Unser enger Blick verengt Europa

 Warum wir uns unserer Stärken bewusst werden sollten.

DATUM Ausgabe Oktober 2016

In den ersten Monaten eines Betriebswirtschaftsstudiums erfahren Studierende von der SWOT-Analyse. Sie lernen, ein Unternehmen – oder einen Markt, eine Situation – durch dieses Prisma hindurch zu beleuchten. SWOT steht für Strenghts, Weaknesses, Opportunities, Threats, meist übersetzt als Analyse der Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken. Die SWOT-Analyse wurde in den 1960er-Jahren erfunden. Sie ist ein Versuch, sich als Organisation seiner Stärken und Schwächen bewusst zu werden und daraus Handlungsstrategien abzuleiten.

SWOT-Analysen machen Unternehmer etwa bei der Erstellung eines Business­plans, einer Marketingkampagne oder einer Innovationsstrategie. Auch Wahlkämpfer, Nichtregierungsorganisationen und Militärstrategen zeichnen gerne eine Matrix auf und vergegenwärtigen sich so der inneren wie äußeren Lage mittels des SWOT-Konzepts.

Doch sobald es um die Europäische Union oder auch unser größeres Gedankenkonstrukt namens Europa geht, passiert etwas Eigentümliches: Wir versagen bei der gedanklichen SWOT-Analyse. Wir richten im Alltag, im Medienbetrieb, im Internet unsere Scheinwerfer konsequent auf den zweiten und den vierten Buchstaben, auf das W für Weaknesses und das T für Threats. Das Stichwort Europa scheint uns kollektiv derart aus dem Konzept zu bringen oder gar zu sedieren, dass wir zu einem präzisen, pluralistischen, fairen Blick auf Europa, zu einer SWOT Europa kaum fähig scheinen. Die Buchstaben Nummer eins und drei drücken wir weg. Wir küren Ideen von IT-Pionieren, Kulturschaffenden und Sozialunternehmern, wir killen Ideen zu Europa (egal welchen Absenders).

Mit diesem grundsätzlichen, eingeschliffenen Blick tragen wir dazu bei, Bühne wie Verhandlungstisch zu Europa den Bedenkenträgern und den Provokateuren zu überlassen. Europäische Gemeinschaftsinteressen über Partikular­interessen rücken? Naiv. Langfristigkeit über Kurzfristigkeit setzen? Unrealistisch. Beteiligungsprozesse fürs EU-Budget, ein gesamteuropäisches Vereinsstatut, Schöffenmodelle für die Außen- und Europapolitik? Doch nicht in der Politik! Zukunft? Da könnte ja jeder kommen.

Ja, es komme jeder! Aus vielen Diszi­plinen, mit sämtlichen sozioökonomischen Hintergründen, aus Peripherie und Zentren. Europa ist nicht ein Thema, es ist unser Thema; kein Naturgesetz; unsere Lebensversicherung. Wenn wir diese Aussage schon als Träumerei empfinden, dann müssen wir als Erstes uns selbst an der Nase nehmen: Unser enger Blick verengt auch unsere Wirklichkeit.

Warum akzeptieren wir, dass der Duktus, mit dem uns Europa in Wohnzimmer und auf Bildschirme überbracht wird, höfischer ist, als wir leben, nationaler, als wir denken, schwerer, als wir es ertragen können, und entmutigender, als wir es verdient haben? (Er ist auch dunkler, als es dem historisch kühnsten, politisch ambitioniertesten und langfristig erdbebensichersten Konstrukt der Souveränitätsteilung gebührt.)

Was hält uns davon ab, Europa mit Anfang und Ambition zu assoziieren? Wann werden wir Ideen und Initiativen zu unserem Gemeinwesen gewogen statt genervt begrüßen können? Wenn wir Europa – unser Zusammenleben und unsere Zukunft – in den Griff bekommen möchten, dann müssen wir erst einmal zwei Schritte zurück: zu unserem Blick auf Europa. Dann zu unserem Reden über Europa. Schließlich zu unserem Handeln. In dieser Kolumne werden die Buchstaben eins und drei der SWOT Europa im Vordergrund stehen: die Stärken und die Chancen – und damit wir selbst.

Die Autorin leitet den Bereich Internationales bei der Stiftung Mercator.

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