Die gute Frau von Moldau

Aus keinem Land Europas wandern so viele Junge ab. Viorica Sirbu pflegt die Alten, die zurückbleiben.

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Fotografie:
Martin Valentin Fuchs
DATUM Ausgabe November 2016

Der Tag, als Feodora ihr Augenlicht zurückbekam, war der 11. März. Das Erste, was sie sah, war das Licht der Deckenlampe. Nach 17 Jahren in völliger Dunkelheit war es, als würde sie unter einer grellen Flutlichtanlage stehen. Ihre Hände waren faltiger, die Finger knochiger geworden. Und an ihrem Bett saß eine fremde Frau: braune Augen in einem freundlichen Mondgesicht, dunkelblonde schulterlange Haare, heller Teint, dezent geschminkte Lippen. All die Jahre, in denen sie blind gewesen war, hatte sie nur ihre Stimme gehört. Jetzt nahm sie das junge Gesicht in ihre gealterten Hände und küsste die Stirn. ›Du bist genauso schön, wie ich dich mir vorgestellt habe, Viorica‹, sagte Feodora. Und beide begannen zu weinen vor Glück.

Es sind Momente wie dieser, die Viorica Sirbu davon abhalten, ihre Heimat zu verlassen. Die 42-Jährige ist Alten­pflegerin in Moldau, dem ärmsten Land Europas. Während des Zerfalls der Sowjetunion erklärte der Staat zwischen der Ukraine und Rumänien seine Souveränität. In der Hauptstadt Chişinău hängen Anfang Oktober Plakate in den Staatsfarben Rot, Gelb, Blau, die auf das 25-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit aufmerksam machen. In der Bevölkerung aber ist von Euphorie wenig zu spüren. Aufgrund mangelnder Jobaussichten und der weitverbreiteten Korruption kehren immer mehr Menschen der jungen Republik den Rücken. Von den 4,3 Millionen Einwohnern, die das Land 1991 zählte, sollen nur noch 2,9 Millionen übrig sein. Prognosen erwarten, dass die Bevölkerung bis 2050 um weitere 41 Prozent sinken wird, 31 Prozent allein durch Migration. Die Einwohnerzahl soll dann nur noch bei 1,7 Millionen liegen – weniger, als Wien heute hat.

Viorica kümmert sich um die, die zurückbleiben. Die Folgen der Arbeitsmigration haben Moldau den Titel ›Land ohne Eltern‹ eingebracht, aber sie sichern auch ihren Job als Ersatzmutter – finanziert von ausländischen Sponsoren wie dem österreichischen Sozialministerium und der Diakonie, weil der moldauische Staat es sich nicht leisten kann. Seit April 2014 dürfen Moldauer pro Halbjahr neunzig Tage in der EU verbringen, eine Arbeitsgenehmigung ist damit nicht verbunden. Die Visafreiheit birgt vor allem Vorteile für reiselustige ­Jugendliche und Studenten, die Freunde besuchen oder an einem Austausch teilnehmen wollen.

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