Datum Talente

›Sie gibt uns jeden Tag so viel Liebe‹

Vom Mobbing-Opfer zum TikTok-Star: Wie die 16-jährige Burgenländerin Marlene Loos als ›Malentschi‹ die Jugend begeistert.

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Illustration:
Christian Hummer-Koppendorfer
DATUM Ausgabe März 2020

Marlene und ihre Oma sitzen nebeneinander am Esstisch, der unter lauter Zetteln und Büchern kaum mehr zu sehen ist, und schauen in die Smartphonekamera. Das Handy spielt einen fröhlichen Popsong ab, Marlene dreht den Kopf nach rechts, zeigt mit beiden Zeigefingern zur Decke und kippt die Handflächen. Als der Sänger › It‘s going round and round ‹ singt, dreht sie dazu passend ihren Kopf, formt dann mit den Händen ein Herz und fährt sich durch ihre dunklen Haare. Ihre Oma, die auch im Sitzen einen Kopf kleiner ist als sie, gibt sich Mühe mitzumachen und schwingt die Hände konzentriert rauf und runter. Am Ende kreist sie sogar die Schultern, Marlene lacht. Dann lädt sie das Video auf der App TikTok hoch.

Mitte Februar 2020, rund anderthalb Jahre später, haben über 724.000 Menschen das Video gesehen. Marlene stellt jetzt nicht mehr nur zum Spaß Videos auf TikTok – Marlene alias › Malentschi ‹ ist jetzt Infuencerin. Über 228.000 Personen folgen ihr auf TikTok, auf Instagram sind es über 31.000. Ihre Fans nennen sich › MalentschisFam ‹, organisieren Fantreffen, um sich über ihr Idol auszutauschen, und betreiben Fanseiten, auf denen sie Bilder von ihr posten. Allein auf Instagram gibt es rund 60 solcher Seiten. Für Erwachsene ist diese Faszination schwer zu verstehen, denn die Teenie-Stars von früher hatten Talente, für die sie bewundert wurden: Sie konnten besonders gut singen, tanzen oder spielten in beliebten Serien und Filmen mit. Influencer aber sind nicht für bestimmte Talente berühmt, die sie präsentieren, sondern dafür, dass sie sich selbst darstellen. Was bewundern Jugendliche daran, was macht das Phänomen aus? Und wie sieht das Leben der jugendlichen Influencer aus, die ihre Berühmtheit oft innerhalb von wenigen Tagen und scheinbar zufällig erlangen? Wie hat sich ihr Leben durch ihre plötzliche Berühmtheit verändert und wie schwer fällt es ihnen, ein › normales ‹ Teenager-Leben zu führen?

Mitten im 23. Wiener Gemein­debezirk, wo der Bus nur jede halbe Stunde hinfährt, parkt Mar­lenes Uber. Heute haben sie die El­tern von Leonardo, einem 15-jährigen Teenager, als Über­raschungsgast für seine Geburts­tagsfeier gebucht. Sie steigt aus dem schwarzen Großraumauto und findet sich vor einer modernen Wohnhausanlage wieder, die aus einer Ansammlung mehrstöckiger, weißer Häu­serblöcke besteht. Marlene wartet kurz, bis eine Frau winkend auf sie zukommt, gefolgt von einem großgewachsenen Teenager im weiß-grauen Hollister-T-Shirt und zwei jüngeren Mädchen. Als die Gruppe bei ihr angekommen ist, fällt zunächst kein Wort, sondern Leonardo Marlene in den Arm und drückt sie fest an sich. Sie erwidert die lange Umarmung, als wäre es selbstverständlich für sie, von Fremden geherzt zu werden. Als Leonardo sie wieder loslässt, gehen sie in einen Gemeinschaftsraum, der mit einem Tisch­tennistisch und einem kleinen Bällebad ausgestattet ist. Die linke Seite des Raums nimmt ein langer, mit einem weißen Tischtuch gedeckter Esstisch ein, an dem noch niemand Platz genommen hat. Leonardos Vater schüttelt Marlene die Hand, und die Mutter nimmt ihr die schwarze Handtasche ab, um sie zu verstauen. Es wirkt, als würden sie eine Erwachsene auf der Party willkommen heißen, und keine 16-Jährige mit Löcherjeans. Marlene setzt sich neben Leonardo an den Esstisch, gegenüber sitzen seine kleine Schwester und Cousine und beäugen sie neugierig. › Was habt ihr heute alles Schönes vor? ‹, fragt Marlene. › Einfach mit der Familie feiern ‹, sagt Leonardo. › Wie viele Leute hast du eingeladen? ‹ › 20 oder so. ‹ › Cool. ‹ Marlene versucht die Unterhaltung am Laufen zu halten, aber sie kommt nicht so recht in Gang. Sie lächelt trotzdem weiter und lässt sich nicht anmerken, dass die Situation un­angenehm ist. › Können wir dann ein TikTok machen? ‹, fragt Leonardo. › Ja, sicher. ‹ Sie stehen auf und gehen am Handy die Musikauswahl durch, bis sie sich auf einen Liedausschnitt von Rihanna einigen. Plötzlich sind beide in ihrem Element. Leonardo holt schnell eine Konfettikanone, und auf drei, zwei, eins geht es los. 15 Sekunden lang bewegen sie hauptsächlich die Arme, dann gibt es einen lauten Knall und Konfetti rieselt auf den grauen Plastikboden.

Leonardo ist Einserschüler, liebt Sprachen und möchte sie später auch unterrichten, erzählt seine Mutter stolz. Dass er nach der Schule studieren möchte, ist für sie offensichtlich etwas Besonderes. Weil Französisch seine liebste Sprache ist, haben sie und Leonardos Vater ihm zum 14. Geburtstag eine Paris-Reise geschenkt, dieses Jahr wollten sie ihn mit Malentschis Besuch überraschen. Malentschi gehört zu seinen Lieblingsinfluencerinnen, jeden Abend sieht er sich ihre neuesten TikTok-Videos an. › Die Schule ist immer so anstrengend ‹, sagt er, › ihr Lächeln muntert mich auf. ‹
Der Gemeinschaftsraum ist noch immer fast leer, als Marlene und Leonardo sich erneut vor einem iPhone positionieren. Diesmal sind auch seine Cousine und Schwester dabei. › All I want for Christmas is ‹ singt Christina Aguilera, dann löst der Rapper Soulja Boy sie mit › Youu ‹ ab. Die Vier tanzen eine Choreografie zu dem kurzen Musikschnipsel – alle haben oft genug TikTok benutzt, um zu wissen, wie man sich zu diesem Lied bewegt. Denn viele Tänze, darunter dieser, gehen viral auf TikTok und werden von unzähligen Nutzern nachgetanzt. Für einige Choreografien gibt es sogar Tutorials. Dabei geht es nicht darum, dass sie so perfekt wie möglich beherrscht werden müssen – am erfolgreichsten sind oft die Videos, die lustig und kreativ sind, so wie das Video von Malentschi mit ihrer Oma. Neben Tänzen gibt es auch Challenges und › Trending Hashtags ‹ auf TikTok, wie etwa den Hashtag #dollypartonchallenge. Den Namen der Country-Ikone trägt der Hashtag deshalb, weil die Sängerin auf Instagram eine Fotocollage mit vier Bildern von sich gepostet hat, die sie den sozialen Netzwerken Instagram, LinkedIn, Facebook und Tinder zuordnet. Damit hat sie einen Trend ausgelöst, und nun posten auch zahlreiche TikTok-Nutzer Videos der Outfits, mit denen sie sich auf den genannten Plattformen darstellen. TikTok-Clips dürfen dabei nicht länger als 15 Sekunden sein und sind daher meist genau getaktet.

Nach ein paar Versuchen sind Marlene und Leonardo zufrieden mit dem Video. Es ist eines von vielen, das sie heute drehen werden. › Das haben wir schließlich gemeinsam ‹, sagt Marlene. Sie gehen auf eine Wiese hinter dem Wohnblock, hier draußen haben sie eine zweite Location für ihre Videos und Fotos gefunden, zumindest so lange, bis es ihnen zu kalt wird und sie wieder hinein wollen. Bald sind die Sessel am Tisch von Leonardos Uroma, Tanten, Onkeln und dem Rest der Familie belegt. Nicht alle scheinen zu verstehen, wer da mit ihnen am Tisch sitzt, manche schauen skeptisch, andere schmunzeln. Leonardos Eltern servieren Fleisch, Würstel und Fetasalat in Aluschalen, dazu gibt es Fladenbrot und Cola. Via Alexa spielen sie Balkanmusik ab, die die Stille zwischen Leonardo und Marlene übertönt. In dem Video, das Marlene während der Party von sich und Leonardo auf Instagram postet, hüpfen die beiden aber im Freien lachend in die Luft, während Leonardos zweite Konfettikanone explodiert. Dazu postet sie ein Bild von sich, auf dem sie auf der Wiese hinter dem Haus lachend vor einem rot gefärbten Himmel posiert. Eine Stunde danach haben das Foto und das Video schon über tausend Likes.

Als es draußen dunkel ist und die Feier dem Ende zugeht, stellen sich Marlene und Leonardos Eltern vor den Gemeinschaftsraum, darauf bedacht, dass sie alleine sind. Die Mutter zündet sich eine Zigarette an und redet über die wütenden Kommentare, die sie erhalten hat, nachdem sie im Internet unter eines von Marlenes Bildern geschrieben hatte, › ob man sie auch buchen kann. ‹ › Malentschi ist kein Objekt! ‹, hieß es von anderen Usern. Marlene findet den Kommentar von Leonardos Mutter nicht schlimm, letztendlich sei das ihr Job, sagt sie. In der letzten Stunde hat sie die anwesenden Kinder und Jugendlichen zum Sesseltanz, Tischtennis- und Uno-Spielen animiert. So, wie die drei miteinander reden, wirkt es wie ein Gespräch unter Geschäftspartnern. Bevor sie geht, so machen sie es sich aus, werden sie ihr das Geld mitgeben, das sie heute verdient hat. Wie viel das ist, bleibt unter ihnen.

2014 ist Marlene noch kein Stargast auf Geburstagspartys, sondern zehnjährige Einwohnerin der burgenländischen Gemeinde Illmitz. Sie wohnt auf dem Bauernhof ihrer Eltern, umgeben von Kühen, Hühnern und Ponys, ist Ministrantin und geht oft mit ihrer Familie in die Kirche. Im selben Jahr veröffentlichen die Chinesen Alex Zhu und Luyu Yang die App Musical.ly, auf der Nutzer kurze Videos hochladen und mit Spezialeffekten bearbeiten können. Im April 2017 sind bereits über 200 Millionen Menschen auf der Plattform registriert, darunter auch die inzwischen 13-jährige Marlene. Anfangs lädt sie nur wenige Videos von sich hoch, mit der Zeit werden es immer mehr. Unter ihren Videos hätten sich Hasskommentare und Beleidigungen gehäuft, fast täglich seien welche gepostet worden, erzählt sie. Damals geht es ihr schlecht und sie leidet unter dem Cyber-Mobbing. Als sie aber im August 2018 ein Video mit ihrer Oma hochlädt, hören die Klickzahlen nicht auf, in die Höhe zu steigen. Aus über tausend werden über zehntausend und daraus wiederum über hunderttausend Klicks. Schlagartig hat Marlene eine Bühne auf der App und ein Publikum, das im Zuschauerraum sitzt. Sie dreht noch mehr Videos mit ihrer Oma und verbringt immer mehr Zeit auf der App. Die heißt zu dem Zeitpunkt nicht mehr Musical.ly, sondern TikTok, denn sie ist vom chinesischen Unternehmen › Bytedance ‹ aufgekauft worden. Für Marlene ändert das jedoch kaum etwas, die Zahl ihrer Follower, die vor allem aus dem deutschsprachigen Raum kommen, klettert weiter nach oben.

› Mama, i mog des nimma ‹, sagt Marlene zu ihrer Mutter. › I kea do ned hea. ‹ › I woaß, Mäuschen ‹, sagt die Mutter. › Nimm deine Sochn und foa und leb dein Traum. ‹ Es ist ein paar Tage her, dass Marlenes Video mit ihrer Oma über hunderttausend Aufrufe erzielt hat. In den letzten Monaten hat sie der Wunsch umzuziehen nicht mehr losgelassen. Sie hat das Gefühl, in ihrer Gemeinde von Vielen für ihren Online-Auftritt verurteilt zu werden und möchte endlich hinaus in die Großstadt. Heute, beschließt sie spontan, fängt sie mit dem Umzug an. Gemeinsam packt sie mit einer Freundin Jeans, Shirts, Make-Up, Bilderrahmen und andere Teile ihres Zimmers in Kartons und stellt sie in den Kofferraum des Autos ihrer Eltern. Am Tag darauf fährt ihre Mutter sie nach Wien, wo sie die Kartons in einer leerstehenden Wohnung ihrer Tante, die im selben Haus wohnt, abstellen. Im September hat sie alles ausgepackt und ihre Wohnungswände mit Briefen und Zeichnungen beklebt, die sie bei ihrem ersten Fantreffen bekommen hat. Sie wohnt jetzt allein, in den ersten Monaten nach ihrem Umzug besucht sie ihr Vater einmal die Woche nach der Arbeit. Marlene gewöhnt sich rasch daran, auf der Straße nicht mehr jeden zu grüßen, sie selbst wird hingegen oft von Fans angesprochen, die Fotos oder TikToks mit ihr machen wollen. › Manche verfolgen mich bis zur Haustür ‹, sagt sie. › Meine Wohnung ist der einzige Bereich, in dem ich manchmal Privatsphäre habe. ‹ Auch ihre Mutter kommt immer wieder nach Wien. Wenn Marlene von ihr spricht, erwähnt sie meist im nächsten Satz, wie wichtig ihre Mutter für sie ist. Beim Umzug sei sie hinter ihr gestanden, denn auch sie habe schon immer gewusst, dass Marlenes Platz in der Stadt und nicht am Land sei, sagt sie. › Ich habe immer geglaubt an sie und habe es ihr immer gewünscht ‹, sagt Marlenes Mutter Michaela über ihren Erfolg auf TikTok. › Aber dass es einmal so weit kommt, hätte ich nie gedacht. Ich hab’ mich total gefreut für sie. ‹ Damit sie mitverfolgen kann, was Marlene postet, hat Michaela sich einen Instagram-Account zugelegt.

Weil die Modeschule Herbststraße ganz in Marlenes Nähe ist, geht sie jetzt dort zur Schule, in die erste Klasse Oberstufe. Letzten September ist sie in eine neue Klasse gekommen, denn sie musste ein Jahr wiederholen. › Anfangs war das nicht leicht ‹, sagt sie, › ein Teil der Klasse hatte sich schon eine Meinung über mich gebildet. ‹ Mittlerweile würden sie ihre Mitschüler aber unterstützen, als sie letztens in Linz den › Internet Stars Live Award ‹ in der Kategorie › Lifestyle‹ verliehen bekommen hat, hätten sich alle für sie gefreut. Auch ihre Lehrer wüssten von ihrer Influencer-Karriere, sagt Marlene, denn bei Lehrausgängen würden oft Fans auf sie zukommen. Ihr letzter Klassenvorstand habe sie sogar häufig auf ihre neuesten Postings angesprochen. Ihre TikToks filmt Marlene oft in der Pause, wenn die meisten Klassenkollegen den Klassenraum verlassen haben. In einem Video, das fast 60.000 Menschen gesehen haben, stehen sie und eine Mitschülerin auf einem Tisch mitten im Klassenzimmer und tanzen nicht ganz synchron eine kurze Choreografie. Fast alle Tischreihen sind leer, nur in der ersten sitzt ein Mädchen, hinter deren Rücken Marlene und ihre Klassenkollegin die Arme in der Luft kreisen lassen. In einem anderen Clip tanzt sie mit derselben Mitschülerin in einer blauen Klokabine, während ihr Smartphone einen Hip-Hop-Song abspielt.

Heute erreicht TikTok geleakten Firmendokumenten zufolge mehr als 800 Millionen Nutzer welt­weit, und die meistgesehenen Videos bewegen sich im Milliar­denbereich. Die App bietet Unterhaltung in End­losschleife in Form einer scheinbar unendlichen Menge an Videos. So­bald es in TikTok-Clips aber um mehr als Unterhaltung geht, hört der Spaß auf. Kritiker werfen dem Unter­neh­men › Bytedance ‹ die Zensur von politischen Inhalten vor, denn chinakritische Beiträge verschwinden immer wieder von der Plattform. › Bytedance ‹ hat bereits zugegeben, TikToks, die von Menschen mit Behinderung und Homosexuellen hochgeladen wurden, in ihrer Reichweite beschränkt zu haben. Auch Marlene ist es passiert, dass eines ihrer Videos, in dem zwei ihrer Freunde sich küssen, gesperrt wurde. › Das ist schon ein bisschen länger her, aber verstehen tu ich’s auf keinen Fall, weil TikTok eine App ist, die eigentlich aussagt, dass Homosexualität okay ist ‹, sagt sie. Neben Zensurvorwürfen steht das Unter­nehmen im Verdacht, Nutzerdaten an Peking weiter­zugeben. Trotzdem wird die App vor allem bei Jugendlichen immer beliebter.

Auch in Österreich ist TikTok längst angekommen. Zu den erfolgreichsten Influencern gehört die 18-jährige Lisa-Marie Schiffner aus Kärnten, die auf TikTok zwei Millionen Follower hat. Influencer-Marketing in einer anderen Größenordung als in Österreich findet in den USA statt. US-amerikanische Influencer haben meist ein internationales Publikum und kooperieren mit globalen Unternehmen – die weltweit erfolgreichste TikTokerin Loren Gray, die mit ihren 17 Jahren rund 39 Millionen Follower hat, wirbt auf TikTok unter anderem für die Luxusmarke Dolce&Gabbana. Neben Influencern gibt es aber auch sogenannte Sinnfluencer, die die Aufmerksamkeit, die sie erhalten, nicht nur für Werbebotschaften, sondern auch für politische Zwecke nutzen. Ein Beispiel aus Österreich ist die 30-jährige Madeleine Alizadeh alias dariadaria, die auf Themen wie Umweltbewusstsein und fair produzierte Kleidung setzt.

Aufmerksamkeit kann aber nicht nur für Geld oder Aktivismus genutzt werden, sondern auch für einen Restaurantbesuch: Die deutsche Influencer-App › Freachly ‹ zeigt auf einer Karte Lokale, Shops und Nagelstudios an, die einen Essensgutschein oder eine Gratismaniküre gegen einen Werbepost oder eine Insta­gram-Story tauschen. Die Kaufempfehlungen bleiben nicht wirkungslos: Laut einer Studie des österreichischen Handelsverbands, in deren Rahmen im Juli 2019 rund 500 Personen zwischen 15 und 22 Jahren befragt worden sind, hat mehr als die Hälfte der Befragten schon einmal ein Produkt gekauft, das von einem Influencer beworben wurde.

Marlene sitzt auf einem Sessel mit dunkelgrünem Lederpolster, auf dem Tisch vor ihr steht ein fast leeres Glas Café Latte. Sie hält ihr iPhone über ihr Gesicht, zieht die Mundwinkel zu einem Lachen auseinander und formt sie dann zu einem spitzen Kussmund. Die langen Haare hat sie zu Locken gedreht, und über ihren Augen hat sie Eyeliner und Lidschatten aufgetragen. Als das Video fertig und auf Instagram hochgeladen ist, legt sie ihr Handy wieder auf den Tisch, neben die Speisekarte. › Vor zwei Jahren war ich die Person, die auf Fantreffen gegangen ist ‹, sagt sie später. › Jetzt bin ich die Person, mit der Bilder gemacht werden. Das hätte ich nie gedacht vor zwei Jahren, das ist immer einer meiner Träume gewesen. ‹ Sie scrollt durch die Fotogalerie auf ihrem Handy und zeigt ein Foto, das jemand bei ihrem ersten Fantreffen in Neusiedl am See von ihr mit einem Fan gemacht hat. Marlene trägt darauf ein lockeres Shirt, hat ihren Arm um ein Mädchen gelegt und lächelt unsicher in die Kamera. › Da merkt man, wie viel sich geändert hat, wenn man hinterfragt, wie ich dastehe, wie ich meine Vorteile nicht nutze, einfach komplett verschlossen ‹, sagt sie. Jetzt wisse sie, wie sie sich verhalten soll, um besser anzukommen. Am besten sei es, an sich selbst zu üben.

Lange Zeit hat Marlene alles selbst gemanagt, bis eine Freundin aus dem Influencer-Business ihr riet, ein bestimmtes Management zu kontaktieren. Seit ein paar Monaten ist Marlene dort unter Vertrag und bekommt Auftritte bei Veranstaltungen wie der Beauty-Messe › Glow-Con ‹ sowie Werbeaufträge vermittelt, zuletzt hat Marlene für Garnier geworben. Wie viel sie für Werbeposts bezahlt bekommt, möchte sie nicht sagen. Auf Instagram werden grundsätzlich circa hundert Euro pro zehntausend Follower veranschlagt, die Bezahlung hängt aber nicht nur von der reinen Followerzahl, sondern unter anderem auch vom Auftraggeber und dem Aufwand, den der Werbepost erfordert, ab. Marlenes Fotos begeistern jedenfalls nicht nur auf Instagram, sondern auch im Kinderzimmer – bei einem ihrer Fans stehen sie eingerahmt auf zwei weißen Regalen, die nur für Bilder von › Malentschi ‹ reserviert sind.

In einer Ecke der Messehalle Wien, in der an diesem Wochenende die › Vienna Comic Con ‹ stattfindet, ist eine kleine Bühne aufgebaut. Der Bereich davor ist optimistisch abgesperrt, gefüllt ist nur die erste Reihe vor dem Absperrgitter. Es sind vor allem zehn- bis 15-jährige Mädchen, in engen Jeans, Sweatern und Sneakern, die dort stehen. Immer wieder schauen die erwachsenen Spidermen, Darth-Vaders und Harley Quinns, die vorbeigehen, belustigt zu den Teenagern hinüber. Die konzentrieren sich auf die Bühne, wo nach und nach Influencer mit Namen wie DianaDiamanta und Bruhitzalex auftreten. Schließlich kommt Malentschi auf die Bühne. Ein Kreischen setzt ein. › Hiii ‹, sagt Marlene und winkt ihren Fans zu. Vor zwei Jahren war Marlene als Fan auf diesem Event, heute gibt sie Autogramme und unterhält sich im Backstage-Bereich mit ihren ehemaligen Idolen. Sie trägt eine Jeansjacke über einem engen, schwarzen Rock und Stiefel, in ihrer Nase steckt ein Ring. › Wie viele Piercings hast du? ‹, fragt die Moderatorin. › Boah, ich weiß nicht, vier oder fünf ‹, antwortet Marlene. Wer nicht weiß, dass Marlene 16 Jahre alt ist, könnte sie für mindestens 18 halten. Die linke Hand in die Taille gestemmt, steht sie aufrecht da und antwortet auf die Fragen der Moderatorin, als wäre sie bei einer Fernsehshow. › Was macht dich denn so erfolgreich? ‹ › Ich trau’ mich viel, was sich andere in dem Alter nicht trauen, und red’ über Dinge, die Mädchen in der Pubertät interessieren ‹, sagt sie, winkt wieder ihren Fans zu und lacht. › Also voll der Mädchenkanal! ‹, sagt die Moderatorin, aber Marlene scheint ihr nicht mehr zuzuhören, denn sie hat sich erneut ihren Fans in der ersten Reihe zugewandt.

Manche der Mädchen, die den Meet&Greet-­Bereich verlassen, tuscheln aufgeregt, andere sind vor Glück den Tränen nahe. Lena, Clara, Pia und Nicole, die sich rund zwei Stunden angestellt haben, um › Malentschi ‹ zu treffen, sind entspannter als viele andere Fans. Bisher haben sie jeweils zwischen sieben und 16 Fantreffen mit ihr besucht. Was sie an ihr bewundern, ist vor allem ihre Bodenständigkeit und Authentizität, sagen sie. Dass sie sich von niemandem unterkriegen lasse, inspiriere sie. › Sie ist auch immer für einen da, wenn man was von ihr braucht, und sie ist einfach so nett und toll, man kann immer auf sie zählen. Das lieben wir halt an Marlene so ‹, sagt Nicole. Ihre Bewunderung für Marlene scheint jedenfalls das zu sein, was die Freundinnen über Altersgrenzen hinweg verbindet. Eine von ihnen ist 24 Jahre alt, die anderen sind 14. Jede von ihnen hat ein Fanprofil auf Instagram, auf dem sie Bilder und Videos von Marlene postet. Ein bis zwei Stunden am Tag verbringen Nicole und Clara mitunter damit, die Seite zu betreuen, sagen sie. › Wir machen das so gerne, ‹ sagt Clara › weil sie gibt uns jeden Tag so viel Liebe. ‹

Marlene teilt auf Instagram, wo sie essen geht, wo sie sich die Nägel machen und die Wimpern verlängern lässt, als Werbung kennzeichnet sie ihre Bilder aber nicht. In ihren Beiträgen geht es jedoch nicht immer um Beauty und Lifestyle, mitunter wird sie auch politisch. Auf einem Bild zeigt sie sich etwa mit einem über den Mund geklebten Papierstreifen, auf dem Artikel 13 steht. Damit protestierte sie gegen die mittlerweile umgesetzte EU-Urheberrechtsreform. Auf zwei anderen Bildern posiert sie mit Freunden auf der Pride-Parade. Was › Malentschi ‹ in den Augen ihrer Fans so stark macht, sind aber wohl weniger ihre Inhalte, als mehr ihre Geschichte: Die eines Mädchens, das auf Social Media gemobbt wurde, sich aber nicht hat unterkriegen lassen und jetzt zu einer selbstbewussten Influencerin geworden ist.

Für viele junge Fans sei es verlockend zu glauben, es bestehe eine Beziehung zwischen Influencern und ihnen selbst, sagt Andreas Frießnegg von der PR-Agentur › Wonder We Want ‹. › Wenn du einer Influencerin jeden Tag zuschauen kannst, von acht Uhr morgens bis 23 Uhr abends, was sie so macht, wo sie wohnt und was sie isst, hast du schnell einmal das Gefühl, das ist eine Freundin von dir. ‹ In der Wissenschaft wird diese einseitige Beziehung zwischen Star und Fan › parasoziale Beziehung ‹ genannt. Dieses Phänomen ist nicht neu, der Begriff wurde schon 1956 von den amerikanischen Soziologen Donald Horton und R. Richard Wohl eingeführt, die damit das Verhältnis zwischen Zuschauern und Personen im Fernsehen beschrieben. Bei Influencern trägt vor allem die › Self-Disclosure ‹, also das freiwillige Teilen von intimen Gedanken und Gefühlen, zu einer emotionalen Bindung der Follower bei. Für Influencer sind diese parasozialen Beziehungen von Vorteil – einer Freundin vertraut man schließlich, und Vertrauen ist die höchste Währung im Influencer-Business. An jemanden, der unglaubwürdig wirkt, vergeben Unternehmen keine Werbeaufträge.

In seinen Grundzügen ist Marlenes Alltag immer noch der einer durchschnittlichen Teenagerin: Unter der Woche geht sie zur Schule, in ihrer Freizeit geht sie ab und zu mit Freunden fort und ist mehrere Stunden täglich am Handy. Mit dem Unterschied, dass sie sich jeden Tag tausenden Fans präsentieren muss. Egal ob sie einen schlechten Tag hat oder krank ist, zum Influencer-Sein gehört es, ständig mit der Handykamera zu sprechen. Auch dafür, in die Handykameras von Fans zu lachen, muss sie immer bereit sein. Was Marlene nach der Schule machen will, weiß sie nicht genau, aber bis dahin hat sie noch ein paar Jahre Zeit. Ihr Traum ist dieselbe Karriere wie die von Shirin David, ihrem großen Vorbild, die auf YouTube berühmt geworden ist und heute über fünf Millionen Follower auf Instagram hat. Doch sie wisse, sagt sie, dass ihre Influencer-Karriere jederzeit vorbei sein kann. › Man kann von der einen auf die andere Sekunde abgestempelt sein in diesem Business. Wenn ich out of the trend bin, dann ist das so. ‹ Im Moment hängen ihre Bilder noch in zahlreichen Kinderzimmern. Von ihren größten Fans wird sie regelrecht verehrt. › Die Kunst eines Influencers ‹, sagt sie, › ist es, aus nichts sehr viel zu machen. ‹ •