Editorial im Mai 2017
Liebe Leserin, lieber Leser,
was bei Raumschiff Enterprise die Brücke ist, bei Dr. Strangelove der War Room und bei Thelma & Louise die Fahrgastzelle eines 1966 Ford Thunderbird, das ist bei uns ein Holztisch; also jener Ort, an dem wir unsere Köpfe zusammenstecken, von dem aus wir die Welt, besser, die Welten da draußen magazinieren und unsere Autoren, Fotografinnen, Rechercheure in selbige schicken: in heimische Gefängnisse wie Stein, Suben, Simmering etwa, wo Inhaftierte ohne jegliche Arbeitnehmerrechte für Billigstlöhne arbeiten und Unternehmen sowie dem Staat gleichermaßen Millionenprofite bescheren (S. 16); in niederösterreichische Städte, wo randlagige Einkaufs- und Fachmarktzentren auch die letzten Innenstädte zu zerstören drohen (S. 66); oder ins oberösterreichische Mühlviertel, wo ein gelähmter Mann mithilfe eines Exoskeletts das Gehen wieder erlernt (S. 62).
Unser Blick vom Holztisch aus fällt auf den unbegrünten Innenhof eines Neubauer Altbaus und auf den aktuellen Seitenspiegel – eine Skizze der jeweils nächsten Ausgabe in Form kleiner Rechtecke, krakeliger Abkürzungen und bunter Farben. Umgeben von Büchern, Ordnern, Tassen, Gläsern und Häferl voll von Kaffee stellen wir uns die großen Fragen: Woher kommt unser Essen (S. 26)? Wohin taumelt Europa (S. 50)? Ist Gott eine Lüge (S. 82)? Und die vergleichsweise kleinen: Was wurde eigentlich aus den Versprechen, die Christian Kern bei seinem Amtsantritt als Bundeskanzler vor genau einem Jahr gegeben hat (S. 32 und S. 36)?
Wobei die wohl wichtigste Frage jene ist, die uns und wahrscheinlich auch Sie zu DATUM geführt hat: Wie sehen die Menschen dort draußen sozusagen von ihren jeweiligen Holztischen aus die Welt? Etwa Karin Steinböck von ihrer Simmeringer Trafik aus (S. 10). Haruko Hanzawa von ihrem japanischen Seniorendorf aus (S. 60). Die Boda-Boda-Fahrer Ibrahim, Derrick und Owen von ihren ugandischen Motorradtaxisitzen aus. Oder Werner Jessner vom Lenkrad eines Hyundai Ioniq Elektro aus (S. 74).
Jessner, Autor längst legendärer DATUM-Motorstorys, kehrt mit der Rubrik ›Mit dem Strom‹ zurück ins Blatt und hinter die Lenkräder, Lenkstangen, Cockpits unterschiedlicher, zumeist elektrobetriebener Gefährte.
Wir hingegen wechseln den Holztisch nicht, eher wechselt er uns. Er war vor uns hier und wird es nach uns sein, mit ein paar Kratzern, Kerben und Flecken mehr. Was sich bei unseren Holztischsitzungen ändert, das sind die Menschen, mit denen wir Skypekonferenzen abhalten müssen, weil sie anstatt bei uns zu sein, in Salzburg unterrichten, in Graz recherchieren oder zu Hause ihre Kinder hüten. In letzteren Fällen hört und sieht man nicht nur Lektoren, Art Directoren und Textchefs, sondern mitunter auch eine aufmerksame Teresa, einen kranken Bruno, einen mopsfidelen Nils. Neuerdings sieht man auf dem Laptopbildschirm in der Holztischmitte immer öfter auch den dichten schwarzen Schopf, die großen dunkelblauen Augen und das bezaubernde Neugeborenenlächeln der kleinen Maya, wie sie so in meinen Armen liegt.
Gemeinsam wünschen wir Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre der Seiten dieser aufregenden Zeit,
Ihr Stefan Apfl
stefan.apfl@datum.at