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Kleine Geschichte

Regionale Museen und Archive sind oft die einzigen, die lokale Erinnerungen bewahren. Was fehlt, wenn ihnen der Nachwuchs ausgeht?

DATUM Ausgabe März 2024

Während in Bad Ischl alle auf die Eröffnung der Kulturhauptstadt warten, ist beim Ischler Heimatverein alles wie immer. Johannes Eberl öffnet die Tür und führt flott durch den kalten Vorraum, vorbei an metallenen Regalen voller schuhschachtelgroßer Kartons. Vorbei an einer Glasvitrine, in der ein Teddy mit rosa Schleife neben einem stierförmigen Krug der Fleischerinnung sitzt. Eberl öffnet eine zweite Tür, hier ist es deutlich wärmer. Zwischen den raumhohen Bücherregalen und dem ovalen Besprechungstisch wuseln seine rüstigen Vereinsmitglieder herum.

Sie kümmern sich um den ›Erinnerungsschatz‹ der Stadtgemeinde. In dem Ortsarchiv sammelt der Verein vor allem schriftliche Dokumente, Fotos und Postkarten, die sich mit der Geschichte Bad Ischls beschäftigen. Seine potenziellen Schätze vorbeibringen kann jeder, die zehnköpfige Truppe rund um Obmann Johannes Eberl entscheidet dann, was aufgehoben und archiviert wird. Die Kriterien sind einfach: Hat es Ischl-Bezug, darf es bleiben. Außer es ist zu fleckig oder könnte die anderen Archivalien beschädigen. Für einige Gemälde und kleine Objekte ist im Archiv auch Platz, langsam füllen sich aber auch diese Vitrinen immer mehr.

An diesem Jännertag würde der Altersdurchschnitt der Gelegenheitsarchivare wohl jenseits der 60 Jahre liegen, wäre nicht auch Studentin Sarah Pamminger im Raum. Die 29-Jährige hat für ihr Kulturwissenschaftsstudium dringend einen Praktikumsplatz gebraucht. Ausgeschriebene Stellen gibt es im Kulturbereich in der Region kaum, weshalb sie aus Not beim Heimatverein anfragte. Dort wurde sie freudig empfangen, jemand mit Computer-Kenntnissen war dringend gesucht worden. Pamminger gefiel die Arbeit, sie blieb dem Verein erhalten.

Nachwuchs gesucht

Jemanden wie Sarah Pamminger wünschen sich in Österreich viele historische Vereine. Obwohl in Studien knapp die Hälfte der jungen Erwachsenen zwischen 16 und 25 Jahren angibt, sich grundsätzlich für Geschichte zu interessieren, engagieren sich nur wenige in Vereinen. Dabei sind vor allem die Regionalmuseen Österreichs von ehrenamtlichen Mitarbeitern abhängig. Nur die wenigsten der knapp 800 beim Museumsverband registrierten Museen haben Angestellte – es sind vor allem Bundes- und Landesmuseen, die über professionelles Personal verfügen. Alle anderen Vereinsmuseen oder Häuser privater Sammler können nur deshalb bestehen, weil Menschen freiwillig mitarbeiten.

Was aber, wenn diese freiwilligen Mitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes nach und nach wegsterben und keine neuen nachkommen? Wird mit der Generation, für die Vereinsleben die liebste Freizeitbeschäftigung war, auch Österreichs Regionalgeschichte begraben werden? 

Ganz so schlimm muss es laut Ulrike Vitovec nicht kommen. Sie ist Geschäftsführerin des Museumsmanagements Niederösterreich, einer Schnittstelle zwischen dem Bundesland und seinen museal tätigen freiwilligen Mitarbeitern. In ähnlicher Form gibt es solche Organisationen in allen Bundesländern, in der Steiermark und in Niederösterreich gibt es aber besonders viele Fortbildungen für Regionalgeschichte. Vitovec ist damit Ansprechpartnerin für knapp 15.000 im niederösterreichischen Museumswesen aktive Ehrenamtliche. Der größte Teil davon sei zwar über 50 Jahre alt, aber noch nicht in Pension, merkt Vitovec an. Seit der Covid-19-Pandemie sehe sie einen starken Generationenwechsel – zwar nicht hin zur Jugend, aber doch von Senioren zu Mittfünfzigern, die einen sicheren Arbeitsplatz haben, sich aber nebenbei freiwillig in der Gemeinde engagieren wollen. Punktuell würden auch Studierende und Menschen in ihren Dreißigern mitarbeiten. Die suchen sich aber meist ein bestimmtes Projekt aus, bei dem sie etwas beitragen wollen, und treten nicht langfristig einem Verein bei, erklärt sie. Vitovec spricht bei alldem von Niederösterreich, diese Trends lassen sich ihrer Meinung nach aber auf ganz Österreich übertragen, wie sie auch aus Diskussionen mit Kollegen wisse. 

Durch ihren Kontakt zu Regionalmuseen sieht Vitovec auch, dass vor allem die gegenseitige Offenheit eine Rolle spielt. Es funktioniere nicht länger, dass ein Vereinsobmann anschaffe und das niemand hinterfrage. Wer seine Freizeit in ein Projekt hineinsteckt, möchte mitreden. Eine große Rolle spielt in ihren Augen auch die Gemeindepolitik: Gibt es ein offenes Ohr für Kulturagenden? Wird ein neuer Computer für das Museum finanziert? Für Vitovec sind das die kleinen Dinge, die einen Unterschied machen. Die zeigen, dass sich jemand für die Arbeit der Regionalmuseen interessiert. Ohne sie würde ein Großteil der Regionalgeschichte nie aufgearbeitet werden. Universitäten können sich Mikrogeschichte immer nur punktuell ansehen, das restliche Vakuum müsse von Heimatforschern gefüllt werden. Für viele ist das auch nach wie vor eine lebenserfüllende Aufgabe.

›Verklärende Rückschau‹

Ganz aufgeben wollen die Regionalmuseen ihre junge Zielgruppe aber nicht. Wolfgang Muchitsch, derzeit wissenschaftlicher Leiter des Kärntner Landesmuseums und bis 2023 Präsident des Museumsbunds Österreich, betont die wichtige Rolle von Regionalmuseen als Diskursorte. Oft sind sie die einzigen Kulturinstitutionen, die es in kleineren Gemeinden noch gibt. Fehlen sie, fehlt auch der einzige konsumfreie Boden für Diskussionen. Regionalmuseen seien nicht nur für die Aufarbeitung der Geschichte einer Region wichtig, sondern sind für Muchitsch auch Orte der Zivilgesellschaft. 

Das Nachwuchsproblem bei historischen Vereinen gestalte sich ähnlich wie im gesamten Vereinswesen:  Für junge Menschen sei es schlichtweg nicht mehr üblich, in vielen Vereinen Mitglied zu sein. Will man sie erreichen, müsse man auch die Themenschwerpunkte und Veranstaltungen überdenken. Muchitsch kritisiert die ›verklärende Rückschau‹ vieler Museen, die vor allem junge Leute abschrecke. 

Als Beispiel bietet sich hier das Dollfuß-Museum in Texingtal an, das 2021 unter heftiger Kritik stand, auch weil Gerhard Karner (ÖVP) bei seiner Ernennung zum Innenminister noch Bürgermeister der Gemeinde war. Medienberichte sahen in dem Museum eine regelrechte ›Huldigung‹ des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, der 1933 das Parlament ausschaltete und daraufhin einen austrofaschistischen Ständestaat schuf. Ein Beirat aus wissenschaftlichen Experten empfahl eine konstruktive Auflösung des Museums, die von Vorträgen und Diskussionsrunden begleitet werden sollte. Damit hätte es der Idee eines modernen Museums entsprochen, wie es Muchitsch beschreibt. Im Jänner dieses Jahres räumte die Gemeinde das Museum allerdings überraschend. Einige Leihgeber von Ausstellungsobjekten hätten gefordert, diese an das Land Niederösterreich zu übergeben. Der Beirat kritisierte, dass hier ›die gedenkpolitischen Interessen einiger Personen und Organisationen auf Kosten einer zeitgemäßen, demokratischen und evidenzbasierten Geschichtskultur durchgesetzt‹ worden seien.

Eine solche zeitgemäße Geschichtskultur, die sich aktiv für ein gesellschaftliches Miteinander einsetzt und ›heiße Themen‹ wie Grundrechte oder das Klima diskutiert, wäre für Muchitsch eine Lösung, um Museen attraktiver für ein junges Publikum zu gestalten.

Geschichte erzählen

Wenn sie sich nicht in Vereinen engagieren oder in Regionalmuseen arbeiten, wo findet man geschichtsinteressierte junge Menschen dann? Manche von ihnen wohl bei Edith Michaeler und Fritzi Kraus. Im Podcast ›Erzähl mir von Wien‹ spazieren Michaeler und Kraus seit 2018 durch die Wiener Grätzel und haben sich damit eine treue Community aufgebaut. Michaeler ist Journalistin, Kraus Fremdenführerin. Ihre Rollen sind klar verteilt: Michaeler darf all das fragen, wofür man sich sonst geniert, es nicht zu wissen: Warum war Maria Theresia nicht offiziell Kaiserin? Wann wurde die Ringstraße gebaut? Und wieso heißt Floridsdorf eigentlich Floridsdorf? Kraus antwortet wie eine geduldige Großmutter und erklärt Ereignisse so, als wäre sie selbst überall dabei gewesen. 

Dieser leichte Einstieg in historische Themen ist den beiden ein großes Anliegen, wie Edith Michaeler betont. Praktisch jeder interessiere sich für Geschichte, lange sei diese aber von oben herab erklärt worden. Ihren eigenen Geschichtsunterricht habe Michaeler als ›unglaublich fad‹ in Erinnerung. Das sollte ihr Podcast ändern: ›Geschichte als Geschichten erzählen‹ war das Ziel. Damit erreichen sie heute ein breites Publikum. Michaeler erzählt von Kindern, die den Podcast beim Einschlafen anhören, ebenso wie von Pensionistinnen, die sich in Fritzis Erzählungen aus dem Wien der 50er-Jahre wiedererkennen und in ausführlichen E-Mails ihre Lebensgeschichten erzählen. 

Michaeler ist wichtig, die Community einzubinden und auf sie einzugehen. Große historische Institutionen wie Museen machen in ihren Augen oft den Fehler, besonders spektakuläre Ausstellungen oder Veranstaltungen zu planen, aber nicht darauf zu achten, ob ihre Besucher diese überhaupt verstehen. Hole man die Menschen schon von Beginn an bei ihren Interessen ab, verhindere man den Vorwurf, Geschichte nur für eine Elite zu erzählen.

Der Fokus auf Wiener Geschichte für ihren Podcast stand schnell fest, hier liegt Fritzi Kraus’ Expertise. Ein derart regionaler Podcast habe außerdem in Michaelers Augen noch gefehlt, regionale Geschichte sei vielen näher als Nationalgeschichte. Über die großen Bauten an der Ringstraße wisse man viel, die kleinen Besonderheiten Meidlings oder der Landstraße kenne aber kaum jemand. Kraus und Michaeler bespielen mit ihrer Oral History also genau jenes Feld, um das sich auch Heimatvereine bemühen – finden dabei via Internet aber in allen Altersklassen ein dankbares Publikum. 

Zukunftsvorsorge

Um Regionalgeschichte nicht nur erzählt zu bekommen, sondern an ihrer Erschließung mitzuwirken, musste Sarah Pamminger selbst aktiv auf den Bad Ischler Heimatverein zugehen. Sie erzählt von ihren anfänglichen Zweifeln, denn gerade Heimatvereine hätten im Salzkammergut oft den Ruf, sich nur um Brauchtumspflege und Trachten zu kümmern. Das Ortsarchiv für Bad Ischl kannte sie vor ihrem Praktikum gar nicht. Ihre Angst blieb unbegründet, ein Herantasten brauchte es aber dennoch, als plötzlich zwei sehr unterschiedliche Generationen aufeinandertrafen. 

Die Zusammenarbeit ist für Pamminger oft lustig und überraschend, insgesamt aber sehr bereichernd. Wenn es darum gehe zu entscheiden, Archivobjekte in der Datenbank mit Schlagworten zu versehen, würden die unterschiedlichen Vorstellungen der Mitglieder erkennbar. Pamminger würde gern jede Postkarte einzeln beschreiben, um sie später schnell wiederzufinden. Für ihre Vereinskollegen reicht oft ein Schlagwort für einen ganzen Stapel Karten, die Details hätten sie im Kopf. Dabei ginge es gerade bei der Datenbank-Anlage darum, Wissen zu verschriftlichen, das bisher nur in den Köpfen der Mitglieder steckt. Auch um es für die Zukunft festzuhalten. 

Für viele Schritte bei der Archivierung ist dieses mündlich weitergegebene Wissen der älteren Generation allerdings unabdingbar. Ein Beispiel: Wenn sie einen Stapel Fotos in die Hand bekommt, weiß Pamminger von den wenigsten, welcher Ort abgebildet ist. Johannes Eberl hingegen erkennt mit einem Blick, ob das Lehár-Theater oder die Pfarrgasse zu sehen ist und liefert die nötigen Hinweise für die Beschlagwortung im Computersystem schneller, als jede Google-Bildersuche es könnte. 

Erinnern und bewahren

Beim Heimatverein zu bleiben, war für Pamminger vor allem eine Entscheidung für eine Arbeit, die ihr sinnstiftend erscheint und für die sie sich jeden Donnerstag drei Stunden in den Archivraum setzt: Hier werden Dinge erinnert und bewahrt, die ohne den ›Erinnerungsschatz‹ im Altpapier gelandet wären. Elf Jahre nach der Eröffnung zeigen die 350 Kartons voller Dokumente, Urkunden und Postkarten, dass der Plan eines Ortsarchivs in der Bevölkerung angenommen wurde.  

Johannes Eberl würde sich zwar mehr junge Mitglieder wünschen, er bleibt aber positiv. Ein Drittel des Vereinsvorstands bestehe bereits aus Berufstätigen, knapp tausend Mitglieder habe man mittlerweile. Aber: ›Zeit haben eben nur die Pensionisten.‹ Während er das sagt, tippt Sarah Pamminger in die Tastatur des Computers im Eck. Herr Preims, der neben seiner Arbeit im Heimatverein auch seit 40 Jahren im Chor singt, kneift die Augen zusammen und versucht eine Urkunde zu entziffern. An der Tür klingelt es schon wieder, es ist der neue Obmann in spe. Nach 24 Jahren legt Herr Eberl sein Amt zurück, jetzt begebe er sich wirklich in den Ruhestand, sagt er. Nur um gleich nachzuschicken: ›Dem Heimatverein bleibe ich aber erhalten.‹ Auch mit 81 Jahren. •

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