Europäischer Postpaternalismus
Die Europäische Bürgerinitiative wird reformiert.
Wir leben in einer postpaternalistischen Ära, aber wir stecken in einem paternalistischen Regierungssystem fest‹, sagte der Redner vor wenigen Tagen in einem Brüsseler Sitzungsraum. Er schloss mit: ›Bürger müssen eine Chance haben, sich direkter einzubringen.‹
Der Redner war Frans Timmermans, Vizepräsident der Europäischen Kommission und ehemaliger Außenminister der Niederlande. Er stößt nun überraschend die Reform der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) an, eines Schlüsselinstruments der heutigen EU, denn ›es gibt Hindernisse auf dem Weg zu einer zugänglicheren, bürgerfreundlichen EU‹. Eine öffentliche Konsultation steht an. Bis zur Neuwahl von EU-Parlament und -Kommission 2019 möchte Timmermans die Reform umgesetzt haben.
Die EBI wurde mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt. Sie ermöglicht es den Bürgern, eine neue EU-Gesetzgebung zu fordern – sobald eine Million Unterschriften aus sieben Mitgliedsstaaten für eine solche Initiative zusammenkommen.
Doch die EBI wurde statt zur erhofften Klammer zwischen Bürgern und EU zu einem Flop. 2012 und 2013 wurden fast fünfzig EBIs bei der Kommission eingereicht. Nur die Hälfte von ihnen wurde registriert, weniger als fünf wurden von den Kommissaren auch tatsächlich diskutiert, es entstanden keine nennenswerten Aktionen. Die EBI erwies sich als zu kompliziert, zu intransparent, zu unattraktiv.
Bereits 2015 polterte Danuta Hübner, polnische Ökonomin, selbst ehemalige EU-Kommissarin und nun Vorsitzende des Ausschusses für konstitutionelle Fragen im Europäischen Parlament, in einer Anhörung: ›Die EBI ist ein Grundpfeiler der partizipativen Demokratie. Ich fürchte, dass wir die neue Realität noch nicht ganz angenommen haben, in der die Bürger dem Parlament und dem Rat ebenbürtig sind, wenn es darum geht, die Europäische Kommission aufzufordern, einen Gesetzesvorschlag einzubringen, was eigentlich die kopernikanische Wende in der europäischen institutionellen Landschaft ist.‹ Hübner sprach damit für viele zivilgesellschaftliche und Nichtregierungsorganisationen, die seit Jahren eine ›neue Welle der Einbindung‹ und mehr Bürgerbeteiligung in der EU fordern, allen voran eine zeitgemäße EBI.
EU-weit arbeiten etwa Solidar, eine Initiative für soziale Gerechtigkeit, das Europäische Netzwerk gegen Rassismus und die Europäische Bewegung International an der EBI-Reform und generell an dem Verhältnis von Bürger und EU (ausführliche Informationen dazu finden sich im Leitfaden für aktive Bürgerschaft unter dem Suchbegriff ›Europäischer Pass zur aktiven Bürgerschaft‹). Das Netzwerk Democracy International setzt sich für Mitbestimmung weltweit ein. Die Schweizer Initiative People2Power bereitet unter dem Hashtag #DearDemocracy eigene Erfahrungen zum Thema Bürgerbeteiligung auf. Und die noch junge ECIT-Foundation in Brüssel arbeitet an der schrittweisen Ausgestaltung einer transnationalen Unionsbürgerschaft, die für den Zusammenhalt der EU in Krisenzeiten wesentlich sei.
Die Europäische Bürgerinitiative wäre dabei ein wesentlicher Schritt nach vorne. Als Mammutaufgabe dahinter steht die grundsätzliche Reform eines ›paternalistischen‹ Regierungssystems – hin zu einem partizipativen.
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