›Serbien ist eine One-Man-Show‹

Dejan Anastasijević war Kriegsreporter, sagte in Den Haag gegen Slobodan Milošević aus und überlebte einen Anschlag. Ein Gespräch über sein Land.

·
Fotografie:
Martin Valentin Fuchs
DATUM Ausgabe Juni 2017

An diesem Sonntagnachmittag muss man als Fußgänger in Belgrad Haken schlagen. Es regnet wie aus Kübeln. Die Schlaglöcher im Asphalt füllen sich, die Regenrinnen laufen über. Entlang des Boulevards Kralja Aleksandra, der längsten Straße der Stadt, ist kaum jemand unterwegs. Man fragt sich, wo die tausenden unzufriedenen Menschen geblieben sind, die hier zuletzt lautstark Reformen verlangt haben. Die Metapher, die der Investigativjournalist Dejan Anastasijević später benutzen wird, passt zum Wetter: ›Sie haben nur ihre Zehen ins Wasser gesteckt.‹ In einem Café nahe dem Boulevard zieht er an seiner E-Zigarette. Am Ende des zweistündigen Gesprächs wird ein geöffnetes Päckchen Marlboro am Tisch liegen.

Schon lange nicht mehr sind in Serbien so viele Menschen protestieren gegangen wie Anfang April. Was war da los?
Der Protest hat nach der Präsidentenwahl begonnen, die Ministerpräsident Aleksandar Vučić haushoch gewonnen hat. Wahlmanipulation ist im Raum gestanden, die Leute auf der Straße wollten keine fünf Jahre mehr mit ihm. Jetzt wissen weder die Opposition noch die Demonstranten, wie sie mit der Energie umgehen sollen, die der Protest freigesetzt hat. Sie entschwindet wie die Luft aus einem Ballon.

Waren auch Sie auf der Straße?
Nein, ich war nur ein paar Mal als Journalist dort. Das ist eine andere Generation. Ich hatte das Gefühl, in eine Teenagerparty zu krachen. Vermutlich haben sich die Kids gedacht: Wer ist dieser alte Sack da?

Dieser ›alte Sack‹ hat früher auch protestiert. Und zwar gegen den sozialistischen Staatschef Milošević, später in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt.
Gegen Milošević hat es in den Neunzigerjahren jedes Jahr große Proteste gegeben. Davor, in den Achtzigerjahren, habe ich für ein Studentenmagazin über Comics und Literatur geschrieben. Mich hat das damals richtig glücklich gemacht. Dann, 1991, sind die ersten Schüsse in Kroatien und Slowenien gefallen. In Belgrad habe ich mit anderen Studenten gegen den Krieg protestiert. Als Panzer aufgerollt sind, war uns klar, dass das kein Spiel ist. Ich bin nach Wien geflohen, um nicht in der Armee dienen zu müssen.

Warum gerade Wien?
Meine Ex-Freundin hat dort gelebt. Eine dieser Sommeraffären. Ich hatte sie auf einer Fähre in Dubrovnik kennengelernt. Inzwischen hatte sie wieder einen neuen Freund und hat mir eine Zeit lang ihre Wohnung überlassen. Zuerst habe ich die Stadtzeitung Falter auf der Straße verkauft. Ich war sehr schlecht darin, weil ich kein Wort Deutsch konnte. Später habe ich für 350 Schilling am Tag Briefumschläge in der Redaktion verpackt. Irgendwann habe ich mich gefragt: ›Was zur Hölle tust du hier? Jeder Reporter auf der Welt fährt nach Jugoslawien, und du sitzt in Wien und sortierst Werbeprospekte.‹

Hatten Sie Angst zurückzugehen?
Ja. Nicht davor, dass die Armee mich findet und ich eingezogen werde. Ich habe gewusst, wie man sich versteckt. Ich hatte Angst vor dem Krieg im Allgemeinen und was er mit meinem Land und den Menschen, die ich liebe, machen wird. Ich hätte länger in Wien bleiben können, aber am Ende bin ich doch gegangen. Ich habe den Comicheften abgeschworen und beschlossen, Kriegsreporter zu werden. Ich bin süchtig geworden nach dem Adrenalin, das dich high macht. Irgendwann hast du keine Angst mehr, wenn wenige Meter von dir entfernt etwas explodiert. Du konzentrierst dich nur noch auf die Story. Also bin ich Korrespondent für das US-amerikanische Time-Magazin geworden und habe von den Krisengebieten im ehemaligen Jugoslawien berichtet.

Sie sind im Kosovo gelandet …
Von 1997 bis 1999 habe ich aus dem Kosovo berichtet, wo sich der Konflikt mehr und mehr zu einem Krieg ausgedehnt hat. Eine Zeit lang war ich der einzige Serbe in Pristina. Als dann die Nato serbische Ziele in Jugoslawien bombardiert hat, wurde ich vom serbischen Geheimdienst als Spion verdächtigt. Sie haben meine Familie bedroht. Mir ist keine andere Wahl geblieben, als zu flüchten. Das war gar nicht so einfach, weil ich unter Beobachtung war.

Wie haben Sie es geschafft, das Land zu verlassen?
Ich habe die damalige Redaktion des Time-Magazins in Wien kontaktiert und sie gebeten, mir als Vorwand einen ›wichtigen Auftrag‹ in Montenegro zu geben. Mein Chef hat darauf bestanden, dass ich ausreisen darf. In Podgorica habe ich die SIM-Karte aus meinem Handy genommen und sie die Toilette hinuntergespült.

… und sind wieder nach Österreich gekommen. Warum sind Sie 2000 erneut nach Serbien zurückgekehrt?
Milošević hatte die Präsidentenwahl verloren, wollte aber das Ergebnis nicht akzeptieren. Er hat alternative Zahlen präsentiert. Massive Proteste haben sich angekündigt, und ich wollte dabei sein. Ich habe noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen. Auf dem Boulevard Kralja Aleksandra, wo wir gerade sitzen, hat sich eine drei Kilometer lange Demonstration gebildet. Es war großartig. Polizei und Armee haben sich irgendwann geweigert, Befehle auszuführen. Sie alle wussten: Wer auch immer jetzt schießt, wird am Ende des Tages tot sein. Also haben sie Milošević hintergangen. Er ist zurückgetreten, festgenommen und nach Den Haag ausgeliefert worden.

Sie waren dann einer der Ersten, die im Prozess gegen ihn ausgesagt haben.
Ich wollte auch in anderen Fällen aussagen. Aber dann, 2007, hat eine Granate mein Haus getroffen. Es war ein Versuch, mich zum Schweigen zu bringen. Später habe ich herausgefunden, dass das Tribunal in Den Haag mich nicht informiert hatte, dass ich seit Monaten auf der Zeugenliste war. So etwas kann gefährlich sein, wie man sieht. Heute bin ich Pessimist und gehe immer vom schlimmsten Szenario aus. Nur, damals, im Jahr 2000, war ich der Meinung, dass Proteste ein unliebsames System stürzen können.

Die Jungen haben nach drei, vier Tagen aufgegeben und sind in die Osterferien gefahren, um ihre Großeltern zu besuchen. So stürzt man keine Diktatur.

Und heute?
Heute haben die Jungen nach drei oder vier Tagen aufgegeben und sind in die Osterferien gefahren, um ihre Großeltern zu besuchen. So stürzt man keinen Diktator.

Ist Serbien eine Diktatur?
Nein. Aber wer auf die Straße geht, der kann nicht rufen: ›Stoppt dieses halbautoritäre Regime, bevor es schlimmer wird.‹ Du brauchst einen Slogan, der zieht.

Die Slogans der jüngsten Proteste sind also eine Warnung?
Was sie uns sagen wollten, war: Serbien ist auf dem Weg, ein Einparteiensystem zu werden. Und sie haben recht. Wenn du in diesem Land einen Job willst, dann gehst du nicht zum Arbeitsamt, du gehst zu Vučićs Serbischer Fortschrittspartei. Sie haben eine eigene Agentur, die Parteimitglieder vermittelt. Dann hast du zwar einen Job, musst aber für die Partei stimmen, wenn du ihn behalten willst.

Es heißt, in Serbien werden gerade die Medien auf Linie gebracht.
In Serbien gibt es das Gerücht, dass Vučić den Boulevardblättern jeden Tag die Titelseiten diktiert. Ich glaube, dass dieses Gerücht wahr ist. Serbien ist eine One-Man-Show, und wenn du kritischen Journalismus machen willst wie meine Wochenzeitung Vreme, dann werden dir einfach die Inserate abgedreht. In Serbien gibt es drei Agenturen, die Medien Inserate vermitteln, und alle drei sympathisieren mit der Regierung. Vučić will, dass wir alle im Chor singen, und wenn dir das Lied nicht gefällt, dann spürst du die Konsequenzen.

Wie tickt dieser Vučić?
Manchmal erinnert er mich an Trump, aber ich glaube, dass er viel klüger ist. Vučić ist seit seinem 18. Lebensjahr in der Politik, seit 2012 war er Regierungschef. Im Regieren ist er nur halb so gut wie im Wahlkämpfen. In Wirklichkeit hat er nie aufgehört, Wahlkampf zu machen. Jeden Tag sieht man ihn im Fernsehen. Ständig schreit er oder schürt Skandale. Manchmal eröffnet er dieselbe Fabrik gleich mehrere Male, um zu zeigen, wie viele Jobs er schafft. (lacht) Und niemand stellt ihn zur Rede. Überall wird er gemocht: in Moskau, in Brüssel, in Wien. Mit Sebastian Kurz führt er eine Art Liebesaffäre. Sie himmeln einander regelrecht an.

Woher kommt diese internationale Beliebtheit?
Er wird als Stabilitätsfaktor gesehen. Und tatsächlich erscheint Serbien gerade stabil, wenn man es mit seinen Nachbarn vergleicht. Bosnien, der Kosovo, Albanien, Mazedonien und Kroatien wechseln sich mit politischen und wirtschaftlichen Krisen ab. Vučić wirkt wie einer, der seine Hausaufgaben macht.

Im Februar hat die serbische Regierung einen Zug mit der Aufschrift ›Kosovo ist Serbien‹ gen Süden gesandt. Flammt auf dem Balkan ein neuer Nationalismus auf?
Der Zug war eine Provokation aus Belgrad, mehr nicht. Pristina hat überreagiert; es wäre nicht notwendig gewesen, gleich die Spezialeinheit an die Grenze zu schicken. Nein, ich sehe keinen neuen Nationalismus auf dem Balkan. Was ich sehe, und zwar in Serbien, Mazedonien, Albanien, dem Kosovo und Kroatien, sind korrupte Regime, die Vorfälle und Skandale inszenieren, um von den wahren Problemen abzulenken.

Hat es nicht genau so in den Achtzigerjahren angefangen? Damals hat Milošević den Serben im Kosovo zugerufen: ›Niemand darf euch schlagen!‹ Im Jänner 2017 hat der ehemalige Präsident Tomislav Nikolić gepoltert: ›Wenn Serben im Kosovo umgebracht werden, schicken wir die Armee.‹
Die Situation ist nicht vergleichbar. Milošević hatte damals territoriale Interessen. Er wollte Serbien ausdehnen und Teile Bosniens und Kroatiens annektieren. Er hatte verstanden, dass Jugoslawien, wie es unter Tito existiert hatte, nicht mehr haltbar war, also hat er sich genommen, was in seinen Augen ihm gehört hat. Deswegen mussten viele Menschen ihr Leben lassen. Vučić hingegen will Serbien nicht größer machen, als es ist.

Das Gerede von einem Großalbanien und Großserbien existiert also nur in den Medien?
Ja. Ich sehe derzeit keine politische Kraft auf dem Balkan, die Ernst machen und die Grenzen erweitern würde. Das ist der größte Unterschied zu 1991. Es gibt keine große, föderale Armee, die einsatzbereit wäre. Zudem ist ein Großteil der Balkanländer bereits Teil der Nato oder Beitrittskandidat.

Russland möchte die Nato-Erweiterung verhindern, beispielsweise in Montenegro.
Dass Putin auf dem Balkan hat Fuß fassen können, liegt auch am Versagen der EU und der internationalen Gemeinschaft. Wenn du den Spielplatz verlässt, werden neue Player hinzukommen. China und die Türkei zum Beispiel. Aber Russland ist nicht schuld an den Problemen, die der Balkan hat. Nehmen wir Mazedonien. Es war eines der ersten Länder auf dem Balkan, die vor zwölf Jahren Beitrittskandidaten von EU und Nato geworden sind. Aber Brüssel hat es toleriert, dass Griechenland ein Veto über das Land verhängt und es über Jahre hinweg blockiert. Nikola Gruevski war einmal ein liberaler, proeuropäischer Typ. Aber als er begriffen hat, dass ihn die EU kein Stück näher heranlässt, hat er sein eigenes Spiel begonnen.

Wird Vučić in Serbien dasselbe tun?
Er legt einen Balanceakt zwischen Osten und Westen hin, der bis jetzt zu funktionieren scheint. Ich glaube, er will, dass Serbien Teil der EU wird – und zwar während er an der Macht ist. Aber wenn Brüssel die Tür zumacht, wird er sofort umschwenken. Schon jetzt wittert er überall äußere Feinde. Zum Beispiel den US-amerikanischen Investor George Soros. Laut Vučić soll er die jüngsten Proteste finanziert haben.

Hat er recht?
Nein! Solche Verschwörungstheorien hört man hier jeden Tag. Die Regierung hat eine bedrohliche Atmosphäre geschaffen. Es ist nicht leicht, seine Leser in diesen Zeiten zu informieren. Jene Leute, die protestieren waren, die lesen meine Zeitung Vreme und schauen kritische Kabelsender wie N1. Aber es sind zu wenige.

Die Alten sind das Problem?
Es gibt etwas in diesem Land, das noch mächtiger ist als die Medien: die Drohung, den Job zu verlieren. Ich glaube, der Großteil glaubt nicht, was Vučić da dem Boulevard diktiert. Die Serben wollen kein Risiko eingehen. Sie tun, was man ihnen sagt. Du kannst von den Menschen nicht verlangen, in einer Wirtschaftskrise Helden zu spielen.

Was sollen die Jungen jetzt tun?
Wenn jemand dieses Land verändern wird, dann sie. Für mich waren die jüngsten Proteste ein Wunder. Denn die Jungen wollen nur eines: weg von hier. Aber nicht jeder wird gehen, und nicht jeder, der gehen will, wird es schaffen. Wer hierbleibt, muss fallen und wieder aufstehen. Wie man ein unliebsames Regime stürzt, lernt man nicht aus Büchern, sondern auf der Straße. Stabilität ist der Schlüssel. Du musst das Recht einfordern, das gebrochen wurde. Ein Aktivist muss mehr tun, als seine Zehen ins Wasser zu stecken. Die nächste Generation macht gerade ihre ersten Babyschritte. So lernt man Laufen.