Euer Heer

Kann eine Institution der Gewalt Gutes in die Welt bringen?

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Illustration:
Stephen Mathewson
DATUM Ausgabe Oktober 2019

Bis vor ein paar Sekunden erschien mir der Raum noch einladend und sympathisch. Die zwei großen Altbaufenster stehen offen, an den Wänden hängen ein Gemälde mit Segelschiffen vor Venedig und Bilder aus Afghanistan: Männer in Uniformen, Wüste, Orden. Zimmerpflanzen in den Ecken, Aktenberge auf den Regalflächen. Jetzt aber habe ich plötzlich Angst. Ich sitze mit leichter Übelkeit an einem Ort, an dem ich es nie vermutet hätte, und fürchte mich vor etwas, das ich nie erwartet hätte: Ich bin im österreichischen Verteidigungsministerium, lächle, um mir nichts anmerken zu lassen, und habe Angst vor einer militärischen Bedrohung Österreichs.  

Ich halte mich für einen aufgeschlossenen Menschen. Meine Freunde tragen Dreadlocks oder weiße Hemden, studieren auf der WU oder der BOKU, wählen Parteien, für die ich nichts übrig habe, oder solche, die auch ich wähle. Ich mag andere Meinungen. Ich glaube, dass Verschiedensein mein Leben und unsere Gesellschaft bereichert. Aber eines habe ich nie verstanden: das österreichische Bundesheer. Es steht für mich für Krieg und damit für die Geschichten meines Vaters und Großvaters. Geschichten über sonnenverbrannte Ohren, übers Gehorchen, Schnell-Sein. Wer nicht aufgegessen hat, musste die doppelte Portion essen und so lange springen, bis er sich übergab, so erzählte es mir mein Vater. Nur nicht aus der Reihe tanzen. Und jeden Tag die Angst, doch an die Front geschickt zu werden. 

Mein Vater ist nicht in Österreich, sondern in Argentinien groß geworden. Unter dem Militärregime hat er heimlich die Beatles gehört und versucht, die abendliche Ausgangssperre zu umgehen. Mit 21 musste er zum Militär, dann war plötzlich Krieg um die Falklandinseln. Eineinhalb Jahre für ein Stück Land, das er nie gesehen hat. Er hatte Glück, wurde Chauffeur für Offiziere, musste nicht an die Front. 

Nicht so mein Großvater: Er war 17, Sudetendeutscher. Man hat ihm ein Gewehr in die Hand gedrückt und gesagt, kämpfe für dein Vaterland. Also ging er und kämpfte, für ein Land, das er nicht wiedererkannte. Er war in russischer Gefangenschaft, hätte mit 20 fast ein Bein verloren. Nur durch Glück, durch Kontakte und Zufall kam er frei. Wenn er davon erzählt, seufzt er über die Dummheit der Menschen, dankt für sein Leben. Dumm und in jedem Fall unnötig – das ist er, der Krieg. So habe ich es gelernt.  

Meine Angst verrät, dass ich das nicht mehr so ganz glaube. Mir gegenüber sitzt Philipp Eder.  Der 51-Jährige setzt sich täglich mit den Bedrohungen, denen Österreich gegenübersteht, auseinander: Er ist Leiter der Abteilung Militärstrategie im Verteidigungsministerium. ›Aber man sollte die geopolitischen Entwicklungen schon genau beobachten‹, sagt er, als könnte er meine Gedanken lesen. Dann erzählt er mir von einer Konfrontation zwischen Europa und Russland. Die gilt als plausibel, erklärt er mit ruhiger Stimme. Genauso wie systematischer Terrorismus, der Klimawandel als Bedrohung militärischen Ausmaßes, Blackouts und Cyber-Angriffe. ›Eine unmittelbare konventionelle militärische Bedrohung des österreichischen Staatsgebietes ist zumindest mittelfristig nicht absehbar‹, heißt es allerdings in der Verteidigungsstrategie 2014. Trotzdem sind die Bedrohungen real und erfordern potenziell militärische Interventionen. Eder wirkt ruhig, ich fürchte mich. Warum? 

Fast jeder, mit dem ich für diese Recherche gesprochen habe, findet, dass das Bundesheer in seiner jetzigen Verfassung eigentlich nicht zur Landesverteidigung einsetzbar ist. Die Bedrohungen, von denen Eder spricht, sind noch theoretisch, wenn sie aber zur Realität werden, steht Österreich ziemlich schlecht da. Unser Heer ist altmodisch und unterfinanziert. Und das macht mir Angst. Im Bundesheer sind nicht nur waffengeile oder gelangweilte 18-Jährige, es besteht nicht nur aus Kriegsfilmromatik und rechten Kommandanten. Sicher ist es mehr als das. Aber was genau eigentlich? 

Um das herauszufinden, bin ich hierhergekommen, in eine Kaserne mit mehr Fenstern, als ich zählen kann. Mit Männern in Uniformen und riesigem Hof zum Aufmarschieren. Ich begebe mich auf eine Reise, entgegen meiner Vorurteile, wider meine Ignoranz. Ich möchte die Welt des Heeres verstehen: Wie funktioniert das Bundesheer? Wer zur Hölle tut sich das an? Wozu brauchen wir es? Und: Wie könnte das Heer der Zukunft aussehen? 

Wer durch das große Eingangstor der Rossauer Kaserne geht, fühlt sich sofort unwohl, fühlt sich merkwürdig klein. Das soll man ja auch. Zwei Stöcke über diesem Hof befindet sich Eders Büro. Er spricht ruhig: ›Derzeit erledigt das Bundesheer gerade noch alle seine Aufgaben, ob es das in Zukunft kann, ist fraglich.‹ Eder ist Optimist, aber auch er beklagt die mangelnde Finanzierung: Seit Jahrzehnten wird das Geld weniger und weniger. ›Wir sind am Zahnfleisch‹, sagt Philipp Eder. Die Ausrüstung ist alt, LKWs brechen zusammen, Waffen sind längst nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik. Auch Grundwehrdiener und Milizsoldaten spüren den Mangel. Das Heer ist unterfinanziert und ineffizient. Viermal so viel Geld würde sich Eder wünschen. 

›Für mich war es eine leiwande Erfahrung, aber insgesamt ist das Bundesheer unnötig‹, sagt mein Freund Clemens. Er ist groß, sportlich, gutaussehend. Erledigt den Abwasch, wenn es sonst niemand tun will. Kein Wunder, dass er reinpasst, ins Heer. Das gibt er auch zu: ›Man hat es leichter, wenn man sportlich, groß, klassisch männlich ist‹, sagt er. ›Du darfst keine Schwäche zeigen.‹ Trotzdem: Clemens ist auch bedacht, intelligent, reflektiert. In seiner Freizeit klettern die Sechs- bis Neunjährigen auf ihm herum, die er als Pfadfinderleiter betreut. Er erscheint mir in etwa als die letzte Person, die Gewalt genießen könnte. Und doch: Der Grundwehrdienst war schön für ihn. Er habe viel gelernt beim Heer, meint er. Man gehe an seine Grenzen, körperlich, emotional, gehe darüber hinaus. Man sei viel draußen, lerne neue Leute kennen.

Als einer der rund 17.000 Grundwehrdiener , die dem Heer jährlich zur Verfügung stehen, war Clemens sechs Monate lang ganz unten in der Hierarchie. Denn im Wesentlichen gibt es drei Arten von Soldaten: Grundwehrdiener wie Clemens, junge Männer, die ein halbes Jahr zu Soldaten ausgebildet werden. Rund 33.000 Milizsoldaten – das sind jene Grundwehrdiener und Unteroffiziere, die sich zu einem Jahr Dienst verpflichten und danach nicht Berufssoldaten werden. Sie besuchen regelmäßig Übungen und werden im Falle eines Krieges als erste eingezogen. Und dann gibt es noch circa 16.000 Berufssoldaten, die als Beamte angestellt sind. Sie bilden aus, gehen ins Ausland, verwalten, führen an. Dabei gibt es Unteroffiziere, die zwar eine mehrjährige Ausbildung, aber kein Studium absolvieren, und Offiziere, die an der Militärakademie studiert haben. Sie übernehmen die höheren Führungspositionen, bilden die Spitze der klaren Hierarchie, die im Bundesheer besteht. 

Clemens war ganz unten. Es hat ihm so gut gefallen, dass er in den Auslandseinsatz gehen wird: Ein halbes Jahr Lastwagenfahren im Libanon. ›Ich verdiene gut und sehe ein Land, wie man es sonst nie sehen würde‹, sagt er. Laut Verfassung gehört das zu den vier Aufgaben des Heeres: Erstens die Landesverteidigung, also der Schutz der österreichischen Souveränität und Nationalität. Zweitens der sicherheitspolizeiliche Assistenzeinsatz, also Unterstützung der Polizei, so zum Beispiel im Sommer 2015. Außerdem Auslandseinsatz, also Einsätze in Kriegsgebieten gemeinsam mit der UNO zur Befriedung. Zuletzt nennt die Verfassung Katastrophenschutz. Clemens war auch schon an der Grenze, zur sicherheitspolizeilichen Assistenz. Er hat monatelang nur Kaninchen gesehen und gehofft, keine Geflüchteten aufgreifen zu müssen – aus Überforderung. Er sei komplett unvorbereitet gewesen. Jetzt aber freut er sich auf seinen Auslands­einsatz.

›Man darf nicht vergessen, dass die Grundidee des Bundesheeres Gewalt ist‹, sagt Friedensforscher Werner Wintersteiner. Das Bundesheer ist ja kein Fernreise-, Teambuilding-, Sport- und Frischluftverein. Jeder Soldat wird allem voran zum Töten ausgebildet. Burschen wie jene, die mit mir maturiert haben, bekommen eine Waffe in die Hand. Vor ein paar Monaten mussten sie noch die Hand heben, um zu fragen, ob sie während der Stunde aufs Klo dürfen. Und jetzt: Du bist Soldat. Sei ein Mann. Lerne zu töten. Auch Clemens hat geschossen, gelernt, wie man tötet. Das ist eine unauslöschliche Erfahrung. Welchen Zugang zu Leben und Sterben vermitteln wir jungen Österreichern – und in seltenen Fällen Österreicherinnen? Clemens erzählt mir, bei ihm sei die Waffenübergabe unspektakulär gewesen. Das mag meistens so sein, aber nicht immer: Zwei ehemalige Grundwehrdiener, die anonym bleiben möchten, waren bei einer Waffenübergabe mit Fackeln, Musik, österreichischen Fahnen dabei. ›Neonazi-Umzug‹, nennen sie es mit einem Grinsen. Sie erzählen von einem quälenden Zugskommandanten, der die Auszubildenden ständig anschrie, über den Rand der Erschöpfung hinaustrieb. 

Das ist ein Einzelfall. Die meisten Vorgesetzten brüllen nicht ständig und geben sich Mühe zu erklären, warum frühes Aufstehen, perfekte Ordnung und anstrengende Übungen nötig sind. Der Zugskommandant entscheidet, wie die Waffenübergabe, die Ausbildung abläuft. Die allermeisten gehen einfach und holen ihre Waffe, die dann erst mal im Spind bleibt. Das beweist auch die seit 2013 jährlich stattfindende Befragung der Grundwehrdiener: Den Soldaten geht es gut, sie sind überwiegend zufrieden. Der Trend ist positiv, die Zufriedenheit sehr hoch. ›Wir haben ganz gezielt Veränderungen herbeigeführt, und eine weitere Erklärung könnte der  Hawthorne-Effekt sein‹, sagt Militärpsychologe Stefan Rakowsky: Weil die Soldaten zunehmend gefragt werden, wie es ihnen geht, geht es ihnen schon mal besser. Denn sie fühlen sich wertgeschätzt. Verändert hat sich seit der ersten Befragung 2013 nämlich recht wenig. Die Zufriedenheit nimmt während des Grundwehrdienstes leicht ab. Die meisten Grundwehrdiener fühlen sich stark belastet. Insgesamt sind sie aber geradezu überraschend glücklich: Vor allem die Führung, direkte Vorgesetzte, werden sehr positiv bewertet: 80 Prozent der Befragten sind damit zufrieden. 

Der Alltag von Burschen wie Clemens, jener der meisten Soldaten in Österreich, scheint zunächst fernab vom Krieg: Das österreichische Bundesheer ist kein Heer, das kämpft, keines, das quält und systematisch Gewalt verherrlicht. Und doch geht es noch immer um Gewalt. Kann dabei etwas Gutes herauskommen? Um das herauszufinden, treffe ich einen, der davon überzeugt ist: Werner Zofal. 

Der 78-Jährige war 40 Jahre beim Bundesheer, über zehn davon hat er in Auslandseinsätzen verbracht, fern von seinen drei Kindern, der Ehefrau. Zofal klärte Kriegsverbrechen in Bosnien auf, lernte Arabisch in Ägypten, besorgte syrischen Kindern Schulbücher. Sein Camp wurde nicht nur einmal angegriffen, er war in Lebensgefahr. Das Klo wurde in dei Luft gejagt, Volltreffer, erzählt er. Nur durch großes Glück wurde niemand verletzt. ›Aber knapp war es‹, sagt Zofal. Einem Major wurde auf Patrouille der Kopf weggesprengt – er war auf eine Mine getreten. Zofal und seinen Unterstellten passierte nie etwas. Wofür das alles? Österreich nimmt ausschließlich an UN-Einsätzen zur Befriedung teil. Dabei geht es darum, dass Waffenstillstände eingehalten werden, dass Heere weiter und weiter auseinanderrücken. In Ägypten half Zofal, die Front zu Israel Kilometer für Kilometer auseinander zu verlegen. Heute ist es friedlich, wo er sich einst vor Schüssen duckte. 

Für Zofal gehören die Waffen zum Frieden dazu. Angst hatte der Soldat nie. Zur Matura nahm er seine Tochter mit an die Front und fuhr mit ihr durchs militärische Sperrgebiet. Urlaub am Gaza-Streifen. ›Würde ich mich fürchten, könnte ich nicht fahren‹, sagt Zofal, und seine Hände liegen vielleicht zum ersten Mal seit Minuten still. Man kann es nicht kleinreden: Was dieser Mann geleistet hat, ist beeindruckend, ja, heldenhaft: Ein Mechaniker aus Niederösterreich, der es geschafft hat, sowohl Palästinenser als auch Syrer zu überzeugen, dass er es gut meint mit ihnen, dass sie den Waffenstillstand, dem sie sich verpflichtet haben, aufrecht erhalten sollen. Krieg mag unfair sein, ein politischer Prozess, der von den Mächtigen auf dem Rücken der weniger Mächtigen ausgetragen wird. Doch Zofal hat mit Sicherheit mehr Gutes bewirkt, als es die meisten Menschen von sich sagen können. 

Dieser Mann ist eines von vielen Argumenten für den Grundwehrdienst: Dass alle Männer zumindest formal zum Heer müssen, bringt dem Heer gute, diverse Leute, die zumindest teilweise bleiben, Berufssoldaten werden. Außerdem soll das breite Publikum zu einer Art Integration der Gesellschaft beitragen: Arm und Reich, Links und Rechts, Stadt und Land teilen sich ein Stockbett, marschieren Schulter an Schulter. Während sie Kameradschaft erfahren, bleiben allerdings Untaugliche, Menschen mit Behinderung und ohne Staatsbürgerschaft außen vor. Es ist eine Integration der Ähnlichen. 

Doch in einem Bereich hat sich etwas getan: Frauen können Soldatinnen werden. Wohlgemerkt schon seit 1998 und wohlgemerkt nur jene, die die recht hohen Voraussetzungen der Unteroffizierslaufbahn erfüllen. Frauen im Bundesheer sind Lieblingsthema der Medien, ein merkwürdiger Hype: Der Pressesprecher hatte Probleme, eine Soldatin zu finden, die überhaupt noch an die Öffentlichkeit will. 

Verena Plattner aus Tirol will es noch. Sie ist 36, stellvertretende Bataillonskommandantin unter Johann Gaiswinkler, Kommandant der Gebirgsjägerbrigade. Soldatin mit Karriere seit fast 20 Jahren. Über den Sport kam sie 2001 zum Bundesheer, machte EF (einjährig freiwillig). ›Am Anfang habe ich gedacht: Die sind alle wahnsinnig, was mache ich hier?‹, sagt sie. Da ging es ihr nur darum durchzuhalten. Warum ist sie noch immer dabei? Die Kameradschaft, die Berge überzeugten sie, Plattner blieb. Heute freut sie das. Sie studierte auf der Militärakademie und der Landesverteidigungsakademie, stieg immer weiter in der Hierarchie auf. Viermal war sie im Auslandseinsatz, in Bosnien und im Kosovo. ›Ich habe mich von Anfang an in der Gruppe sehr wohl gefühlt‹, sagt sie. ›Noch heute habe ich regelmäßigen Kontakt zu den Leuten, mit denen ich eingerückt bin.‹ Teilweise arbeiten diese nun unter ihr. 

Angepasst hat sich das Heer an Frauen aber nur wenig. Obwohl eher die hingehen, die zumindest teilweise hineinpassen, weil Frauen ja nicht zum Heer müssen, sind sie dort auch nach 20 Jahren nicht selbstverständlich. Sollten alle Frauen zum Grundwehrdienst müssen? ›Wenn die Rahmenbedingungen passen, kann ich mir das schon vorstellen‹, sagt Plattner. Sie findet: Man muss mehr verändern als nur, wer einen Brief bekommt. Zum Beispiel? Ein Job beim Heer und eine Familie bleibe ein Drahtseilakt. ›Es ist möglich, aber nicht einfach‹, sagt Plattner. Prinzipiell sind alle Berufssoldaten Beamte und haben damit mehr Rechte als so mancher Angestellte in der Privatwirtschaft. So gehen zum Beispiel mehr und mehr Männer in Karenz und nutzen den Papamonat. Ob ein Job beim Heer mit einer Familie vereinbar ist, komme jedoch auf die Position an, die Aufgabe und darauf, wo man seinen Dienst versieht. Plattner schlief in ihrer Zeit als Kompaniekommandantin teilweise in der Kaserne, in der sie arbeitet, der Weg nachhause zahlte sich nicht aus. Mit Kindern undenkbar. ›Da ist noch Luft nach oben‹, sagt sie. 

Experten, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Heeres, denken viel darüber nach, wie das Heer in Zukunft aussehen könnte. Konfliktforscher Thomas Roithner hat einen radikalen Vorschlag zur Änderung: Österreich soll 2.000 Männer und Frauen in den dauerhaften UN-Auslandseinsatz schicken. ›Österreich sollte seine Rolle als neutraler Staat nutzen, um Abrüstung voranzutreiben‹, sagt er. Dass das Bundesheer zunehmend Aufgaben übernimmt, die auch zivile Organisationen übernehmen können, sieht der Experte kritisch. ›Das Heer soll machen, was das Heer am besten kann. Alles andere läuft auf eine Militarisierung der Gesellschaft hinaus, die nicht notwendig ist.‹ Außerdem schlägt Roithner vor, einen zivilen Friedensdienst einzurichten: Auch die Zivilgesellschaft sollte staatlich finanziert zivile Friedensfachkräfte entsenden können. Ähnlich sieht das Konflikt- und Friedensforscher Werner Wintersteiner. Friede ist für ihn eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: ›Langfristig braucht es eine Kultur des Friedens‹, sagt er. ›Entmilitarisierung ist nicht der Beginn, sondern der Schlusspunkt dieser Entwicklung.‹

Wäre die beste Lösung vielleicht gleich ein Europaheer? Das wäre billiger und effizienter, so die Politik vor der letzten Europawahl. Experten warnen: Bevor man über so etwas spricht, müsse man zuerst klären, was denn überhaupt die Aufgabe so eines Heeres wäre, so Konfliktforscher Thomas Roithner. Johann Gaiswinkler lebt bereits internationale Kooperation: Der 58-Jährige ist Kommandant der 6. Gebirgsbrigade. Rund 1.600 Mann sind ihm in Friedenszeiten unterstellt. Als Kommandant koordiniert er auch die EU-›Pooling and Sharing Mountain Training Initiative‹, an der Österreich teilnimmt. 15 EU-Staaten machen mit, tauschen sich international aus. Standardisierung der Ausbildung und das Teilen von Lektionen sind Schwerpunkte. ›Es geht darum, voneinander zu lernen‹, sagt Gaiswinkler. ›Das Heer ist dort und da weiter als die Politik.‹ Fest steht: Internationale Kooperation ist in Österreichs Bergen schon lange Realität. Über die engen Gebirgspässe gehen Deutsche, Italiener, Österreicher, Amerikaner womöglich am selben Seil. 

Am Ende meiner Recherche scheinen die Widersprüche unauflöslicher als zuvor: Das Heer steht für enge internationale Zusammenarbeit und die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges, für sinnlose Aufgaben und einmalige Expertise, für Abrüstung und Töten, für patriarchale Autorität und reflektierte Soldatinnen. Die Grundidee des Heeres ist, so sehe ich es immer noch, Unrecht. Das heißt aber nicht, dass dadurch nur Unrecht geschieht. Gewalt ist zu verurteilen, ein Bundesheer und Waffen sind einer Demokratie für mich nicht würdig. Aber es gibt Gewalt auf dieser Welt, und es gibt reale, militärische Bedrohungen. Auch für ein Land wie Österreich. Erkennt man diese Tatsache an, bemerkt man, dass das österreichische Heer höchst dysfunktional ist. Es ist ein überbürokratischer, altmodischer, unterqualifizierter und unterfinanzierter Apparat, der seine Kernaufgabe, nämlich die Landesverteidigung, im Ernstfall kaum erledigen könnte. Burschen wie Clemens, die überfordert an der Grenze zittern, sind noch der bessere Fall. Waffenverherrlichende Alkoholiker sind der schlimmste. 

Es braucht keine hehren Wünsche nach Weltfrieden, um für eine Umgestaltung des Heeres zu plädieren. Es braucht nur einen Blick auf die Fakten: Da ist zu wenig Geld, zu viel Führungsapparat, kaum Entwicklungsmöglichkeit. Deshalb also sitze ich in Philipp Eders Büro und lächle ihn verzweifelt an. Man könnte unsere Gesellschaft im Sinne von Michel Foucaults Idee der Disziplinargesellschaft als Vertrag betrachten: Sie übt Pflichten und Zwänge auf das Individuum aus und sichert im Gegenzug ab, gegen die Risiken des Lebens: Alter, Krankheit, Armut, Einsamkeit und eben auch militärische Bedrohung. Das Heer suggeriert fundamental Sicherheit, ist Teil dessen, was die Existenz eines Staates berechtigt. Es in Frage zu stellen und grundlegend zu verändern, braucht viel Mut. 

 Deshalb bin ich nicht alleine mit meiner Angst. Und das ist es, wovor ich mich am allermeisten fürchte.