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Wie kommt die Gegenwart in die Literatur?

Manchem Schriftsteller gelingt es, die Unabgeschlossenheit des Jetzt zwischen zwei Buchdeckeln zu erfassen.

DATUM Ausgabe April 2018

Es ist Hazals achtzehnter Geburtstag, ein Tag, den sie eigentlich mit Alkohol, Kiffen und Tanzen verbringen will. Schon tagsüber geschehen allerlei Missgeschicke und der restriktive Türsteher eines Berliner Nachtclubs macht die Pläne von Hazal und ihren Freundinnen endgültig zunichte. In einer U-Bahn-Station eskaliert ein Streit. Die Schlägerei endet mit dem Tod eines Beteiligten. Hazal flüchtet daraufhin nach Istanbul, wo sie bei einer Internetbekanntschaft unterkommt. Es ist ein ungünstiger Zeitpunkt, in der Stadt zu sein: Der Putschversuch gegen Erdoğan, Militäreinsätze, Verhaftungswellen und allerlei sonstige »Schlagzeilen« erwarten Hazal, die über die Vorgänge in der Türkei und die Probleme des Landes kaum Bescheid weiß. Einmal verwickelt der politisch engagierte Mitbewohner sie in ein Gespräch: ›Bist du Kurdin?‹ – ›Ich weiß nicht.‹ – ›Was heißt das, du weißt nicht?‹ – ›Keine Ahnung. Als mein Großvater noch gelebt hat, haben meine Großeltern immer Kurdisch miteinander gesprochen.‹ Und weiter: ›Ist ja auch egal […], ob kurdisch oder nicht. Im Endeffekt macht es keinen Unterschied, oder? Für mich sind alle gleich. Wir kommen alle aus der Türkei, also sind wir alle Türken. Fertig.‹ Die Antwort ist knapp und bitter: ›Wenn es keinen Unterschied machen würde, gäbe es keinen Krieg.‹

Fatma Aydemirs Debütroman ›Ellbogen‹ (2017) hat eine politische Dimension, die in Rezensionen jedoch kaum gewürdigt wurde. Stattdessen galt die Aufmerksamkeit meist der Milieuschilderung, insbesondere der Frage, ob die Sprache der türkeistämmigen Deutschen aus dem Wedding authentisch sei (›als ich im Späti Kippen kaufe‹), und ob die gelegentlichen Reflexionen Hazals über Arbeit, Aufstiegsmöglichkeiten, die Situation der Frauen ihrer Umgebung und andere soziale Rollenmuster nicht störend, weil charakterfremd wären (›von da an hat Elma sich nicht mehr wie ein türkisches Mädchen benommen, sondern wie ein türkischer Junge‹). Dieser Hang zur vereinfachenden Beobachtung sozialer Verhältnisse bleibt Hazal auch in Istanbul erhalten. Die türkische Tagespolitik wird häufig erwähnt, was manchen Rezensenten übertrieben schien. Dabei werden aktuelle Ereignisse so gut wie nie im Detail erläutert, da der Roman aus Hazals Sicht erzählt ist. Interessierte Leser sind darauf angewiesen, ein solches Wissen zu ergänzen und sich zu informieren. Die Ahnungslosigkeit der Protagonistin spiegelt sich da und dort in der Ahnungslosigkeit des Lesers. Die Aussage des Romans ist dabei nicht verkürzt, sondern komplex und erkenntnisfördernd. Doch bis zu welchem Grad handelt es sich dabei um eine echte politische Aussage?

›Wie politisch ist die Kunst, ist sie politisch genug, warum ist sie nicht politischer, und wenn doch, was dann?‹, formulierte die Schriftstellerin Sibylle Berg die Forderungen der Literaturkritik nach einer politischen Dimension der Literatur und einem Gegenwartsbezug der Literatur kürzlich überspitzt in einem Vortrag. Konsens gibt es keinen, die Lage ist verworren. Setzen wir uns also mit der Gegenwart und ihrer Unabgeschlossenheit auseinander, wie es auch von den Schriftstellern verlangt wird.

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Wörter: 1840

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