Die Optimierung der Pflanzen
Die EU will die Regeln für die genetische Veränderung von Nutzpflanzen lockern, um unser Lebensmittelsystem resilienter und nachhaltiger zu machen. Eine gute Idee? DATUM hat zwei Experten zum Streitgespräch gebeten.
Mit neuen gentechnischen Verfahren wie der Genschere CRISPR/Cas lassen sich gezielt Gene im Erbgut von Nutzpflanzen verändern. Das Protein Cas9 schneidet dabei an einer Stelle des DNA-Stranges. Dort können einzelne oder mehrere DNA-Bausteine eingefügt, entfernt oder verändert werden. Mittels solcher Techniken entstandene Pflanzen werden aktuell ebenso streng reguliert wie jene, die mit alten gentechnischen Verfahren entstanden sind und bei denen zusätzliche DNA eingebaut wurde. Nun will die EU die Regelung lockern. Das Parlament hat einen Gesetzesvorschlag der Kommission verändert angenommen. Was würde eine Neuregelung für Österreich bedeuten? Wir haben mit der Molekularbiologin Ortrun Mittelsten Scheid und Andreas Heissenberger vom Umweltbundesamt über die Chancen und Risiken einer solchen Reform gesprochen.
Wie entstanden die Pflanzen, die auf österreichischen Feldern wachsen und Tellern landen?
Ortrun Mittelsten Scheid: Viele entstanden durch die sogenannte ›klassische Mutagenesezüchtung‹. Dabei bestrahlt man Samen oder Keimlinge oder behandelt sie mit chemischen Stoffen. Das verursacht Brüche in der DNA. Aus einer Vielzahl an Mutationen, die aus der Reparatur dieser Brüche entstehen, wählt man für die Züchtung interessante Eigenschaften aus. Das Pflanzenmaterial kreuzt man mit unbehandeltem zurück, um die Mutationen zu ›verdünnen‹. So wurden über 3.000 Sorten auf den Markt gebracht – die meisten, die wir heute anbauen und auch solche, die für den Biolandbau zugelassen sind.
Andreas Heissenberger: Man muss aber bedenken: Diese Art der Züchtung liegt sehr lange zurück, und es liegen sehr viele Züchtungsschritte dazwischen.
Was unterscheidet diese Pflanzen von jenen, die mittels ›Neuer Gentechnik‹ entstanden sind?
Mittelsten Scheid: Sie lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Im aktuellen Gesetzesentwurf der EU-Kommission steht sinngemäß: Von Lockerungen betroffen sein könnten Pflanzen, bei denen die Veränderung in einem Gen maximal 20 der kleinsten DNA-Bausteine betrifft. Diese Zahl an Veränderungen liegt im Wahrscheinlichkeitsbereich dessen, was natürlich hätte passieren können.
Heissenberger: Die Kriterien dieser Einteilung sind politisch, das bestätigten auch Mitarbeiter der EU-Kommission. Es passieren mit neuen gentechnischen Methoden größere Eingriffe. Kreuzt man mehrere
so entstandene Pflanzen, entstehen 40, bei weiterer Kreuzung 80 und dann 160 Veränderungen – das kann man theoretisch unendlich fortsetzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das natürlich passiert, geht irgendwann gegen null.
Mittelsten Scheid: Aber bei der klassischen Mutagenesezüchtung erzeugt man beim ersten Eingriff bis zu 500 Mutationen. Wo ist der Unterschied?
Heissenberger: Das passiert nicht bei allen Pflanzen. Zudem wird selektiert und rückgekreuzt. Man kann nicht sagen: Das kann natürlich vorkommen, darum ist es gleichwertig und somit sind die Produkte sicher.
Mittelsten Scheid: Ja natürlich, was denn sonst?
Heissenberger: Nein. Ich kann hochpräzise Waffen herstellen, die sind auch nicht sicher.
Mittelsten Scheid: Sie wollen mich missverstehen. Neue gentechnische Verfahren sind um Größenordnungen vorhersehbarer und deren Risiken viel geringer. Da wird kein ernst zu nehmender Wissenschaftler widersprechen. Warum wird das Risiko bei diesen Pflanzen größer wahrgenommen als bei jenen, die mittels klassischer Mutagenesezüchtung entstanden sind?
Heissenberger: Weil es bei diesen klassischen Züchtungsverfahren lange Erfahrungen gibt. Früher hat man die Risiken der klassischen Mutagenesezüchtung nicht gesehen oder wollte das nicht. Würden wir sie heute diskutieren, kämen wir zum selben Schluss wie bei der Gentechnik: Man muss es sich ansehen. Viele neue Technologien klangen vielversprechend, konnten diese Versprechen aber nicht erfüllen. Warum ist es immer schwarz oder weiß? Die einen sagen, wir brauchen ein hundertprozentiges Verbot von Pflanzen, die mit neuer Gentechnik entstanden sind, die anderen wollen komplett deregulieren.
Mittelsten Scheid: Niemand will komplett deregulieren. Es wird nur dieselbe Risikoprüfung gefordert wie für konventionell gezüchtete Pflanzen.
Wie müssten Pflanzen, die mittels der neuen gentechnischen Verfahren entstanden sind, aktuell getestet werden?
Heissenberger: Gäbe es Anträge, müsste aktuell eine umfassende Prüfung von Effekten auf Umwelt und Gesundheit stattfinden. Diese dauert ein bis zwei Jahre. An Zellkulturen würde geprüft, ob es allergene oder toxische Wirkungen etwa an Bestäubern oder Bodenorganismen gibt. Gibt es keine, beginnen Feldversuche. Die europäische Lebensmittelbehörde gibt vor, wie diese gestaltet sein müssen.
Was könnte sich durch das neue Gesetz ändern?
Heissenberger: Laut dem aktuellen Entwurf der Kommission müssten die meisten der mit neuen gentechnischen Verfahren entstandenen Pflanzen nur mehr eine sogenannte Sortenprüfung durchlaufen. Dabei prüft man, ob die Pflanze bessere Eigenschaften hat als jene, die aktuell angebaut werden. Die Sortenprüfung dient aber nicht der Sicherheitsforschung oder der Risikoabschätzung, weil man etwa nicht prüft, wie die Pflanzen auf die Umwelt wirken.
Welche Umweltrisiken könnten entstehen, wenn solche Pflanzen auf österreichischen Feldern wachsen?
Heissenberger: Alle Pflanzen in Bezug auf das Risiko über einen Kamm zu scheren, ist wissenschaftlicher Unsinn. Aber Raps hat zum Beispiel viele wilde Verwandte in Österreich. Mittels Pollenflug kann er sich mit diesen Wildpflanzen kreuzen. Mittels neuer gentechnischer Verfahren könnte man einer Rapsart einen Vorteil einkreuzen, etwa dass sie besser mit Trockenheit umgehen kann. Dadurch könnte sie leichter in andere Lebensräume vordringen und eine stabile Population aufbauen. Das würde andere Arten verdrängen und ganze Ökosysteme verändern. In Kanada ist nachgewiesen, dass sich gentechnisch veränderter Raps entlang der Transportrouten verbreitet. Man findet ihn auf hunderten Kilometern vom Hafen bis zur Ölmühle. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen.
Mittelsten Scheid: Aber nicht der Raps erobert unsere wilden Lebensräume – sondern nicht heimische Pflanzen wie Knöterich und Goldrute. Sie sind zwei von 35 Arten, die hierzulande als umweltschädigend eingestuft sind. Ich frage mich: Wo ist da die Balance zu einer wild gewordenen Nutzpflanze?
Braucht es mehr Risikoforschung für Pflanzen, die mittels ›Neuer Gentechnik‹ entstanden sind?
Mittelsten Scheid: Braucht es neue Risikoforschung für Veränderungen, die auch spontan entstehen hätten können? Wie zuvor erklärt, wurden auch unsere Nahrungspflanzen mittels klassischer Mutagenesezüchtung genetisch verändert. Wir essen täglich so entstandene Lebensmittel und haben genug Belege, dass sie zuverlässig sind. Sehen wir uns doch das Produkt und seine Eigenschaften an. Es braucht Feldversuche. Die aktuelle EU-Verordnung zu genetisch veränderten Organismen verhindert diese aber quasi, weil der administrative Aufwand hoch ist und Anträge lange dauern. Das ist für mich unklug.
Heissenberger: Ich gebe Ihnen Recht: Die Auflagen für Feldversuche sind sehr hoch. Ich hätte auch gerne kontrollierte Versuche, um Daten für die Sicherheitsforschung zu bekommen.
Gab es in Österreich schon genehmigte Feldversuche für genetisch veränderte Pflanzen?
Heissenberger: Es gab einen ›quasi-illegalen‹ Feldversuch mit 2.000 sogenannten transgenen Erdäpfeln im Jahr 1996, der aber abgebrochen wurde.
Der Antrag dafür wurde von der Zuckerforschung Tulln gestellt. Das ist ein Tochterunternehmen des Nahrungsmittel- und Industriekonzerns AGRANA. Können Sie erklären, was transgen bedeutet?
Heissenberger: Transgene Pflanzen sind mit klassischer Gentechnik entstanden. In sie wurde Erbmaterial eingebaut, das von einem fremden Organismus stammt. Mittels dieser Technik sind viele Pflanzen entstanden, die etwa resistent gegen Unkrautbekämpfungsmittel sind. Das Saatgut solcher resistenten Pflanzen verkaufen vor allem multinationale Konzerne wie Monsanto oft gemeinsam mit den dazugehörigen Unkrautbekämpfungsmitteln, etwa Glyphosat. Dieses tötet die Beikräuter ab, aber die Kulturpflanzen nicht. Viele wurden aber gegen Unkrautbekämpfungsmittel resistent. Dadurch stieg vielerorts der Ressourcenverbrauch.
Auch die Kartoffeln, die 1996 getestet werden sollten, waren transgen und resistent gegen ein Unkrautbekämpfungsmittel. Der Antrag dazu hat alle Begutachtungsphasen durchlaufen, musste aber noch von der damaligen Gesundheitsministerin Christa Krammer bewilligt werden. Die war aber auf Auslandsreise. Weil man wusste, dass der Versuch bewilligt wird, wurden die Erdäpfel gepflanzt. Als man draufkam, wurden sie ein paar Tage später wieder ausgegraben. Das hat eine große öffentliche Diskussion ausgelöst.
Neue gentechnische Verfahren unterscheiden sich stark von den alten gentechnischen Verfahren. Warum sind Österreicherinnen und Österreicher dennoch skeptisch?
Mittelsten Scheid: Das hat sich zu einer Identitätsfrage entwickelt. Es gibt über alle Parteien Einigkeit, dass Österreich keinen Anbau von genetisch veränderten Pflanzen braucht. Ich glaube, die Bevölkerung ist viel offener als die Politik. Das sollte umgekehrt sein. Die Politik sollte weitsichtig agieren, ist aber der größte Hemmschuh.
Auch NGOs und Medien spielen eine wichtige Rolle. Bilder von Menschen in Schutzanzügen haben die Stimmung in den 1990ern stark geprägt. Dazu kommt ein bisschen Religiosität, à la ›Man pfuscht Gott nicht ins Handwerk.‹ Nicht zuletzt hat der Lebensmittelhandel stark auf Gentechnikfreiheit und dann auf Bio gesetzt. ›Neue Gentechnik‹ bedroht dieses Marktmodell.
Heissenberger: Wenn man sich die Sicht der Konsumenten ansieht, dann zeigt sich, dass sich die Bürger aller EU-Mitgliedsstaaten eine strenge Kennzeichnung wünschen.
Mittelsten Scheid: Viele Umfragen arbeiten mit vorgefertigten Fragen. Jemand, der sich nicht inhaltlich genau mit der Thematik beschäftigt hat, kann gar nicht anders antworten als von den Initiatoren der Umfrage gewünscht.
Bio-Lebensmittel haben in Österreich 11,5 Prozent Marktanteil. Die Branche spricht sich gegen die Lockerungen der Regeln für Nutzpflanzen aus, die mit neuer Gentechnik entstanden sind. Verstehen Sie das?
Mittelsten Scheid: Nein, ich kann nicht verstehen, warum der Biosektor nicht auch darauf setzt.
Eine Sorge ist, dass sich die biologische und gentechnikfreie Landwirtschaft nicht aufrechterhalten ließe. Ist sie berechtigt?
Heissenberger: Wenn Produkte, die mittels neuer gentechnischer Verfahren entstanden sind, nicht gekennzeichnet werden sollen, wird das schwierig. Dann müssten so entstandene Produkte von Bio- und gentechnikfreien Produkten vollständig getrennt werden – und zwar auf dem gesamten Weg vom Hersteller des Saatgutes bis ins Regal im Supermarkt.
Müssten Produzenten nachweisen, dass ihre Produkte ohne die Verfahren entstanden sind, wird es kompliziert und teuer. Es würde wohl zu einer sehr starken Preissteigerung von Bio-Produkten kommen. Der Biosektor hätte weniger Marktanteil und würde schrumpfen. Die EU-Kommission will aber bis 2030 den Anteil der Biolandwirtschaft EU-weit auf 25 Prozent steigern. Das spießt sich doch.
Auf neuen Verfahren ruht auch Hoffnung. Könnten so entstandene Pflanzen helfen, die Landwirtschaft an Klimafolgen anzupassen?
Heissenberger: Bei Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion spielen viele Faktoren zusammen. ›Neue Gentechnik‹ ist einer von vielen neuen Ansätzen, wie auch Digitalisierung oder Vertical Farming, also der Gemüseanbau in Gebäuden. Für eine klimafitte Landwirtschaft braucht es eine Kombination aus vielen Verfahren.
Mittelsten Scheid: Aber wieso sollten wir auf Werkzeuge wie die Genschere CRISPR/Cas verzichten? Sie helfen uns zu lernen. Dafür sind auch die globalen Genbanken wichtig. Auf der norwegischen Insel Svalbard sind etwa Samen alter Pflanzensorten gelagert – auch solche, die nicht ertragreich sind, aber etwa resistent gegen bestimmte Krankheiten. Sie zu analysieren hilft vorherzusagen, welche Genvarianten für bestimmte Klimaverhältnisse vorteilhaft sind. Wissen wir, welche Mutation in welchem Gen etwa eine Resistenz gegen eine Pilzerkrankung hervorruft, können wir das als Vorlage benutzen und mit dem CRISPR/Cas Verfahren in unseren Elitesorten nachmachen.
Auch die Kraut- und Knollenfäule, die häufigste Krankheit von Kartoffeln, wird durch einen Pilz ausgelöst. Mit der Genschere CRISPR/Cas entstand eine Sorte, die dagegen resistent ist. Gibt es weitere Beispiele?
Mittelsten Scheid: Es gibt einige. Eines ist Mehltau, eine Erkrankung, für die viele Weizensorten anfällig sind. Auch sie wird durch einen Pilz verursacht – allerdings nur, weil in der Pflanze ein gewisses Gen vorkommt. Fehlt es, kann der Pilz sie nicht infizieren.
Man hat dieses Gen in einer Gerstensorte entdeckt, die im äthiopischen Hochland vorkommt. Weizen ist ein Verwandter der Gerste und besitzt dasselbe Gen – allerdings in drei Kopien. Diese drei Kopien des Gens ließen sich mit der Genschere CRISPR/Cas in einem Durchgang ausschalten. So kann man in nur zwei Pflanzengenerationen Weizen züchten, der resistent gegen Mehltau ist.
Könnten so auch ›klimafitte‹ Nutzpflanzen entstehen?
Mittelsten Scheid: Ich bin mit dem Begriff klimafit sehr vorsichtig. Viele der Eigenschaften, die Pflanzen aufgrund von Klimafolgen brauchen, sind durch mehrere Gene und komplexe Regelwerke bedingt. Durch das Aus- und Einschalten von Genen lernen wir, welche Eigenschaften mit Genfunktionen verbunden sind. Für neue Erkenntnisse brauchen wir mehr Pflanzenforschung, aber die ist unterfinanziert.
Heissenberger: Die neuen Techniken sind wichtige Werkzeuge – wenn damit solche Eigenschaften erzeugt werden. Viele mit ihrer Hilfe entstandene Pflanzen besitzen aber Eigenschaften, die wir von transgenen Pflanzen kennen, sind etwa resistent gegenüber Unkrautbekämpfungsmitteln. Solche Pflanzen, die mit alter Gentechnik entstanden sind, führten in den letzten 25 Jahren zur Intensivierung der Landwirtschaft. Fließt weiterhin mehr als die Hälfte der Forschungsgelder der kommerziellen Züchtung in Produkte, die nur Konzernen nutzen, wird die Technik nicht helfen.
Mittelsten Scheid: Ich habe eine Datenbank durchforstet, in der mehr als 700 Veröffentlichungen in Fachzeitschriften über Pflanzen gelistet sind, die mit neuer Gentechnik entstanden sind. Nur drei Prozent behandeln Resistenzen gegen Unkrautbekämpfungsmittel. Drei Viertel betreffen Ertragssteigerungen, Wachstum sowie Resistenz gegen Schädlinge oder Stress, der durch Umweltfaktoren ausgelöst wird. Sollten wir auf diese Eigenschaften verzichten, aus Angst davor, dass ein Konzern etwas mehr Geld macht?
Heissenberger: Sie berufen sich auf Anträge für Freisetzungsversuche, die vorrangig von Forschungseinrichtungen gestellt werden. Die kommerziellen Entwickler publizieren nicht oder erst, wenn die Produkte marktreif sind – da ist es schwer, einen fundierten Überblick zu bekommen. Es gibt verschiedene Datenbanken. Außerdem ist Ertragssteigerung auch Intensivierung, weil ich mehr Input brauche.
Mittelsten Scheid: Was ist schlecht daran? Wir versiegeln täglich mehr Boden und müssen mit dem Rest immer mehr Menschen ernähren. Viele Länder, die unter Nahrungsmittelmangel leiden, senden ihre jungen Forscherinnen und Forscher ins Ausland, um die neuen Techniken zu lernen und auf ihre lokalen Nutzpflanzen anzuwenden – etwa, um die Knollenfrucht Maniok, die in vielen Ländern eine wichtige Nahrungsquelle ist, virusresistent zu machen.
Heissenberger: Aber die sind von der europäischen Regelung nicht betroffen.
Mittelsten Scheid: Ja, aber wir denken und handeln eurozentristisch. Unsere Entscheidungen haben Vorbildwirkung für Länder im globalen Süden. Geraten wir wegen einer veränderten DNA-Sequenz in Panik, ist das unverantwortlich.
Sollte Europa mehr in diesem Bereich forschen?
Mittelsten Scheid: Ja. Mehr als die Hälfte der 700 Veröffentlichungen, von denen ich vorher gesprochen habe, stammt aus China. Aber die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel höher. Europa ist in Bezug auf die Umsetzung hintennach. Das kann langfristig dazu führen, dass die begabtesten Forscher dorthin abwandern, wo ihre Produkte auch auf dem Feld wachsen können. Ich will mir in zehn Jahren nicht vorhalten lassen, nicht gesagt zu haben, wie wichtig die neuen Techniken sind.
Der Gesetzesentwurf, der Regeln für Pflanzen lockern soll, wird bald zwischen EU-Rat, EU-Kommission und EU-Parlament verhandelt. Was wünschen Sie sich für den Prozess und das Ergebnis?
Heissenberger: Ich wünsche mir ein Innehalten. Wir brauchen neue Regelungen, das ist Konsens. Ich sage nicht, alle mittels dieser Verfahren entstandenen Pflanzen haben ein höheres Risiko. Ich sage: Lasst uns ansehen, ob sie es haben und herausfinden, welche Kriterien man über welchen Zeitraum betrachten muss. Mit einer vernünftigen Datenbasis können wir die Diskussion wieder aufnehmen. Aber über das Ausmaß der Risikoprüfung wurde nie diskutiert. Einen unausgereiften Gesetzesentwurf durchzupeitschen ist nicht zielführend.
Mittelsten Scheid: Ich sehe es genau andersherum. Die hunderten Pflanzen, die aktuell in den Laboren verfügbar sind, sollen möglichst bald auf dem Feld getestet werden. Auf die eleganten Werkzeuge der neuen Gentechnik zu verzichten ist unklug und eine Neuregelung längst überfällig. •
Ortrun Mittelsten Scheid ist Molekularbiologin. Sie forscht am Gregor-Mendel-Institut für Molekulare Pflanzenbiologie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Andreas Heissenberger leitet das Team ›Landnutzung und Biosicherheit‹ im Umweltbundesamt. Er beschäftigt sich mit Risikoabschätzung, Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit von Gentechnik.