Gipfeltreffen der freien Rede
Die Außenministerin der Republik Österreich, Karin Kneissl, ist eine gebildete Frau. Auf jeden Fall eine, die auf diesen Eindruck Wert legt. Durch ihre Kultiviertheit erscheint sie naturgemäß kühl. Allen Regeln ihrer Klasse entsprechend gab sie sich allein bei ihrer Hochzeit eine emotionale Blöße. Sie zeigte, wie sie – im Rahmen des Üblichen und von Sicherheitskräften überwacht – vor häuslichem Glück außer Rand und Band (für ihre Verhältnisse) geraten kann. Dabei knickte sie wie eine Maturantin beim Elmayer vor ihrem Tänzer ein.
Ich fand es lieb, auch wenn ich sonst in ihrer politischen Karriere stets den performativen Widerspruch sehe. Ausgerechnet eine so gebildete Frau verdankt Titel und Stelle dem politischen Grobianismus der FPÖ. Leute wie Vilimsky, echte Sympathieträger der Republik, feinsinnige Kämpfer für das Freiheitliche, sind ihre Gesinnungsgenossen. Aber darin äußert sich die in Österreich derzeit erfolgreiche Politik authentisch: Diese Politik ist eine Abmache zwischen einem Teil der Oberschicht und dem von der Deklassierung bedrohten Kleinbürgertum.
Ich halte es bloß für eine rhetorische Volte, wenn Hans Rauscher Sebastian Kurz fragt, ob der Bundeskanzler der Republik Österreich wirklich mit diesen Leuten von der FPÖ Staat machen will. Genau das will er, die Abmache ist der Inbegriff seines Machtwillens. Interessant ist, dass Karin Kneissl an diesen Kern des Politischen nicht anstreifen will. Bei aller Kooperation will sie natürlich als etwas Besseres gelten. Sie versichert, ›parteifrei‹ zu sein, eine reine Fachkraft mit unabhängigen Überzeugungen. Am meisten wird ihr wohl die Maxime ›Mitgefangen, mitgehangen‹ missfallen – so eine Volksweisheit ist doch zu unterkomplex!
Hin und wieder hilft ihr das nichts, die Kumpanei fordert ihren Tribut. In einer deutschen Fernsehdiskussion, in der sie bella figura machte, gab es diesen einen Moment. Die Moderatorin sprach vom ›Virus des Nationalismus‹, und die Außenministerin von Gnaden der FPÖ wurde leicht unruhig: Der Nationalismus sei, da kein Krankheitsbild, auch kein Virus. Sehr wohl ein Virus, sicher ein Krankheitsbild, erwiderte ihr vor laufender Kamera Martin Richenhagen, ein deutsch-amerikanischer Unternehmer, die personale Verkörperung des globalisierten Liberalismus. Als Diplomatin gewann Frau Kneissl schnell ihre Souveränität wieder.
Hans Winkler, einst Leiter der Wiener Redaktion der Kleinen Zeitung, ist in Österreich zuständig für das Stocksteife am Konservatismus. Konservatismus ist nicht prinzipiell stocksteif, es gibt auch, fürchtet euch!, konservative Revolutionäre. Die österreichische Öffentlichkeit ist seltsam aufgeteilt in berechenbare Stellungnahmen. Das ist einer der Gründe dafür, dass sich so etwas wie ›ein Diskurs‹ nicht und nicht einstellen will. Die Denker in den Zeitungen leben einbetoniert, und in einer Konsequenz sondergleichen hat Winkler jüngst ein ihm angestammtes Thema berührt: die Erziehung der Knaben und Mädchen.
Erziehung wurde ja einst mit dem Stock durchgeführt. Bei dem Thema ist der stocksteife Konservative in seinem Element. Der stocksteife Konservative kritisierte in einem Artikel einen anderen Konservativen, der es ein klein wenig lockerer nimmt: den Bildungsminister Heinz Faßmann. Faßmann gedachte ich immer schon zu bitten, ob nicht die Möglichkeit bestünde, in den staatlich oder kommunal geförderten Kindergärten endlich das Sitzenbleiben einzuführen.
In unserer Gesellschaft mit ihrer Super-Wirtschaftsordnung, ihrer zurückhaltend dienenden Bürokratie, ihrer einfühlsamen Politik, die unermüdlich für die Gleichheit der Menschen kämpft, auch für die Chancengleichheit gerade der Reichen, die an unseren edlen Bildungsgütern mitnaschen sollen, damit sie das Wissen dem Rest der Menschheit weiterreichen können, an die Ärmeren also, die in den Startlöchern geduldig auf ihren Aufstieg ins Nichts warten – in dieser besten aller Gesellschaften soll man früh genug lernen, dass das Leben etwas ist, an dem man scheitern kann.
Es geht nicht an, dass so ein naseweiser Knirps oder eine heitere Göre aufsteigt, ins nächste Kindergartenjahr, ohne härtesten Prüfungen unterzogen zu werden, von denen Herr Faßmann einen großen Haufen bestanden haben muss, denn er ist ja Universitätsprofessor. Unter den Türkisen, denk ich an einen Blümel, ist Faßmann geradezu ein liberaler Mann, und entgegen dieser idiosynkratischen Eigenschaft sollte er entschieden daran mitwirken, dass der Idylle der Kindheit der Garaus gemacht wird.
Aber nein, dieser Faßmann hat die Forderung des Landeshauptmanns von Oberösterreich abgelehnt, in den Schulen dieses Bundeslands Deutsch als verpflichtende Sprache im Pausenhof einzuführen. Das würde, so der Minister, ›das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens‹ verletzen. Da das liberal schmeckt, bringt es den Stockkonservativen auf den Plan. So eine ›politische Pikanterie‹, schreibt Winkler, ›dass der Minister einer schwarz-blauen Regierung einem Landeshauptmann mit einer schwarz-blauen Regierung einen plausiblen Wunsch abschlägt.‹
Nichts Pikantes!, lautet die erste Regel in der Geschmacksbildung zum Stockkonservativen. Außerdem bedauerlich, dass die Tautologie des Regierens sich in Österreich noch nicht total durchgesetzt hat. Devianz, abweichendes Verhalten – und das in den höchsten Kreisen! – ist dem Stockkonservativen verhasst.
Das liberale Argument des Bildungsministers erscheint Winkler als ›praxisfern‹. Ich will ihm nicht zu nahe treten, aber ich finde, er hat recht, wenn er zustimmend einen Lehrer aus der Praxis zitiert. Der Direktor der Volksschule Sankt Andrä am rechten Murufer in Graz schrieb nämlich: ›Es hat sich für mich nie die Frage gestellt, wie in der Schule gesprochen werden muss: Deutsch, und das natürlich auch in der Pause. Wir haben so viele Kinder mit so vielen Sprachen an unserer Schule, die verstehen einander nur auf Deutsch. Tatsächlich wird im Umfeld der Kinder mit Freunden und in der Familie oft nur in der Muttersprache geredet. Deshalb ist es so wichtig, dass sie den ganzen Schultag über Deutsch reden, weil es die einzige Übungsmöglichkeit ist.‹
Dieses Argument ist pragmatisch und sowieso ist die liberale Intervention mit dem Grundrecht aufs Privatleben daneben: Ich kenne kaum etwas, was ein besseres Beispiel für Öffentlichkeit (und eben nicht für Privates) abgeben könnte, als den Schulhof in der Pause. Aus der Praxisferne ergibt sich die Einsicht in ein Dilemma: Auf der einen Seite steht das liberale Zugeständnis, auf der anderen Seite die stockkonservative Lust, jedes Problem durch Befehle oder Anordnungen loszuwerden.
Zu Recht kümmert sich der Pragmatiker nicht um solche fruchtlosen Antithesen. Bleibt aber ein Problem unbearbeitet: Welche Sprache man spricht, welche man zu seiner Verständigung wählt, das kann man nicht einmal Kindern anschaffen. Es gehört in den Bereich der ›Spontaneität‹, hat also etwas Anarchisches, das sich dem Stockkonservativen widersetzt und das in keiner Weise auf ein liberales Zugeständnis angewiesen ist.
Dahinter steckt das pädagogische Paradox schlechthin, schlicht eine Unmöglichkeit: Man muss die Kinder lehren, freiwillig die Sprache zu sprechen, die sie sprechen sollen. Solange das nicht funktioniert, wird man sich mit Befehlen und Anordnungen helfen – es hilft aber viel weniger, als der Stockkonservatismus glauben machen möchte.
Aus der Kronen-Zeitung ertönten spitze Lustschreie. Mein Lieblingsschmieranski Jeannée hatte so eine Freude darüber, dass man die Sozialdemokratie bereits aus der Perspektive des Endes einer Volkspartei betrachten kann.
Jeannée ist der letzte, der mit der alten Krontschi mithalten kann.
Sonst ist die Zeitung ein Abklatsch von damals, nur mehr ein steril aufgeregtes Bezirksblatt. Wie ein verzweifelter Liebhaber die Angebetete umarmt die Krone innig ihre Leser, aber nur, damit diese ihr nicht entwischen können. Was war das früher für ein herrliches Sudelblatt und zugleich eine Dauerspiegelung unseres Nationalcharakters. Lese ich heutzutage die Sonntagsadressen des Chefredakteurs an die Leser, wird mir ganz bang ob des schmierigen Biedersinns und der Unbegabtheit im Schriftlichen, die dieser Chef, ein wahrer primus inter pares, an den Tag legt.
Für die politische Rechte ist das Ende der Sozialdemokratie als einer Volkspartei eine wichtige Voraussetzung für die Dauerhaftigkeit ihrer Machtübernahme. Einer der Gründe für dieses Ende ist die Kronen-Zeitung, mit der die österreichische Sozialdemokratie, ganz auffällig unter Faymann, den Bund fürs Leben geschlossen hat. Kern, einer der Totenvögel der Sozialdemokratie, ist eines Tages dahintergekommen, dass die ganze Kohle, die man dem Blatt zukommen hat lassen, keineswegs die Begeisterung für seinesgleichen befeuerte. Er hat, in der Manier eines Intellektuellen, ›den Boulevard‹ angegriffen. Na, mehr hat er nicht gebraucht.
Die Zeitungswissenschaften werden im dritten Jahrtausend, wenn sie schon Mut dazu haben, rekonstruieren, wie’s anno dazumal war, als ein gewisser Kern zum am allermeisten kritisierten Politiker aufstieg, erst recht im sogenannten ›Freien Wort‹, auf der Leserbriefseite der Krone, wo nicht zuletzt einige Kleinfunktionäre der FPÖ großsprechen dürfen. Dass sie ihre Meinung sagen dürfen, dafür kämpfe ich, aber manche von ihnen sollte man genauer vorstellen, damit sie nicht so anonym wirken müssen. Einer hat im Leserbrief die SPÖ eine ›Zuwandererpartei‹ genannt, bloß der humanitären Reste wegen, die die SPÖ nicht einmal unter einem Doskozil wegbringen könnte.
Das Ausmaß, in dem Kern der österreichischen Sozialdemokratie geschadet hat, kann nicht einmal die ihn verfolgende Kronen-Zeitung zum Ausdruck bringen. Was könnte mehr schaden als ein Vorsitzender, der die Flucht ergreift und zugleich verkündet, dass er etwas Besseres zu tun hat, in Europa, vielleicht gar, um die ›europäischen Werte‹ zu bewahren?
Bei Kern ist die SPÖ auf die eigene Verblendung hereingefallen, auf die Faszination des Smarten. Am Ende ist nichts lächerlicher als ein Siegertyp auf der Verliererstraße. Der Mann hat im Sommerinterview auf die stichelnde Frage, ob er denn am Boulevard etwas gut fände, geantwortet: ›Ja, den wirtschaftlichen Erfolg!‹
Da plapperte das Managerial Mindset aus ihm heraus. Jeder Mensch sonst kann wissen, dass der wirtschaftliche Erfolg gerade das Problem dieser Art von Presse ist. Für diesen Erfolg tut der Boulevard alles, sogar brave Sozialdemokraten verfolgen.
Was die politische Rechte so komisch erscheinen lässt, ist immer wieder der Charakter der ›verfolgenden Unschuld‹, eine Weinerlichkeit, wenn sie angegriffen wird, und eine Rücksichtslosigkeit, wenn sie selber angreift. In Arno Geigers Roman ›Unter der Drachenwand‹ kommt jemand vor, der ›keine Gefühle äußern konnte außer Selbstmitleid und Verächtlichkeit gegen andere.‹ Darauf folgt im Roman die Überlegung: ›Man müsste sich einmal die Zeit nehmen und darüber nachdenken, ob nicht vielleicht Selbstmitleid und Verächtlichkeit die eigentlich fatalsten Gefühlsgeschwister sind im Leben der Menschen.‹
Es ist nicht leicht, heißt doch ›Ehre, wem Ehre gebührt!‹ zugleich auch Verachtung denen, die sie verdienen. Sehr schön hat der AfD-Funktionär Björn Höcke die Romanthese in Szene gesetzt. Aggressiv rief er, was er will, nämlich den Sturz der Regierung Merkel! Fast greinend fügte er hinzu, was er sonst noch will: ›Ich will die alte Bundesrepublik zurück!‹
Ich will die alte Krontschi zurück, das Blatt meiner Kindheit, das mich gelehrt hat, was Österreich ist.
Keine ›Nazion‹, wie ein sozialdemokratischer Trottel aus Kärnten publiziert hat, sondern ein fruchtbarer Boden für Selbstmitleid und Verächtlichkeit.
Von diesem Boden steigt man leicht auf den Zug der Rechten auf, siehe Conny Bischofberger, die in einer Glosse für die Krone den Mythos von den armen, aber tapferen Rechten perfekt wiedergegeben hat: Sarrazin kam zum ›Gipfeltreffen der freien Rede‹ nach Wien: ›Deutsche Beamte begleiten den Berliner Ökonomen bis zum Flughafen Berlin-Tegel, die österreichische Cobra holt ihn in Wien-Schwechat ab.‹
Dieses Staatstheater ist schrecklich, es ist die politische Wahrheit einer gespaltenen Gesellschaft. Die Heroisierung Sarrazins ist aber bloße Propaganda: ›Tickets kosten 29 Euro. Wo frei über die Auswüchse des konservativ-radikalen Islam geredet wird, da wird es schnell gefährlich.‹ Deshalb, um die Gefahr abzuwenden, holt ihn ja die Cobra in Wien ab. Zu Recht schützt ihn der Staat, aber dass gegen seine freie Rede andere auch was sagen, macht ihn nicht zum Helden der Meinungsfreiheit: ›Kuschen und Freiheit‹, schreibt Bischofberger, von ihren Halbwahrheiten entflammt, ›das ist ein Widerspruch in sich. Wer nicht kuscht, sondern unbequeme Wahrheiten ausspricht und Probleme mit der Integration zur Diskussion stellt, wird gern als »Hetzer« bezeichnet.‹
Das Selbstmitleid stellt sich ein, wenn man von den harten Bandagen, mit denen man agiert, auch etwas abkriegt. Die Kulturindustrie tut alles, was in ihrer Macht steht, um das freie Wort von Sarrazin zu garantieren. Schließlich geht es nicht nur um 29 Euro für ein Gipfeltreffen der freien Rede. Mindestens so gern, wie die einen ihn hören, hören die anderen etwas gegen ihn. Die Front ist aber zu eindeutig, zu ausgetreten, um noch aussagekräftig zu sein.