Editorial Juli 2017
Liebe Leserin, lieber Leser,
der Zug von Wien nach Innsbruck fährt vier Stunden und 15 Minuten – und brauchte fünf Stunden und dreißig Minuten. Das eine ist der Fahrplan, das andere die Realität. Man muss reisen, um zu lernen. Mark Twain hat das geschrieben.
Wir sind nach Innsbruck gereist, um etwas über Westösterreich zu lernen, genauer: um unser Bild davon mit der Realität abzugleichen. Den Grund kennt jeder, und er stört fast ebenso viele: Die medial vermittelte Realität Österreichs wird im Osten des Landes produziert. Im Medienbetrieb sind vielleicht nicht alle aus dem Osten, aber die meisten von uns arbeiten und leben hier, vor allem in Wien. Viel zu oft lesen, schreiben, urteilen wir über den Osten – und meinen damit das ganze Land.
Der Westen, er reduziert sich auf: Kunstschnee und Bodensee, Gletscherschmelze und Lawinenunglücke, Postkartenidyll und Almselfie, Hahnenkammrennen und Forum Alpbach, Geierwally und Andreas Hofer. Eine Klischeesammlung von der Fläche der Schweiz.
Ein Transfer von Ideen und Lektionen, Themen und Menschen findet auch jenseits der Medien nur wenig statt, zu wenig jedenfalls. Man kann das kritisieren, es ablehnen, es feststellen und weitermachen wie zuvor. Man kann auch einfach in den Zug steigen, zu viert, mit Laptops und Kameras, Zeitungen und Büchern im Gepäck, und einem Notizblock voll Fragen: Wie macht ihr das eigentlich mit dem Massentourismus und was macht er mit euch? Sind manche Täler wirklich schon entvölkert und die Bauernverbände noch mächtig? Welche Rolle spielt Wien für euch, welche München, Zürich, Europa? Wo beginnt Westösterreich überhaupt? Und über welche Themen wollt ihr eigentlich sprechen?
Zehn Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen haben wir an unseren DATUM-Stammtisch geladen: aus Skisport und Buchhandel, Kunst und Industrie, Sozialarbeit und Medien. Eigentlich waren es elf Menschen, aber Verena Ringler, Innsbruckerin und DATUM-Kolumnistin, die unseren Stammtisch mitkuratiert hat und selbst daran hätte Platz nehmen sollen, fiel leider krankheitsbedingt aus. Ihren Text über Krisenlehren aus Südeuropas Städten lesen Sie auf Seite 59.
Viele der vorbereiteten Fragen haben wir während des Innsbrucker Gesprächsnachmittags gestellt, andere haben sich noch währenddessen als töricht erwiesen; manche unserer Klischees wurden bestätigt, andere geradezu zerstäubt und noch andere überhaupt erst geformt. So wird es, das darf ich versprechen, auch Ihnen nach der Lektüre gehen, ob Sie nun gelernte Wienerin sind oder zugezogener Bregenzer.
Der Zug zurück erreichte Wien übrigens auf die Minute pünktlich. Die Realität und die ÖBB, sie überraschen einen immer wieder. Man muss ihnen nur die Chance dazu geben. Und nein, das hat nicht Mark Twain geschrieben.
Ich darf Ihnen viel Vergnügen wünschen bei der Sommerlektüre der Seiten der Zeit,
Ihr Stefan Apfl
stefan.apfl@datum.at
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