrotem Samt der Praktikant in seinen Laptop tippt. ›Ich wollte, dass Sie mal sehen, wie wir hier so arbeiten‹. Das winzige Büro erinnert an ein Studentenwohnheim, Regner nennt es ironisch ›Internat‹. Es stammt aus einer Zeit, in der MEPs allein nach Straßburg reisten. Auf dem Wandregal findet sich dennoch Platz für Deko: Ein S&D-Kaffeehäferl steht neben einem Würfel mit Andreaskreuz – ein Relikt aus der ÖGB-Zeit. Dauernd klopft es an der Tür. Regners Blicke wandern immer wieder zum Flatscreen an der Wand, der die Debatte im Plenum überträgt. Sie wirkt gestresst. ›Das ist Straßburg‹, sagt sie. Straßburg sei Hochdruck, rund um die Uhr. Straßburg sei Bergwerk. ›Wir gehen in der Früh hinein und kippen abends heraus. Dann trinken wir vielleicht noch ein Bier, weil wir so erschöpft sind.‹ 

Zum Feierabendbier zu kommen ist aber gar nicht so leicht. ›Arte‹, Menschenrechtsgerichtshof und Europarat umgeben das Parlament, außer einem Eisstand am Parc de l’Orangerie hat das von Botschaftervillen geprägte Grätzel kaum Lokale zu bieten. Wer abends etwas essen will, fährt ins Zentrum. Eine Taxi-Kolonne wartet dann schon in der Allée Spach – und die Welle aus 8.000 Menschen schwappt in die Weinstuben und Brasseries der Innenstadt-Insel. ›Früher gab es im »Strissel« den deutschen Stammtisch‹, sagt Mayer. ›Da waren 30 deutsche Journalisten und wir wenigen Ösis, da konnte man viel hören und mitbekommen.‹ ›Zuem Strissel‹ und ›Au Pont Corbeau‹ seien nach wie vor traditionelle Journalisten-Lokale, den Stammtisch von früher gebe es aber nicht mehr. Plenarsitzung in Straßburg, das erinnert aber auch heute an Landschulwoche und Firmenausflug. Gedrängt auf engstem Raum werden hier Menschen, die sich in den Weiten Brüssels sonst verlieren, immer wieder zusammengewürfelt. ›Egal, in welches Restaurant man geht‹, sagt Regner, ›wir kleben hier viel mehr zusammen.‹ 

Fürs Afterworken beliebt ist das ›Les Aviateurs‹ in der Rue des Sœurs. Die rote Leuchtschrift über dem Eingang deutet an, was sich hier zu Plenarzeiten abspielt: Dienstagabend ist Coyote Ugly Night. Doch nicht nur tanzende Frauen am vom Alkohol getränkten Tresen locken die Parlamentarier. Man knüpft Kontakte und führt Gespräche – in einer ›familiären‹ Atmosphäre. Auch deshalb gibt sich der Türsteher beim Reingehen skeptisch: ›Arbeiten Sie auch im Parlament?‹ Diese Unmittelbarkeit war zumindest für die Karriere von Mimi von Vorteil. Ihre ersten beruflichen Erfahrungen machte die heutige FIFA-Übersetzerin als Trainee im EU-Parlament. ›Wenn du ein Praktikum wolltest, bist du ins »Aviateurs« gegangen.‹ Hier auf MEPs zu treffen ist sehr wahrscheinlich, wo sie neben Journalisten und Studenten an der Bar lehnen. Nicht selten sind es ältere Herren, die jüngere Frauen betrachten, die auch mal auf den Tischen tanzen. Ein Hauch Après-Ski in Slim-Fit-Anzug und Kostüm, mit beruflichem Aufstiegspotenzial. An der Bar gibt man sich überrascht, will man als Frau den Drink selbst bestellen – und vor allem zahlen: ›Sind Sie sicher?‹ fragt der Barkeeper. Die lange Schlange vor der Tür beweist: Das Konzept stimmt – ist aber von nicht allzu langer Dauer. Verschwinden die Parlamentarier aus der Stadt, verschwindet auch die Schlange vor der Tür.

Wie stark die Stadt jedoch vom zyklischen Wiedergang der Parlamentarier profitiert, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2010. Zusammen mit Menschenrechtsgerichtshof und Europarat bringt das EU-Parlament der Stadt einen jährlichen ökonomischen Mehrwert von 637 Millionen Euro. 11.200 Arbeitsplätze hängen davon ab, Restaurants und Bars erwirtschaften 30 Prozent ihres Umsatzes damit. Viele Hotelzimmer sind über die gesamte Legislaturperiode vorreserviert, während der Plenarwoche kosten die wenigen freien bis zu 40 Prozent mehr. Die Überlastung nimmt teils bizarre Formen an: Da sie kein Zimmer fand, hauste eine Abgeordnete in ihren ersten Monaten am Port du Rhin – zwischen Hafenarbeitern und Frachtern. Die monatliche Invasion bringt auch so manche Probleme mit sich.

›Jedes Arbeitsinspektorat würde sagen, das geht nicht‹, sagt auch FPÖ-Spitzenkandidat Harald Vilimsky. Deshalb ist er, anders als Viktor Orbán oder Luigi di Maio, für den ›Single Seat‹ in Brüssel. Dort sei ›die Logistik besser und die Büros auf einen dauerhaften Betrieb ausgerichtet‹. Doch nicht nur der chronische Platzmangel verstimmt. Auch die schlechte Erreichbarkeit wird kritisiert. Am Aéroport International verkehren täglich nur so viele Flüge wie in Salzburg. Für die Plenarwoche gibt es aus Brüssel einen meist überbuchten Charter-Flug, viele reisen mit dem TGV über Paris. Aus Wien gibt es keinen Direktflug, der schnellste Weg führt über Frankfurt oder Basel. Beliebt ist auch das Auto, wie bei Vilimsky, der am Montag um fünf Uhr früh von Wien nach Straßburg fährt.

Die klare Mehrheit der MEPs sieht im Pendeln Verschwendung und Schikane. Aus dem wachsenden Widerstand gründete sich unter dem Briten Edward McMillan-Scott (EVP) in den 2000er-Jahren die ›Single Seat‹-Initiative, an deren Spitze heute die Schwedin Anna Maria Corazza Bildt (EVP) steht. Die städtischen Bemühungen seien zwar beachtenswert, kämen aber zu spät, sagt Ulrike Lunacek. Als Abgeordnete und Vizepräsidentin des EU-Parlaments engagierte sich die frühere grüne Nationalratsabgeordnete zwischen 2009 und 2017 ebenfalls gegen das Pendeln. Auch heute findet sie dafür klare Worte: ›Das ist einfach eine Frechheit.‹ 

Zusammen mit Menschenrechtsgerichtshof und Europarat bringt das EU-Parlament der Stadt Straßburg einen jährlichen ökonomischen Mehrwert von 637 Millionen Euro.

Dienstagvormittag, 10 Uhr. In der Press Bar sitzen Journalisten bei Café crème und Croissant – die österreichischen Delegationen laden zu Pressebriefings. Die Debatte um den ›Single Seat‹ kennt man hier mittlerweile auswendig. ›Bevor der Sitz in Straßburg abgeschafft werden kann, muss es zu einer großen EU-Reform kommen, die mit dem jetzigen Erstarken der nationalistischen Kräfte völlig außer Reichweite ist‹, sagt der Grüne Michel Reimon. Das Einstimmigkeitsprinzip im Rat müsse zuerst ausgehöhlt werden. Auch für Evelyn Regner steht fest: Es brauche den Mehrheitsentscheid im Rat, die Mehrheit im Parlament ändere nichts. ›Das nutzt einem ja nichts, und wenn wir hundert Prozent sind.‹

›Natürlich wäre es uns lieber, wenn wir weniger pendeln müssen‹, gibt auch ÖVP-Spitzenkandidat Othmar Karas zu. ›Aber es braucht die Einstimmigkeit. Wie ich zur Einstimmigkeit stehe, wissen Sie.‹ Die historische wie kulturelle Bedeutung Straßburgs sei anzuerkennen, als ›Zeichen der deutsch-französischen Aussöhnung‹. Dabei kämpft Karas mit einem Dilemma in der EVP-Fraktion. Die erste Bedingung, die dem neuen Fraktionschef und EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber gestellt wurde, war die Beibehaltung Straßburgs – sonst hätten 19 Franzosen die Fraktion verlassen. Mit Emmanuel Macron schöpfte man indes Hoffnung. Ideen, eine Europauniversität im Gebäude zu gründen oder den EuGH nach Straßburg zu verlegen, sollten Macron ins Boot holen. Aber alle Vorschläge, das Gebäude im Sinne der Stadt zu nutzen, sind bisher auf taube Ohren gestoßen: ›Unantastbar und nicht verhandelbar‹ sei der Standort Straßburg, die Stadt ›ein Symbol der Versöhnung unseres Kontinents‹, sagte Macron erst kürzlich im Gespräch mit dem Präsidenten der französischen Region Grand Est, in der Straßburg liegt. ›Es ist nicht nur eine Vergeudung von Geld, es ist ein Nicht-Ernstnehmen des Parlaments‹, sagt dagegen Lunacek. Aus demokratiepolitischer Sicht sei es ›einfach Nonsens.‹ Eine Nähe zu Kommission und Rat sei unabdingbar. ›Wenn ich als Abgeordnete gute Arbeit leisten will, dann muss ich dort sein, wo ich mit den anderen Institutionen auch direkt verhandeln kann.‹ 

Trotz aller Gegenwehr – eine kleine (meist französische) Minderheit will Straßburg halten. Für Jérôme Lavrilleux (EVP) sei das Ganze ›ein Thema für die Galerie‹.Der Sitz sei vertraglich fixiert, Brüssel ein ›Königreich der Technokraten‹, die Abkehr von Straßburg der Untergang der EU: ›Wenn Sie einen Teleparlamentarismus wollen, ein Parlament, das nichts kostet, dann kann jeder daheimbleiben und per Video auf einen Knopf drücken.‹ Nathalie Griesbeck (ALDE) forciert die Dezentralisierung, die ›essenziell für die Unab­hängigkeit des Parlaments‹ sei. Die Parteikollegin Macrons wolle sich nicht von Lobbyisten oder Kommission ›absorbieren lassen‹. Doch wie das Beispiel der letztlich erfolgreichen Copyright-Abstimmung zeigt, führt auch der Weg von Lobbyisten direkt nach Straßburg. Tausende E-Mails wurden im Vorfeld verschickt, Bild-Zeitung und Bertelsmann-Stiftung mieteten sich in Straßburg ein. ›Die Lobby­isten sind in Brüssel genauso wie hier‹, sagt Regner. ›Am stärksten sind sie wahrscheinlich nicht einmal in Straßburg oder Brüssel, sondern in den Mitgliedsstaaten zu Hause, wo sie versuchen, die Minister direkt mürb zu kriegen.‹

›Ich liebe Straßburg, ich liebe die Stimmung.‹ Evelyn Regner sieht aus dem Fenster ihres Büros. Trotz aller Kritik und Widersprüche – Straßburg gefällt. Gerade die Unmittelbarkeit, ›dass man in der Members Bar sitzt und man fängt einfach zu diskutieren an, ohne groß einen Termin auszumachen‹, findet Regner gut. ›Dieses Miteinander-Reden.‹ Ob Kommissar, Regierungschef oder Minister – hier trifft man sich am Kaffeeautomaten. Die Agorá als Ort des Dialogs wirkt hier nicht nur symbolisch, sondern faktisch. ›Ich habe es immer bereichernd gefunden, dass man den Parlamentarismus hier direkt greifen kann‹, sagt Thomas Mayer. ›Ich fahre da her, weil ich hier mit Leuten rede.‹ Es sei die einzige Gelegenheit, ›einen Blick auf Europa‹ zu bekommen. 

Während Brüssel meist als technokratischer Moloch dämonisiert wird, symbolisiert das Gebäude in Straßburg ein wachsendes parlamentarisches Selbstbewusstsein, das mit dem Lissabon-Vertrag, der das Parlament mit zahlreichen Kompetenzen ausstattete, 2009 auch niedergeschrieben wurde. Wirtschafts-, Finanz- und Migrationskrise der Nullerjahre bremsten die Euphorie jedoch. Nach seiner Rückkehr sei Mayer ›total verblüfft‹ gewesen, dass ›alle plötzlich gegen Straßburg sind‹. Er habe sich nicht erklären können, dass dieselben Abgeordneten, die ein paar Jahre zuvor noch begeistert in das neue Gebäude in Straßburg eingezogen seien, nun von ›Schwachsinn‹ und ›Verschwendung‹ sprachen. Mit den Krisen der Nullerjahre sank die Empörungsschwelle der Wählerschaft, das Vertrauen auch, wodurch das Symbolische an Bedeutung verlor. ›Die MEPs haben nicht mehr das Selbstbewusstsein, zu sagen: Wir sind Abgeordnete, wir haben Stress, und Demokratie kostet Geld‹, sagt er. ›Heute sind sie alle so in der Defensive, auch durch uns Journalisten natürlich, dass sie vorsichtig geworden sind, Dinge zu rechtfertigen.‹ 

Hinzu kommt, dass vielen jüngeren MEPs das historische Bewusstsein fehlt – ihnen ist der Gründungsmythos fremd. Gerade sie springen auf das Trittbrett des Einsparungspotenzials auf, wie auch NEOS-Spitzenkandidatin Claudia Gamon. Die Dreiteilung der Sitze findet die 30-Jährige ›nicht praktikabel‹. Sie spricht von 200 Millionen Euro, die einzusparen seien. ›Dieses Geld könnte man in Klimaschutz-Projekte oder in den Forschungsbereich investieren.‹ Woher sie diese Zahlen hat, sagt sie nicht. Selbst wenn, sind das nicht mehr als 50 Cent pro Steuerzahler im Jahr. Ist das die parlamentarische Symbolkraft nicht mehr wert? ›Symbole sind in der Politik schon wichtig, auch heute‹, sagt Ulrike Lunacek. ›Aber gerade für die Jungen gilt dieses Narrativ nicht mehr. Wir brauchen ein neues Narrativ.‹ Mayer hingegen könnte sich einen ›Single Seat‹ in Straßburg vorstellen. Die FPÖ ist nicht abgeneigt, auch ÖVP-Abgeordneter Lukas Mandl würde darüber ›nachdenken‹. ›Wollen S’ die Stadt völlig zerstören?‹ Lunacek kann der Idee nichts abgewinnen: ›Das ist absurd.‹

Während Brüssel meist als technokratischer Moloch dämonisiert wird, symbolisiert das Gebäude in Straßburg ein wachsendes parlamentarisches Selbstbewusstsein.

Beide Seiten der Diskussion sehen sich im Recht. Allerdings beginnt der deutsch-französische Aussöhnungsmythos bei genauerer Betrachtung schnell zu bröckeln: Am Beginn der Tagungen in den 1950er-Jahren verwehrten Straßburger Hoteliers deutschen MEPs die Übernachtung. Bis heute wohnen viele deutsche MEPs während der Plenarwoche am anderen Ufer des Rheins in Kehl, wohin sie damals ausweichen mussten. Und der Neubau des Parlaments gilt als banales Gegengeschäft zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand: Für den Maastricht-Vertrag, der die Währungsunion 1992 besiegelte und die EZB nach Frankfurt holte, bekam Frankreich das Parlament in Straßburg. Alles hohle Symbolpolitik ohne Inhalt? 

Die Argumente der Gegenseite schwächeln nicht weniger: Seit Jahren verringert die Digitalisierung den logistischen Aufwand des Pendelns, die hohe Mobilität würde sich auch mit einer Auflösung des Standorts kaum verringern. Zwar kämen weniger Beamte aus Brüssel ins Elsass, ein Großteil der 751 Abgeordneten würde aber dennoch jede Woche nach Hause pendeln. ›Ob ich am Montag in der Früh nach Straßburg oder Brüssel fahre, ändert nichts daran, dass ich meine Tochter erst am Freitag wiedersehe‹, sagt Michel Reimon. Die Debatte wirkt einzementiert, ein ›Single Seat‹ weit entfernt – egal wo. In den kommenden Jahren werde man sicher in Straßburg tagen, sagt Karas. Nicht zuletzt auch wegen des maroden Plenarsaals in Brüssel. Dessen Neubau ist bereits beschlossen – er wird geschätzt 500 Millionen Euro kosten. Währenddessen geht das routinierte Pendeln munter weiter.

Schließlich ist es Donnerstag im Glasbau an der Ill. Die bunten Boxen werden vor den Bürotüren platziert, abgeholt und in die weißen LKWs geschlichtet. Dabei sind die 8.000 Menschen, die eben noch um sie herum huschten, bereits in sämtliche Himmelsrichtungen verschwunden. Der Vorhang schließt sich. Die Klingel ist verstummt, das hektische Pressezentrum erstarrt, die vollen Lifte leer. In den tiefen Schluchten des Gebäudes hören die Besuchergruppen nun wieder ihr eigenes Echo. In der Innenstadt dominieren Touristen die Lokale, die Taxis drehen größere Bögen um das Europaviertel. Drei Wochen werden vergehen, bis die Invasion erneut beginnt. Drei Wochen Ebbe vor der sicheren Flut. •