Ein allzu großer Name
Die Schauspielerin Grischka Voss stand lange im Schatten ihres berühmten Vaters. Und wollte gerade deshalb ganz eigene künstlerische Wege gehen.
Was soll ich nur machen? Ich habe zu viele Anfragen für Gratis-Tickets!‹, seufzt Grischka Voss. Sie spiele in zwei Wochen in der Urania, erklärt sie mir ihr Dilemma, und um ›F*ing Hot!‹ zu bewerben, habe sie ein Kontingent von zehn Tickets beiseitegelegt, aber die Nachrichten von Menschen, die sie wollen, reißen nicht ab. Wie viele sie schon verschenkt habe, frage ich nach und erwarte als Antwort etwas wie zwölf. ›34‹, sagt sie und grinst verschämt. ›Am liebsten würde ich allen eine Karte schenken.‹
Grischka schreibt und spielt – nunmehr seit neun Jahren in Form einer One-Woman-Company – Theaterstücke zu Themen, die sie ein Leben lang begleitet haben: In ›Invidia‹ etwa beschäftigt sie sich mit Neid, in ›Bulletproof‹ mit weiblicher Lust, und in ›F*ing Hot!‹, ihrem neuesten Stück, stellt sie die Frage, weshalb die Wechseljahre in unserer Gesellschaft dermaßen tabuisiert werden. Ihre Werke haben ein starkes sozialpolitisches Anliegen, feministisch könnte man sie auch nennen, aber eigentlich sind sie so groß, schräg, witzig und ambivalent, dass es ein Unrecht wäre, sie auf ein Schlagwort zu reduzieren. Ihre Stücke sind sie – oder genauer gesagt: ein Ausschnitt von ihr, schillern deshalb in den allerschönsten Farben, die sich aber durchaus auch beißen können und sollen. Grischka ist ungemein wandlungsfähig, man kann sich auf jeden Fall darauf verlassen, von ihrer Darbietung überrascht zu werden, darin ist sie ihrem Vater Gert Voss ungemein ähnlich. Doch wie schafft man es, als Schauspielerin (und Tochter) aus dem Schatten einer solchen Bühnenlegende zu treten?
Wir sitzen in ihrer Wohnküche, einem hellen Raum mit hohen Altbau-Wänden und großen Fenstern, die mit grünen, blauen, roten und gelben Sternen aus Transparent-Papier verziert sind, Bastelarbeiten, die in einer vorstellungsarmen Zeit entstanden sind. Vor uns dampft eine herrlich duftende Lasagne, und mein Blick – wir befinden uns im dritten Stock – führt mich zwischen die Wipfel der Bäume. Der Himmel ist blau, das Sonnenlicht hell, und die Sterne strahlen.
Basteln empfinde sie als meditativ, es beruhige sie. Sie brauche die Arbeit mit den Händen, anders halte sie diesen ständigen Wettbewerb nicht aus. ›Ich weiß gar nicht, was man heutzutage machen kann, um sich dem zu entziehen. Außer auf dem Land zu leben und Selbstversorgerin zu werden.‹ Wieder grinst sie. ›Was ich eh irgendwann anstrebe.‹ Schon als Kind habe es sie belastet, dass es im Leben scheinbar nur darum gehe, Erfolg zu haben. ›Und dann auch noch dieses bescheuerte Sprichwort: Ohne Fleiß kein Preis.‹ Sie schnauft empört. ›Das ist eine ganz große Lüge, mit der Menschen meiner Generation aufgewachsen sind, denn wir können noch so fleißig sein, es wird nie reichen. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die gleichzeitig eine Wegwerfgesellschaft ist, und das Wegwerfen bezieht sich nicht nur auf die Leistungen von Menschen, sondern auch auf die Menschen selbst.‹
Ob es nicht problematisch sei, als Schauspielerin den Wettbewerb zu scheuen, frage ich. Gebe es dafür überhaupt Verständnis? Gerade von Schauspielern erwartet man doch, dass sie unter Druck funktionieren, sogar zu ihrer Bestform auflaufen. Sie nickt heftig. Sie habe schon früh gewusst, dass sie kein Wettbewerbsmensch sei, aber dass sie Schauspielerin werden wolle, habe sie noch früher gewusst. ›Wann?‹, frage ich nach, obwohl ich weiß, wie absurd diese Frage im Grunde ist. Trotzdem kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. ›Mit neun.‹ ›Und wie hat dein Vater darauf reagiert?‹
Sie wiegt langsam ihren Kopf hin und her. Er habe ihren Wunsch nicht unterstützt, im Gegenteil, er habe ihr erklärt, sie sei zu sensibel. ›Er kannte ja den harten Theateralltag gut und wusste, dass es die jungen Frauen am schnellsten und brutalsten zermalmt. Das war ihm gerade auch als Vater bewusst, und er wollte das auf gar keinen Fall für seine Tochter.‹
Aber was sich Grischka vornimmt, das zieht sie durch: Sie hielt ihren Wunsch vor ihm geheim, sparte, während sie für den ORF als Kulturjournalistin arbeitete, Geld, um in New York eine Schauspielausbildung zu machen. New York, meint sie heute lachend, wäre für sie mehr eine Schule des Lebens gewesen, sie habe zwar bei vielen ehemaligen Lee-Strasberg-Schülerinnen und Schülern gelernt, aber das, was sie in den eineinhalb Jahren am meisten beeindruckt habe, seien die vielen jungen Schauspielerinnen gewesen, die ihre eigenen Monologe geschrieben und sowohl im Unterricht als auch bei Vorsprechen vorgetragen hätten. ›Nicht so wie bei uns: zwei klassische Monologe und ein moderner!‹
In New York also wurde die Theatermacherin, die sie heute ist, geboren, stelle ich fest und frage, warum sie nach Österreich zurückgekommen sei, in den USA gebe es doch viel mehr Möglichkeiten für die schauspielende Zunft. ›Es war cool, solange ich Geld hatte‹, erklärt sie. ›Ich habe schnell gemerkt, dass New York nur schön ist, wenn man sich das Leben in der Stadt gut leisten kann.‹ Diese Situation, fügt Voss mit Blick auf die heutigen USA hinzu, sei nicht besser geworden, bald würden dort nur noch steinreiche Menschen leben können – mit der Trump Gold Card.
›Natürlich hätte ich ewig lang Lichtdouble sein oder bei irgendwelchen No- Pay-Studentenfilmen mitspielen können‹, meint sie, ›aber einerseits war es schon damals sehr schwer, eine Green Card zu bekommen, das heißt, ich hätte gar nicht arbeiten dürfen. Andererseits ist mir in New York erst so richtig bewusst geworden, dass ich Europäerin bin: dass ich anders denke, anders an Themen herangehe, einen anderen Anspruch an Kunst habe.‹
Eine hübsche dunkelbraune Katze mit hellbraunen Flecken und weißen Pfötchen unterbricht unser Gespräch, Sandy möchte Aufmerksamkeit. Nicht nur kinderlose Frauen genießen ein Dasein mit Katzen, J.D. Vance, denke ich, während ich sie streichle. Ich habe Grischka kennengelernt, als sie im Rahmen eines Literaturfestivals aus meinem Roman ›Anatomie einer Nacht‹ vorlas. Wir freundeten uns schnell an, vielleicht deswegen, weil wir beide schon seit Jahrzehnten in Wien leben, doch unseren deutschen Akzent nicht loswerden können (oder wollen), oder weil wir uns beide als heimatlos bezeichnen würden. In unserer Kindheit zogen wir häufig um, mein Vater folgte den Rufen von Universitäten, ihr Vater folgte Claus Peymann, und unsere Mütter waren damit beschäftigt, den Vätern nachzueilen, die Kinder im Schlepptau. Den großen Durchbruch, den Durchbruch, der ihren Vater zu einem der größten Theaterstars Europas machte, erlebten sie und ihre Eltern in Wien. ›Plötzlich, mir schien über Nacht, war ich nicht mehr einfach ich, sondern nur noch die Tochter von Gert Voss. Ich hatte keine eigene Identität mehr, meine Identität schrumpfte, je berühmter mein Vater wurde – und er wurde sehr berühmt.‹ Sie grinst. ›Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie wichtig das Burgtheater damals war, welchen Stellenwert es in der hiesigen Gesellschaft hatte. Das war einzigartig im deutschsprachigen Raum.‹
Berühmt durch den Vater, also ungeplant – und ungewollt? Sie nickt und bezeichnet es sogar als ›Stigma‹. ›Ich habe gemerkt, dass ich mich überhaupt nicht mehr darauf verlassen kann, ob mich jemand meinetwillen mag oder aufgrund meines Namens. Das hat mich wahnsinnig deprimiert und misstrauisch gemacht.‹ Aber habe sie denn nicht auch Vorteile durch seine Berühmtheit gehabt, unterbreche ich, so stelle man es sich jedenfalls vor. Sie schüttelt entschieden den Kopf. Im Gegenteil. Sie habe oft den Eindruck gehabt, dass manche Regisseure über sie eine offene Rechnung mit ihrem Vater begleichen wollten, und er habe sich geweigert, ihr zu helfen. Er habe erklärt, das tue er nicht. ›Es hat mich wahnsinnig frustriert, wenn ich bei anderen Kollegen beobachtet habe, wie sie ihre Kinder gefördert haben. Mein Vater hat das tunlichst vermieden. Er wollte niemals auch nur den Eindruck erwecken, er würde mich irgendwo hineindrücken.‹
Das sei der Hauptgrund für ihre Reise in die USA gewesen: ›Ich wollte endlich wieder ich selbst sein.‹ Damals begann sie zu schreiben, und auch nach ihrer Rückkehr blieb sie sich und dem Vorsatz treu, Theater anders als ihr Vater zu machen, und wandte sich der freien Theaterszene zu. Als sie den Schauspieler und Regisseur Ernst Kurt Weigel kennenlernte, hatte sie demnach, wie konnte es anders sein, ein Theaterstück in der Tasche. ›Es war das Aufeinandertreffen von zwei Menschen‹, erzählt sie, ›die mit der Art, wie Theater gemacht wurde, unzufrieden waren. Wir wollten etwas Neues ausprobieren, unsere Träume verwirklichen. Wir haben uns gegenseitig ergänzt und ermutigt, diesen schwierigen Weg zu gehen – der alles andere als fett subventioniert war.‹
Sie gründeten das Bernhard-Ensemble und begannen eine erfolgreiche Zusammenarbeit, die in zahlreichen Produktionen mit Grischka als Schauspielerin und Autorin mündete – und 2001 im Nestroy-Theaterpreis. Schließlich gewann die Tochter auch den Respekt des Vaters. ›Als er sah, dass ich mein Ding durchziehe, war er unglaublich stolz auf mich und meine Arbeit. Ich glaube auch, dass er mich zum Teil für die künstlerische Freiheit beneidete, die er sich immer wahnsinnig hart hatte erkämpfen müssen.‹ Doch die Beziehung mit Ernst Weigel zerbrach, die Ehe wurde geschieden, die Zusammenarbeit beendet, und im Zuge der Trennung kam ein Trauma auf, vor dem sich Grischka bei ihrem Ehemann und Partner in Sicherheit gewiegt hatte: Er sagte, er habe sich immer wieder gefragt, ob er sich nicht auch deswegen in sie verliebt hätte, weil sie die Tochter von Gert Voss war.
Emil, 18 Jahre alt und schon fast Zivildiener, schleicht sich zu uns in die Wohnküche. Mitreden mag er nicht, aber mitessen. Er sieht seiner Mutter sehr ähnlich, strahlt die gleiche Wärme und Offenheit aus. Sie wiederum ist ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie lächelt, es ist ein melancholisches Lächeln. ›Heute ist seine Berühmtheit kein Thema mehr‹, sagt sie. ›Seit dem Tod meines Vaters hat sich all das geändert, mittlerweile ist er fast in Vergessenheit geraten. Er hat ja Theater gemacht, es gibt kaum Aufzeichnungen von seinen Auftritten.‹ Sie wirkt etwas wehmütig. ›Es passiert mir immer seltener, dass ich auf ihn angesprochen werde. Ich werde endlich als ich, Grischka Voss, wahrgenommen.‹
Ihr Handy leuchtet erneut auf. Während unseres Gesprächs war es mindestens so fleißig wie wir. Sie wirft einen Blick auf das Display und rauft sich die Haare. ›Was soll ich nur machen, Anna? Ich bekomme immer mehr Anfragen!‹•