Geduldet euch doch!
Wer sich hetzt, ist unterjocht, hieß es noch vor hundert Jahren.
Reden wir nicht über Entschleunigung und schon gar nicht von der Entdeckung der Langsamkeit. Reden wir über: das Zwerchfell. Drei bis fünf Millimeter dick ist dieses zwischen Brust- und Bauchhöhle angesiedelte Organ, der wichtigste Atemmuskel des Menschen. Wenn es sich verkrampft, hat man Schluckauf. Ansonsten versieht das Zwerchfell in aller Regel verlässlich seinen Dienst, was es zweifellos zu einem der angenehmeren, weil unauffälligeren Körperteile macht. Kein Vergleich zum Darm, dem hippen Medienstar der Szene, oder dem neuen Pokémon unter den Innereien: der Schilddrüse.
Im alten Griechenland galt das Zwerchfell als Sitz der Seele. Wenn Sokrates von der ›Gesundheit des Zwerchfells‹, der Sophrosyne, sprach, war das kein medizinischer Befund, sondern die Benennung von Charakterzügen, die dem Menschen helfen, in schwierigen Situationen richtig oder angemessen zu handeln, und ihn vor schnellen, unüberlegten Taten bewahren.
Was diese Sophrosyne nun genau sei, darüber bleibt der Meister im Vagen; man könnte sie am besten mit Besonnenheit übersetzen. Tatsächlich aber vereint der Philosoph unter diesem Begriff ein ganzes Bündel an Eigenschaften wie Klugheit, richtige Erkenntnis, Selbstbeherrschung und Mäßigung der Begierden. Sie alle, so Sokrates, müssen immer wieder neu verhandelt und ausbalanciert werden, und zwar mithilfe einer Tugend, die der Denker als eine der wichtigsten, der bedeutendsten für den Menschen preist: der Geduld.
2.400 Jahre später ist die Geduld keine Tugend mehr, sondern ein Makel. Ein Relikt der Vergangenheit. Moralinsauer wie eine Sonntagspredigt, müffelig wie eine Unterliga-Umkleidekabine. Geduldig? Das sind die Zaghaften, die Gleichgültigen, die fahlen Gestalten im Wartesaal namens Leben. Nicht aber die mit Sofort-Mentalität aufgeladenen Mover und Shaker, die Macher und Entscheider, die notorischen Beschleuniger einer sich rasend schnell verändernden digitalen Gesellschaft, die jetzt, sofort alles wissen und haben wollen. Also: wir alle.
Wörter: 2159
Lesezeit: ~ 12 Minuten
Diesen Artikel können Sie um € 1,50 komplett lesen
Wenn Sie bereits Printabonnentin oder Printabonnent unseres Magazins sind, können wir Ihnen gerne ein PDF dieses Artikels senden. Einfach ein kurzes Mail an office@datum.at schicken.