Von oben herab

Wie fotografische Perspektiven auf Flüchtende unsere Wahrnehmung beeinflussen, erklärt Migrations- und Bildforscherin Vida Bakondy.

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Fotografie:
Zakaria Abdelkafi / AFP / picturedesk.com
DATUM Ausgabe Oktober 2023

Ein dichtes Männermeer verschluckt fast einen Krankenwagen. Vorne ein Zaun, links zwei Polizisten: Gemeinsam halten sie die Meute in Schach. Das Foto von Zakaria Abdelkafi alarmiert, aber erscheint doch ­bekannt. Entstanden Mitte September auf der italienischen Insel Lampedusa, ­entspricht es der gängigen Darstellung von Migranten – wie auch der erste Absatz dieses Textes. 

Vida Bakondy, Expertin für Visual Studies im Migrationskontext, verweist auf die Perspektive: ›Das Bild zeigt die Realität, aber auch nur einen kleinen Ausschnitt davon. Das ist typisch für die gängige Berichterstattung über Flucht und Migration: Betrachtet man nur die Insel Lampedusa, so wirkt die Masse wie ein ­bedrohlicher Ansturm, der aufgehalten ­w­erden muss. In Relation zur Größe Italiens oder Europas mäßigt sich dieser Eindruck schnell.‹  Dass jetzt wieder so viele Geflüchtete auf Lampedusa landeten, lag am zuvor tagelangen schlechten Wetter, der Flutkatastrophe in Libyen, die tausende Menschen obdachlos gemacht hat, und nicht zuletzt am politischen Klima in Tunesien, wo Schwarzen immer mehr Hass entgegenschlägt. Und so schickten Schlepper 10.000 Menschen – mehr als die Insel Einwohner hat – in unzähligen Booten zum Nadelöhr Lampedusa, durch das 70 Prozent der Geflüchteten in Italien ankommen. Die rund 400 Aufnahmelagerplätze sind ohnehin dauerhaft überbelegt, zum Teil um das Zehnfache. Daraus resultiert das auf dem Foto sichtbare, vorbestimmte Chaos.

›Der Blick von oben, aus Weitwinkel­perspektive, von außerhalb des Zauns; innen die gefangene, anonymisierte Masse. Das erschwert Identifikation mit den abgebildeten Personen‹, so Bakondy. ›Betrachtende werden mit ­Symptomen, nicht mit Ursachen der Flucht nach Europa konfrontiert. Typisch für Migrations-Bilder.‹ 

Die meisten Fotos mit Geflüchteten haben eine starke Symbolik, so Bakondy. Ob ›das volle Boot‹  oder die ›Festung Europa‹  – immergleiche Bilder reproduzieren auch immergleiche Assoziationen. Lampedusa als Insel stehe für Italien und Europa, die, wenn man der dominanten Bildlogik folge, von Geflüchteten quasi überrannt ­wird. Das Problem sei auch hausgemacht: Die geringe Kapazität des Aufnahmelagers schaffe die Bilder, die ­Meloni für ihre Agenda brauche. Dass die meisten ­Migranten schnell auf dem Festland verteilt werden und in Italien pro 100.000 Einwohner nur ein Flüchtling lebt, daran denke man beim Betrachten des ­Bildes nicht.

›Natürlich verstärken diese Bilder irrationale Ängste‹,  so Bakondy, ›aber hier wird ein Logistikproblem in Szene gesetzt‹.  

Ein Problem, das wohl auch vom eigent­lichen Skandal ablenken soll: dem Sterben im Mittelmeer. Ein paar Tage vorher ertrank ein Säugling, 2015 ging das Bild des toten Kindes Alan Kurdi um die Welt. Für viele wurde die humanitäre Katastrophe so erst persönlich greifbar. Der syrische Fotograf Abdelkafi hat auf Lampedusa auch Porträts von Frauen, Kindern und Älteren gemacht. Dennoch wählen Medien meist die bekannten ›visuellen Chiffren für Migration‹, wie Bakondy sie nennt: Männermassen in vollen Booten oder, wie hier, eingepfercht in einem Lager. ­Bakondy mahnt: ›Persönliche Bilder schaffen Empathie. Sie lassen uns nach der ­Geschichte hinter den Schicksalen fragen. Bilder wie das gezeigte stumpfen eher ab und ­legitimieren die Abschottungspolitik gegenüber Schutzsuchenden an den Grenzen Europas.‹ 

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