Provokationstoleranz
Warum Täter heutzutage so gerne behaupten, provoziert worden zu sein.
Jede Tragödie sucht immer nach einem Warum. Und es gibt ein Weil, das beschämender nicht sein kann. Jeder kennt es. Vor allem jede hat es schon einmal gehört, als leise Warnung vor dem nächsten potenziellen Unglück: ›Sie hat es provoziert.‹
Die Provokation ist der Blankoscheck der Barbaren, und zwar überall, auf der großen Weltbühne, im Netz, auf Lesungen berühmter Literaten, in den eigenen vier Wänden. Es ist die Rechtfertigung für jedes noch so abscheuliche Verhalten. Früher wurden die Provozierten zumeist belächelt, verspottet, gar verachtet für ihre empfindsamen Seelen, wenn sie mit Schaum vor dem Mund von Konsequenzen faselten für all das Respektlose, Unflätige und Grenzüberschreitende, das ihnen widerfuhr. All die gekränkten Männer, bigotten Kleinbürgerinnen und religiösen Fanatiker mit der Frustrationstoleranz von Zweijährigen, denen kein Meter in einer aufgeklärten Gesellschaft zu schenken war, wenn sich ihre verletzte Empfindsamkeit mörderisch entladen sollte.
Heute belächelt die potenziell Provozierten niemand mehr. Man begegnet ihnen mit Sorge und Vorsicht. ›Haben wir Russland provoziert?‹ fragt die deutsche Heinrich-Böll-Stiftung auf einem Diskussionspanel. ›Pelosi-Besuch Taiwans provoziert China‹, warnten Kommentatoren weltweit, als die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi nach Taiwan reiste, in jenen demokratischen Inselstaat, den China als abtrünnige Provinz der Volksrepublik betrachtet und jedem, der das anders sieht, mit ›Bestrafung‹ droht. Auch den Suizid der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr begleitete die gleiche Geräuschkulisse. Sie hätte sich vor ihrem Tod öffentlich schon sehr exponiert in der Pandemiediskussion und damit ›offenbar aggressive Corona-Leugner und radikale Impfgegner provoziert‹ (NZZ). Als könnten die Provozierten gar nicht anders, als der – vermeintlichen – Provocatrice mit dem Tod zu drohen. Als wären Massakrierungswünsche ein natürlicher Reflex jedes brüskierten Menschseins.
Woher rührt das Verständnis? Warum dieses großmütige Weil gegenüber Tätern, deren Reaktionsvermögen auf Provokationen jede Verhältnismäßigkeit entglitten ist? Vermutlich rührt es genau aus dieser Unverhältnismäßigkeit.
Wer heute intendiert oder nicht-intendiert, bewusst oder unbewusst, vermeintlich oder tatsächlich provoziert, riskiert immer einen Vernichtungsschlag. Daher auch die Rücksicht auf all jene, die nicht anders können als zu annektieren, einzumarschieren, ihre Abschlachtungsfantasien zu artikulieren und gegebenenfalls auch auszuleben. Sie wurden ja schließlich provoziert. So wie das Kind in der Klasse, das die anderen schikaniert und am Ende noch prophylaktisch gehätschelt wird, um weitere tyrannische Aussetzer zu vermeiden. Bei Kindern mag dieser Ansatz funktionieren, von Erwachsenen darf man mehr erwarten. Dass sie sich im Griff haben, dass sie Provokationen ertragen können, ohne in einen Auslöschungsrausch zu verfallen – und dass sie im Stande sind, ihr Gesicht zu wahren. Nur sie allein tragen die Verantwortung dafür. Ausschließlich sie, niemand sonst.
An dieser Provokationstoleranz gilt es zu arbeiten, sie zu trainieren, nicht zu versuchen, Provokationen zu vermeiden. Denn sie halten eine Gesellschaft wach. Sie rütteln an Tabus und wagen Gedankenexperimente, die eines Tages vielleicht gar Wirklichkeit werden können. Und so schmerzhaft, vulgär und schier dumm sie auch manchmal sein mögen, keine Provokation rechtfertigt eine Reaktion, die andere in den Abgrund reißt. Und noch viel weniger das Verständnis dafür. •
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