Editorial von Kuratorin Petra Ramsauer
Vom Immunsystem der Seele
Es ist eine Schlüsselfrage : Lässt sich der Modus : hinfallen, sich abstauben, wieder aufstehen in ein paar Lektionen erlernen, oder gibt es so etwas wie ein › Überlebens -Gen ‹, das manche in sich tragen ? Seit einem halben Jahrhundert wird diese Fähigkeit einiger erforscht, selbst grobe Schicksalsschläge besser zu verdauen als andere. Das Versprechen, sich diese sogenannte › Resilienz ‹ antrainieren zu können, füllt Seminare und die Ratgeberliteratur. In Zeiten der Pandemie hat der Begriff, zur Tugend hochstilisiert, steile Karriere gemacht. Verbunden ist damit allerdings das Angst auslösende Gefühl, dass sich mit Selbstoptimierung alles schaffen lässt. Die Empathie für die Nicht-Resilienten schwächelt.
Im Schwerpunkt dieser Datum-Ausgabe versuchen wir, dieses Phänomen der Überlebenskunst differenziert und in seiner Vielfältigkeit zu beleuchten. Vom Kampf der Generation Lockdown um ein Stück Normalität bis hin zu Schwerkranken, die wie durch ein Wunder geheilt wurden. Wir lassen uns von Protokollen von Überlebens-Menschen berühren, in denen sie berichten, wie sie eigentlich Unvorstellbares ausgehalten haben.
Aus › meiner ‹ Welt kommen zwei Frauen zu Wort, die ich als Reporterin in Kriegsgebieten getroffen habe : eine syrische Bürgermeisterin und eine jesidische Kämpferin. Ich wurde oft darauf angesprochen, warum ich mir diesen Job zwei Jahrzehnte lang angetan habe . Zu den zentralen Gründen dafür zählt, dass ein Beruf sehr lohnend ist, bei dem es darum geht, die Geschichten von Überlebens-Menschen zu erzählen, die sich ihren Weg durch ein Leben in Krisengebieten allen Widerständen zum Trotz bahnen. Jene, die etwa jahrelang qualvolle Folter in Kauf genommen haben, um zu ihrer Überzeugung zu stehen.
Ärzte und Ärztinnen, die in der syrischen Stadt Aleppo unter Bombenhagel unverdrossen weiter operierten. Laut einem im März erschienenen Bericht haben zwei Drittel des medizinischen Personals Syriens in dem schon zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg solche Szenen erlebt. Ob sich dieses Land jemals erholen wird, hängt nicht nur an einem Friedensvertrag, sondern noch mehr davon ab, ob die › Seelen ‹ jemals wieder heilen. Vor allem jene der Millionen Kinder, die nichts als Krieg und Gewalt kennen.
Als ein Modell unfassbarer Resilienz in Krieg und Konflikt gilt der Libanon, vor allem seine Hauptstadt. Wie Beiruts Überlebens-Menschen derzeit eine dreifache Krise bewältigen, habe ich nun aktuell recherchiert und dabei auch die von Psychologen herausgearbeiteten Säulen der Resilienz im krisenerprobten Alltag der Menschen identifiziert.
So viel wissen wir : Das Überlebens-Gen wird einem gleich doppelt in die Wiege gelegt. Es gibt Menschen, die sind robuster geboren. › Je mehr sich aber jemand als Kind geliebt gefühlt hat, desto besser gelingt es im weiteren Leben, psychische Belastungen zu verkraften ‹, fasst es Bessel van der Kolk, Professor für Psychiatrie an der › Boston University School of Medicine ‹ in seinem Maßstäbe setzenden Buch › The Body Keeps the Score ‹ zusammen.
Wir wissen aber auch : Mit jeder erfolgreich überstandenen Krise stärkt sich das seelische Immunsystem. Dies mag Trost geben – ein wichtiger Begriff, dem ich eine ähnlich steile Karriere wünsche wie jenem der Resilienz. •
Ihnen wünsche ich eine interessante Lektüre !
Ihre Petra Ramsauer
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