Essen, beten, lieben

Russlands Angriff prägt seit einem Jahr das Leben jedes Einzelnen in der Ukraine. Forscher, Journalisten und Künstler vor Ort halten ihre Geschichten fest. Auf Initiative des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen soll daraus ein Archiv des Krieges werden. DATUM zeigt eine erste Auswahl der Zeugnisse.

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Illustration:
Anna Sarvira
DATUM Ausgabe Februar 2023

›Es fühlte sich an wie die Apokalypse‹

Eine 22-Jährige erzählt, wie sie unter Raketenbeschuss ihr Baby zur Welt brachte. 

›Am 26. Februar um zwei Uhr morgens platzte meine Fruchtblase. Eigentlich hätte ich erst Mitte März entbinden sollen, aber ich glaube, der Stress hat dazu beigetragen, dass die Geburt früher losging. Zu dieser Zeit wurde Charkiw, meine Heimatstadt, stark bombardiert. Der Krieg war gerade erst ausgebrochen, und ich sollte ein Baby bekommen.

Also begann ich die Wehenabstände zu zählen, während mein Mann einen Rettungswagen rief. Eigentlich wollte ich eine Hausgeburt bei mir in der Badewanne, aber natürlich hätte unter diesen Umständen kein Arzt ein Krankenhaus verlassen. Am Weg in die Entbindungsklinik stoppten wir noch bei meiner Schwiegermutter, um eine Tasche mit Sachen für das Baby mitzunehmen. In der Nervosität griff mein Mann zuerst nach der falschen. Als er das bemerkte und wieder umdrehte, um die richtige zu holen, schrie ihm der Fahrer hinterher: ›Wir werden gleich von einer Rakete getötet, während du dieser Taschen nachjagst!‹

Ich kam kurz nach vier Uhr im Krankenhaus an. Sie hatten alle Räumlichkeiten für Geburten in den ersten Stock verlegt, damit wir bei Beschuss schnell in den Keller ausweichen hätten können. 

Die Geburt selbst ging schnell. Ich lag nur vier Stunden in den Wehen. Um sechs Uhr kam mein Baby zur Welt. Da ich mich auf eine Hausgeburt vorbereitet hatte, war ich ziemlich aufgeklärt darüber, wie meine Geburt ablaufen wird. Ich wusste, wie ich die Schmerzen mit der richtigen Atmung lindern kann. Im Notfall hätte ich das Kind sogar allein gebären können.

Kurz nachdem ich mein Baby in den Armen hielt, hörte ich meine Hebamme telefonieren. Sie sagte: ›Bringt die Mädchen in den Keller, Luftangriff.‹ Ich konnte dumpf in der Ferne die Einschläge von Raketen hören und hatte Angst. Mitarbeiter der Klinik hatten anscheinend begonnen, ein Zeichen auf das Dach des Krankenhauses zu malen, in der Hoffnung, dass das Gebäude dann nicht beschossen werden würde. Die Ärzte und die Patienten, alle standen unter Schock. 

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