Lob auf das Los

 Eine Reformidee für unsere repräsentative Demokratie.

DATUM Ausgabe November 2016

Europawut bringt uns nicht weiter. Wir tragen Verantwortung für uns und die, die nach uns kommen: Wie im letzten DATUM angedeutet, geht es an dieser Stelle stets um wenig sichtbare, jedenfalls denk- und machbare Ansätze zu alternativen europäischen Zukünften. Dass uns ein Fokus auf die Buchstaben eins und drei einer gedanklichen SWOT-Analyse Europas (Strenghts, Opportunities) guttäte.

Die Anregung in diesem Monat: David Van Reybroucks Buch ›Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist‹ (Wallstein 2016). Der belgische Historiker ist Autor des Landesporträts ›Kongo‹ und Mitinitiator des ›G1000‹-Modells, das mehr Mitsprache für die europäischen Bürger fordert. Van Reybrouck skizziert die Schwächen der repräsentativen Demokratie in Europa und nimmt Denkfiguren Slavoj Žižeks und der Politikwissenschaftler Colin Crouch und Bernard Manin auf. Er blickt auf historische Entscheidungen per Los genauso wie auf zeitgenössische Praktiken, etwa die Verfassungsprozesse in Island und Irland. Durch die Beschränkung auf Wahlen zerstören wir unsere Demokratie, folgert er; Lösungen lägen in der Kombination aus Los und Wahl.

Im alten Athen etwa wurden viele Ämter per Losverfahren zugeteilt, um persönlichen Einfluss zu neutralisieren und Bestechung zu vermeiden. Die Amtszeit war in der Regel auf ein Jahr beschränkt, keine Wiederwahl. Ausnahme: hohe militärische und finanzielle Ämter, siehe Perikles, der jahrelang immer wieder zum Strategen gewählt wurde. Man wollte eine möglichst große Gruppe teilhaben lassen und so Gleichheit realisieren (der Ausschluss von Frauen, Fremden, Minderjährigen und Sklaven aus dieser Demokratie ist hier jetzt explizit nicht Thema). Auslosung und Rotation gehörten zum Kern des demokratischen Athener Systems. Das Verfahren galt für Exekutive, Legislative und Judikative gleichermaßen. Aristoteles dazu: ›Von der Freiheit nun aber ist zunächst ein Stück, dass das Regieren und Regiertwerden reihum geht.‹

Später wurden in den Renaissancestädten Venedig und Florenz, in Frankfurt am Main, Aragón und Barcelona Losverfahren in Kombination mit Wahlen umgesetzt. In den 1990er-Jahren griff der US-Politologe James Fishkin das Athener Modell auf und ließ Großgruppen von Bürgern nicht nur abstimmen, sondern auch miteinander und mit Experten sprechen (Deliberation). Wenn Bürger sich von Beginn an an einem politischen Prozess beteiligen, die Unterstützung größer ist, nimmt die Tatkraft zu.

Van Reybrouck plädiert auch heute in Europa für die birepräsentative Demokratie: Sie nutze das Beste der populistischen Tradition, den Wunsch nach einer authentischeren Repräsentation – ohne die gefährliche Illusion eines monolithischen Volkes. Sie inkorporiere das Beste aus der technokratischen Tradition, die Wertschätzung der technischen Expertise nicht­gewählter Fachleute – ohne ihnen das letzte Wort zu überlassen. Sie nutze auch das Beste aus der Tradition der direkten Demokratie, die horizontale Kultur partizipativer Beratung – ohne den Antiparlamentarismus dieser Strömung. Und sie besinne sich auf das Beste der antiken repräsentativen Demokratie, die Bedeutung der Abordnung zum Regieren – ohne den einhergehenden Wahlfetischismus. Durch den Mix aus Los und Wahl wächst die Legitimität und steigt die Effizienz: Regierte erkennen sich besser in der Regie­rung wieder, Regierende können tatkräf­tiger regieren.

Wo so ein Modell erprobt werden könnte, um die Demokratie ihrer Zeit an­zupassen? Van Reybrouck, der das Buch vor Walloniens Ceta-Veto schrieb, hat eine spezifische Kammer im Auge: den belgischen Senat.

Die Autorin leitet den Bereich Internationales bei der Stiftung Mercator.