Notizen aus Utopia: Offene Grenzen für alle
Das ist nicht so naiv, wie es für manche klingen mag.
Das Publikum im Wiener Odeon staunte im Herbst des Jahres 2019 nicht schlecht, als der Schweizer Philosoph Andreas Cassee mit professoraler Abgeklärtheit und Systematik die gängigen Begründungen für nationale Grenzen hinterfragte. Wie schon (ausführlicher) in seinem außergewöhnlichen Buch ›Globale Bewegungsfreiheit‹ gelangte Andreas Cassee zu einem frappierenden Ergebnis: Es gibt keine ethisch schlüssige Rechtfertigung für die (gewalttätige) Abwehr von Migrantinnen an ›unseren‹ Außengrenzen. Die entscheidende Frage, ob sich ein staatliches Recht auf Ausschluss von Einwanderungswilligen legitimieren lasse, beantwortet er mit einem entschiedenen Nein. Daraus folgt, dass es keine ›illegalen‹ Flüchtlinge gibt.
Das mag von akademischer und theoretischer Warte aus so erscheinen, werden manche einwenden, aber was ist mit vermeintlich zwingenden pragmatischen Überlegungen? Es liege doch auf der Hand, dass nicht die ganze Menschheit zu ›uns‹ kommen könne! Dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken oder bei menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern (etwa in Griechenland oder Libyen) verenden, sei zwar bedauerlich, aber es gehe nun einmal nicht anders. Diese Haltung impliziert die zumeist unausgesprochene Meinung, diese Menschen seien selbst schuld, wenn sie sich ›illegal‹ auf den Weg machten.
Solche Überzeugungen sind emotional begründet und zudem bei näherer Betrachtung durchsetzt von rassistischen Ressentiments, die meist unreflektiert bleiben (die Bevorzugung ukrainischer Flüchtlinge in diesem Jahr hat dies noch einmal in aller Deutlichkeit vorgeführt). Wer die Rechte der eigenen ›Bürgerinnen‹ gegen die Rechte der Nicht-Bürgerinnen ausspielt, gibt zudem jeglichen universellen Anspruch auf. Menschenrechte gelten nur innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen, darüber hinaus irren Millionen Rechtlose durch Wüsten und über Meere, auf der verzweifelten Suche nach Würde.
Eine Welt ohne Grenzen ist nicht nur ethisch, sondern auch praktisch geboten. Mit anderen Worten, eine durch und durch vernünftige konkrete Utopie. Zum einen ist die kolportierte Vorstellung, dass alle Menschen im globalen Süden auf gepackten Koffern sitzen, weltfremd. Aussagekräftig sind die Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Gallup, im Internet frei einsehbar. Zwar möchten hunderte Millionen von Erwachsenen gerne auswandern, eine hohe Zahl, und doch ›nur‹ vierzehn Prozent der Erwachsenen weltweit. Eine weitere Grafik zeigt auf, dass dieser Wunsch unter einer Mehrheit der Befragten nicht einmal das Stadium der Planung erreicht hat – nur wenige bereiten sich konkret auf eine Ausreise oder Flucht vor. Die Entscheidung, alles hinter sich zu lassen, seine Nächsten ebenso wie seinen Lebensraum mit all den Gewohnheiten wie Sprache, kulturelle Traditionen und soziale Beziehungen, trifft niemand leichtfertig. Sie ist eine schmerzhafte Ultima Ratio, die sich manchen Menschen aufzwingt, unter bestimmten Bedingungen.
Zum anderen würden offene Grenzen – und das ist die vielleicht überraschendste Erkenntnis – einen höheren Wohlstand bedingen, nicht nur für die Flüchtlinge, wie gemeinhin unterstellt wird, sondern auch für die Einheimischen und somit für alle. Wirtschaftswissenschaftliche Studien haben hochgerechnet, dass sich das weltweite Bruttoinlandsprodukt erheblich erhöhen (bis hin zu verdoppeln) würde. Die Gründe: gesteigerte Produktivität, bessere Verteilung von Arbeitskraft sowie soziale Transferleistungen in den globalen Süden aufgrund der regelmäßigen Überweisungen, die Migrantinnen erfahrungsgemäß tätigen (jetzt schon hängen manche Länder am Tropf dieser Form der Umverteilung).
Außerdem würden die Flüchtlinge und Auswanderer ihre Haltung zum Ankunftsland ändern. Wem es in der Ferne nicht gefällt, wer sich aus was für Gründen auch immer nicht gut zurechtfindet, der oder die könnte problemlos die Heimreise antreten (quasi Migration mit Rückflugticket). Erst recht, wenn sich ›daheim‹ die politischen Verhältnisse ändern oder ein (Bürger-)Krieg beendet wird. Die Durchlässigkeit der Grenzen funktioniert natürlich in beide Richtungen: Aufbruch und Rückkehr. Dieses Phänomen nennt sich ›zirkuläre Migration‹.
Bemerkenswert ist, dass die momentane Strategie der Europäischen Union – wir erschweren Migration so weit wie möglich – kontraproduktiv ist, weil der Aufwand und das Risiko der Flucht derart enorm sind, dass sich alle, denen es trotzdem gelingt, verzweifelt an das Ankommen als einzige Option klammern und ihr mühsam erkämpftes ›Privileg‹ auf keinen Fall aufgeben wollen. Statt freiwillige Rückkehr brutale Abschiebung.
Ein Beweis für diese optimistisch-utopische Einschätzung sind die Erfahrungen mit Migrationsströmen innerhalb der EU. Trotz enormer Krisen in Griechenland oder Spanien, trotz anhaltender Armut in Rumänien und Bulgarien, ist nur ein Bruchteil der Bevölkerung aus diesen Regionen in den wohlhabenden Westen gezogen, obwohl generelle Freizügigkeit garantiert ist. Im Gegenteil: Die letzten Monate haben uns aufgezeigt, dass wir eher unter einem Mangel an Arbeitskräften leiden. Und es kann nicht oft genug wiederholt werden: Keines unserer zentralen ökologischen und ökonomischen Probleme hängt mit der Zahl an Flüchtlingen zusammen.
Die vielleicht wichtigste positive Folge offener Grenzen wäre nicht einmal materiell. Die Überwindung des herrschenden globalen Zweiklassensystems würde das universelle Menschenrecht, schon lange postuliert, endlich verankern, in ›einem weltweit inklusiven Gemeinwesen‹ (Jürgen Habermas). Die in Österreich oder einem anderen wohlhabenden Land Lebenden wären zudem intensiver konfrontiert mit den Zuständen und Zumutungen im globalen Süden, die sie ja teilweise mit verursachen, durch die Mechanismen von Ausbeutung, nicht nur der Bodenschätze, sondern auch der Menschen, durch ihren exzessiven Konsum und ihre mangelnde Solidarität. Das ist nicht so naiv, wie es für manche klingen mag. Die intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der ›Flüchtlingskrise‹ hat zwar einerseits zu einer Polarisierung geführt, andererseits aber auch viele Mitmenschen motiviert, sich zu engagieren, nicht nur beim Verteilen von Kleidung und Lebensmitteln, sondern auch politisch. Es ist vorstellbar, dass wir als Weltgemeinschaft enger zusammenwachsen würden. Das ist eine wünschenswerte Utopie, die natürlich keine Einbahnstraße bleiben sollte. Schön ist auch die Vorstellung, dass mehr Menschen aus Tirol nach Sikkim ziehen und einige Vorarlbergerinnen vom Bodensee an den Titicacasee. •
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