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›Wir leben nicht für immer im Stillstand‹

Eine Generation, zwei Weltanschauungen: NZZ-Journlistin Anna Schneider und SPÖ-Politikerin Julia Herr streiten über die richtigen Lehren aus der Krise.

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Dokumentation:
Johanna Egger
DATUM Ausgabe Mai 2020

Wir sind in Woche vier des Lockdowns, treffen uns hier auf Skype. Wie sieht eure Realität derzeit aus?

HERR: Als Politikerin bin ich in dieser Zeit in einer sehr privilegierten Position, weil ich weiß, dass ich durch die Krise meinen Job nicht verliere. Andererseits: Normalerweise bin ich pro Woche auf etwa zehn verschiedenen Veranstaltungen, wo man mit Leuten ins Tratschen kommt, man entwickelt dadurch ein Gefühl für die Menschen. Jetzt haben wir als Abgeordnete besonders darauf geachtet, in Selbstisolation zu leben. Das Parlament muss auch in Krisenzeiten da und stabil sein. Deshalb haben wir jetzt Vorsicht walten lassen. Ich habe das Haus nur zum Einkaufen, Spazierengehen und für Nationalratssitzungen verlassen.

Anna, du lebst in Berlin. Wie schaut dein Leben als Journalistin aus?

SCHNEIDER: In Deutschland heißt es ja nicht Ausgangssperre, sondern Kontaktverbot, es unterscheidet sich aber nicht besonders vom österreichischen Modell. Mein Arbeitsalltag hat sich kaum geändert, da ich auch sonst viel zu Hause arbeite. Was ich aber letzte Woche gemacht habe, war, in ganz Berlin spazieren zu gehen, an den großen Brennpunkten: Was passiert da eigentlich? Darüber hab ich berichtet. Ich kann schon raus, nur macht es keinen Spaß mehr.

Anna, Freiheitsrechte sind eingeschränkt, wie seit Kriegszeiten nicht mehr. Die Politik lässt die Weltwirtschaft hängen und abstürzen. Apps sollen verfolgen können, mit wem wir Kontakt haben. Blutet dein liberales Herz dieser Tage stark?

SCHNEIDER: Ja, mein liberales Herz blutet stark. Ich sehe ein, dass der Staat diese Maßnahmen treffen muss, um das Virus einzudämmen. Ich verwehre mich aber sehr dagegen zu sagen, man darf nicht darüber reden, wann die Maßnahmen wieder gelockert werden. Ich sitze in einer tollen Berliner Wohnung mit Balkon, aber was machen Menschen, die auf 50 Quadratmetern wohnen, mit wenig Licht. Da glaub ich, dass mancher langsam an seine Grenzen stößt.

HERR: Es ist eine Frage von Einkommen, ob wir Home-Office machen können oder nicht. Die New York Times hat Zahlen dazu für die USA veröffentlicht: Im niedrigsten Einkommensviertel gibt es die Chance, dass etwa zehn Prozent in Home-Office arbeiten, beim Top-Einkommensviertel 60 Prozent. Natürlich hängt es davon ab, ob man Arbeiter oder Arbeiterin ist, ob man seine Arbeit vor Ort machen muss und ob man tatsächlich dem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt ist. Und es ist auch die Frage, in welcher Wohnung man sich befindet: In Wien leben 40 Prozent der Null- bis 14-Jährigen in einer Wohnung, in der sie nicht einmal ein Zimmer als Rückzugsort haben. In der Coronakrise sind nicht alle gleich, und manche trifft es deutlich härter.

Es heißt, dass es zwei Lager gibt. Die Hardliner, die stark von den Virologen beeinflusst werden. Und jene, die sich eure aufgeworfenen Fragen stellen. Kann man Unternehmen fürs Gemeinwohl ruinieren?

SCHNEIDER: Anfang April galt man noch als Zyniker, wenn man sagte, dass diese Maßnahmen unsere Wirtschaft schädigen. Weil man die Wirtschaft doch nicht über Gesundheit setzen kann. Aber wenn man die Wirtschaft ruiniert, erzeugt das genauso gesundheitliche Schäden. Gerade für die Leute, von denen wir gerade geredet haben. Wenn die Weltwirtschaft ins Stocken kommt, wenn Wertschöpfungsketten abreißen, trifft es am Ende wieder nur die Ärmsten. Und das ist auch meine große Angst: Dass unsere Wirtschaft derart geschädigt wird, dass das Wiederaufbauprogramm sehr schwierig wird. Ich glaube, dass in solchen Situationen staatliche Hilfe notwendig ist, vor allem für kleine Unternehmen. Die können ja nicht aufgrund dieser Krise pleitegehen.

HERR: Die im Parlament beschlossenen Maßnahmen haben zu Einkommensentgängen und Arbeitslosigkeit geführt. 600.000 Arbeitslose! Der Punkt ist aber: Jobs können wieder geschaffen, Armut kann beseitigt werden, wenn es den politischen Willen gibt. Ein Menschenleben kann nicht zurück­geholt werden.

SCHNEIDER: Es geht jetzt in erster Linie darum, unsere Spitäler nicht zu überlasten. An erster Stelle kommt das menschliche Leben. Deshalb halte ja auch ich mich an alles, was hier vorgeschrieben wird. Ich fände es bloß fatal, alles andere hintenanzustellen. Ja, es braucht Hilfsprogramme für die Wirtschaft, damit die Menschen überleben. Wirtschaft stellt Arbeitsplätze, verhindert Arbeitslosigkeit. Ich würde auch in Deutschland gerne über Lockerungen reden. Außerdem glaube ich, dass das etwas mit der Psyche macht. Jeder Tag ist derselbe – jeder Tag ist Murmeltiertag.

Julia, dieser Tage geistern oft Begriffe wie Liefer­ketten, Konsum, Wohlstand, Globalisierung durch die Medien – siehst du jetzt eine Zeit, um dein Programm stärker an die Menschen zu bringen?

HERR: Ja, schon. Man sollte aber nicht glauben, dass die Krise auch immer gleichzeitig eine Chance ist. Historisch gesehen waren Krisen, auch wenn es um Arbeiterrechte ging, oft eine Zeit, in der kein Schritt nach vorne, sondern einer zurück gemacht wurde. Was uns in diesen Zeiten aber gezeigt wird, ist, dass massiv viel möglich ist, wenn der politische Wille da ist. In der Coronakrise hat man in kürzester Zeit ein 38-Milliarden-Euro-Paket beschlossen. Wir müssen das auch bei anderen Krisen einfordern! Bei der Umweltkrise und der auf uns zukommenden Krise der Arbeitslosigkeit etwa. Es ist eine Zeit, um über eine alternative Zukunft zu reden.

Anna, du hast jetzt etwas verzweifelt dreingeschaut. Ist Krise für dich kein Umbruch, nach dem vieles anders sein kann?

SCHNEIDER: Ich glaube, dass die Krise keinen Systemwandel bringen wird und – aus meiner Sicht – auch nicht soll. Aber dass sich viel verändern wird. Ich fände es allerdings fatal, die Coronakrise und die Maßnahmen als Blaupause zur Lösung anderer Krisen zu verwenden. Wir erleben hier dermaßen tiefe Einschnitte in unser liberales Demokratieverständnis, über die wir rückblickend auch nicht schlecht staunen werden. Da kann man nicht einfach nur betrachten, wie viel Geld ausgegeben wird, sondern auch, was da noch alles passiert. Wenn das jetzt einfach übertragen würde, beispielsweise auf die Bekämpfung des Klimawandels, dann würde ich das als Horrorszenario empfinden, weil es bedeutet, dass im Namen des Klimaschutzes krasseste staatliche Maßnahmen eingesetzt würden.

HERR: (runzelt die Stirn und lacht ungläubig) Was?

SCHNEIDER: Ich verstehe, dass man die Probleme wie den Klimawandel nicht aus den Augen verlieren sollte. ›Fridays for Future‹ sind momentan von der Bildfläche verschwunden, weil sie nicht mehr auf die Straße können. Aber eine Krise und die harten Maßnahmen, die sie mit sich bringt, zur Lösung anderer Krisen anzuwenden, fände ich sehr undurchdacht.

HERR: (schüttelt ungläubig den Kopf) Was heißt hier, die eine Krise auf die andere umwälzen? Wir haben die Coronakrise zu lösen, und natürlich sollte man da Umweltaspekte mitdenken. Jetzt zu sagen: Da geht’s nur um Corona, und beim Klima, da schauen wir dann später – das ist doch das Problem, das uns seit Jahren begleitet. Natürlich können Maßnahmen zur Ankurbelung der Konjunktur dann auch an Umweltmaßnahmen gebunden sein. Die Klimakrise soll nicht durch staatliches Mittun gelöst werden, sondern das regelt der private Markt, oder wie?

SCHNEIDER: Nein, was ich gemeint habe, ist, dass die Maßnahmen, die wir jetzt ertragen müssen, nicht als Blaupause gesehen werden können, um andere Krisen, zum Beispiel die Klimakrise, zu lösen. Ja, der Staat sollte etwas gegen die Klimakrise tun. Aber ich verwehre mich gegen diese Entschleunigung, und die Behauptung, dass die Natur diese Ruhe jetzt brauche, um sich zu erholen. Ich glaube nicht, dass Restriktion die Antwort ist, sondern Innovation. Dass es auch in einer modernen, globalisierten Gesellschaft möglich ist, Lösungen gegen den CO2-Ausstoß zu finden, ohne irrsinnige Eindämmungen vorzunehmen.

Es wird immer wieder darüber diskutiert, warum Güter wie wahnsinnig um die Welt transportiert werden. Man kann nicht sagen, dass die Globalisierung schuld an der Krise ist, sie zeigt aber deutlich, dass unser System Verlierer hat.

HERR: Ich bin Sozialistin. Natürlich sehe ich in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in dem eine Profitlogik die Art beherrscht, wie wir Dinge produzieren, handeln und verkaufen, ein Problem. Es wäre an der Zeit zu überlegen, ob es tatsächlich sinnvoll ist, einzelne Arbeitsprozesse auf die ganze Welt zu verteilen und jeweils dort stattfinden zu lassen, wo wir die Umwelt am besten ausbeuten können, wo die Löhne am geringsten sind. Die Frage unserer Zeit ist: Wäre eine regionale Produktion nicht sinnvoller? Wir haben jahrzehntelang gewirtschaftet, als wären die Auswirkungen auf die Umwelt egal.
(Schneider räuspert sich mit weit geöffneten Augen)

Anna, du hast einmal gesagt: Kein politisches System, und der Sozialismus schon gar nicht, hat es geschafft, so viele Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu holen wie die kapitalistische Globalisierung.

SCHNEIDER: Ich bin Kapitalistin und wüsste nicht, auf welches Problem Sozialismus die Antwort wäre. Ich weiß, dass wir in einer Welt leben, in der Ungleichheiten existieren. Das ist ein Problem, und dagegen sollte man vorgehen. Aber zu sagen, dass der Kapitalismus das große Problem ist, halte ich für falsch. Natürlich sorgt die Globalisierung dafür, dass auch das Virus schneller zirkuliert. Aber so tut es auch das Wissen um das Virus. Ich glaube, dass Fortschritt und Innovation nur innerhalb kapitalistischer Systeme wirklich möglich sind. Der Staat alleine wird nicht dafür sorgen, dass schnell Medikamente produziert werden.

HERR: Ich habe nicht von Globalisierung gesprochen. Globalisierung an sich, eine Welt, die vernetzt ist und sich austauscht, bringt uns einen unglaublichen Vorteil, auch gesellschaftspolitisch. Ich rede von einer kapitalistischen Wirtschaftsweise, wo die Profitlogik im Vordergrund steht. Wir haben etwa Forschungsprojekte, wo klar ist, dass mehrere Jahre geforscht werden muss. Pharmakonzerne beginnen die Forschung erst gar nicht, weil die Aussicht auf Profit gering ist. Stark geforscht wird, wo es darum geht, Männerhaarausfall zu bekämpfen, weil man weiß, dass sich dieses Medikament in entwickelten Ländern gut verkaufen würde. Viele Entwicklungen der letzten Jahre – das Internet und das Smartphone – sind nur durch staatliche Hilfe möglich geworden. Nur an den Gewinnen, wenn das Produkt erfolgreich ist, ist der Staat nicht beteiligt.

SCHNEIDER: Aber gerade Apple ist doch ein gutes Beispiel dafür, dass große Unternehmen auch große Wertschöpfungsketten herstellen. Ich glaube dir, dass der Staat da viel investiert hat – ja, gut so. Aber solche Unternehmen funktionieren doch aufgrund ihres unternehmerischen Daseins und nicht, weil der Staat sie gefördert hat. Ich bezweifle grundsätzlich, dass Kapitalismus mit Profitgier gleichzusetzen ist. Ich glaube an die Menschen, daran, dass sie Innovation schaffen wollen. Wenn es einen Wettbewerb gibt, in dem sich derjenige mit der besten Idee durchsetzt und dafür entlohnt wird, ist das gut so.

HERR: Für mich bedeutet Sozialismus die Demokratisierung aller Lebensbereiche, auch des Wirtschaftssystems. Die Art und Weise, wie wir derzeit wirtschaften, ist nicht im Ansatz demokratisch. Wir sehen, dass einzelne Personen sehr viel Vermögen haben. Wir sehen, dass diese Vermögenskonzentration zu Machtkonzentration führt, die auf die politische Sphäre ausgeweitet wird. Unternehmen wie Google und Amazon besitzen eine Vormachtstellung, gegen die andere Unternehmen nicht mehr ankommen. Ich sehe den Wettbewerb der besten Ideen nicht.

Julia, hast du Probleme, mit dem Schlagwort Sozialismus Politik zu machen? Immerhin sind Grausamkeiten in dessen Namen passiert. Sollte man den historischen Begriff neu erfinden?

HERR: Natürlich, wenn man sich als Sozialistin bekennt, kommt schnell: aber die DDR. Das Argument ist aber auch schnell wieder beendet, weil die DDR kein demokratisches System war, dahingehend nicht das, was ich mir unter Sozialismus vorstelle. Tatsächlich ist Sozialismus für mich eine Freiheit, die ich derzeit nicht wahrnehme. Ich bin Umweltsprecherin für die SPÖ. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich ein umweltfreundliches Leben für alle ausgeht. Dass sich das alle leisten können. Die Freiheit, die im Kapitalismus immer beschworen wurde, wo ich mir zwar die Jeansmarke aussuchen kann, aber die Jeansproduktion Mensch und Umwelt ausbeutet, ist nicht, was ich mir unter Freiheit vorstelle.

SCHNEIDER: Mich fröstelt bei der Aussage, dass Sozialismus Freiheit ist. Für mich bedeutet es tatsächlich das Gegenteil. Man kann also historische Beispiele nicht heranziehen, weil es nie der echte Sozialismus war. Jetzt frage ich mich: Warum gab es den echten Sozialismus dann noch nie? Offensichtlich gibt es dafür keine Mehrheiten und keine praxistaugliche Umsetzung. Ich finde es amüsant zu behaupten, Sozialismus würde mir Freiheit geben. Wenn ich jetzt in einen Supermarkt gehe und dort verschiedene Auswahlmöglichkeiten habe – würdest du das wirklich tauschen gegen ein einziges Joghurt im DDR-Style oder gegen leere Regale?

HERR: Das ist billiger Populismus. Wer sagt, dass es im Sozialismus nur ein Joghurt gibt?!

SCHNEIDER: Ich glaube nicht, dass wir in einer Krise in einem besseren System leben könnten als das, in dem wir leben. Wir sind hier, und die Supermärkte sind voll. Woran liegt das? Sozialismus mit Freiheit gleichzusetzen, finde ich harten Tobak, muss ich sagen. Ich finde, dass unser System das vereint, was ich mir unter Freiheit vorstelle, nämlich Liberalismus und Demokratie im Rahmen einer sozialen Marktwirtschaft.

HERR: Wir haben ein Wirtschaftssystem, in dem unglaublich viel produziert wird. Die Frage, warum ich als Arbeiterin, die zu diesem Gewinn beiträgt, nicht daran beteiligt bin, kann mir niemand beantworten.

Nach Madrid fliegen geht derzeit nicht. Bücher auf Amazon bestellen schon. Ich nehme an, dass Julia Herr nicht auf Amazon bestellt. (Julia schüttelt energisch den Kopf) Anna, beschäftigt dich diese Frage?

SCHNEIDER: Bestes Beispiel. Das ist, was ich meine, wenn ich sage: Wirtschaft sind wir alle. Ich lese sehr viel. Bücher, die ich auch bei Amazon bestellen könnte, bestelle ich jetzt in meinen Lieblingsbuchhandlungen und hole sie ab. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, dass manche jetzt tatsächlich sagen: ›Gut so. Besinnen wir uns auf die Basics, kaufen wir weniger, leben wir ruhiger.‹

HERR: (verdreht die Augen und nickt zustimmend) In unserer Gesellschaft werden oft beinah esoterische Meinungen verbreitet. Davon auszugehen, dass sich alles ändern würde, wenn sich das Konsumverhalten ändert, ist eine Abschiebung der Verantwortung auf das Individuum. Kauft besser, kauft regionaler, kauft nachhaltiger – das grenzt an moralische Überheblichkeit. Was die Leute kaufen, hat oft nichts damit zu tun, was sie sich wünschen, sondern was sie sich leisten können. Deshalb können wir die Frage, wie Produkte produziert werden, nicht mit Nachfrage-Angebot und dem freien Markt lösen. Wir sollten uns Regeln überlegen, wie wir Produkte produzieren wollen und wie wir dabei auch umweltrechtliche und arbeitsrechtliche Standards einhalten können. Das ist der Lösungsansatz, der dem neoliberalen Dogma entgegensteht.

SCHNEIDER: Neoliberalismus heißt nicht, dass es den Staat nicht gibt. Wenn man darauf setzt, dass Unternehmen – durch Anreize und Förderung – klimafreundlicher agieren und so mehr klimafreundliche Produkte auf den Markt kommen, dann hat der Konsument am Ende die Wahl zwischen mehreren klimafreundlichen Produkten. So wäre die Verantwortung ausgewogen. Da muss man erst hin, das stimmt.

Entscheiden sich am Ende dann nicht immer alle für die 40-Euro-Flüge?

HERR: Ein Drittel der Menschen in Österreich fliegt gar nicht. 50 Prozent fliegen einmal im Jahr, vielleicht in den Urlaub. Die restlichen 17 Prozent fliegen extrem oft. Das sind offizielle Zahlen. Wenn wir uns vor Augen halten, dass 40 Prozent der Flüge Dienstreisen sind, dann sehen wir, dass wir auch hier auf eine verteilungspolitische Frage blicken. Es ist eine kleine Minderheit, die unglaublich viel CO2 verursacht.

SCHNEIDER: Auch ich sehe die Krise nicht als Chance, wie es viele Esoteriker tun. Natürlich lernt man aus jeder Krise etwas, aber wie man das positiv konnotieren kann, ist mir ein Rätsel. Man sieht allerdings, wo Nachholbedarf besteht: Beim Thema Digitalisierung zum Beispiel. Viele große Unternehmen werden jetzt sehen, was per Videokonferenz möglich ist. Alles wird natürlich nicht im Home-Office funktionieren. Da haben wir noch ganz viel Nachholbedarf.

Taxifahrer, Pflegerinnen, Kassiererinnen, Reinigungskräfte – all denen wird in Wien um 18 Uhr zuapplaudiert. Sie sind mehrheitlich weiblich und Niedrigverdiener. Was kann man diesen Menschen zurückgeben, außer ihnen zuzuklatschen?

HERR: Vom Klatschen wird niemand satt. Es braucht höhere Löhne. Wir müssen einen Mindestlohn ermöglichen für die systemerhaltenden Branchen. Im Burgenland hat man gesehen, dass das möglich ist, dass man 1.700 Euro netto machen kann. Das zweite: Die USA haben sich im Weltkrieg angesehen, welche Unternehmen aufgrund dessen am stärksten profitierten. Alles über acht Prozent Zuwachs wurde als überdurchschnittlich bewertet und mit 80 Prozent besteuert. Warum? Weil sich niemand an einer Krise bereichern soll. Weder Amazon noch der Lebensmittelhandel. Corona hat sich niemand ausgesucht. Sollen Profite, die jetzt entstehen, Individuen gehören, oder wollen wir sie besteuern und umverteilen?

Gilt das auch für Internetgrößen wie Netflix?

HERR: Sicher.

Anna, findest du das absurd? Man entscheidet sich schließlich freiwillig dafür, Netflix zu schauen.

SCHNEIDER: Ich halte nicht viel von Vermögenssteuern. Das würde jetzt auch stark den Mittelstand treffen. Manche Unternehmer machen jetzt mehr Profit als vorher, aber nur temporär. Wir werden nicht für immer in diesem Stillstand leben.

HERR: Wie eine Millionärssteuer den Mittelstand treffen soll, kann mir auch niemand erklären. Man kann Vermögens- und Erbschaftssteuern so berechnen, dass sie die oberen zehn Prozent treffen. Bei der Wirtschaftskrise 2008 haben wir gesehen, dass ausgerechnet die oberen zehn Prozent nicht bezahlt haben. Da wäre es an der Zeit, einen Beitrag einzufordern.

Anna, glaubst du, dass die Krise einen feministischen Blick braucht?

SCHNEIDER: Grundsätzlich kann ein feministischer Blick nie schaden. Ich verwehre mich nur, Krisen so einzuteilen. Zu sagen, die Krise sei sexistisch oder rassistisch. Denn: Grundsätzlich sind wir alle betroffen. Ja, es ist so, dass in Berufen, die im Moment sehr leiden, öfter Frauen arbeiten. Natürlich wäre es mir lieber, weniger Frauen wären betroffen. Daran knüpft sich dann aber die Frage an: Braucht es in jedem Job eine Quote? Ich würde sagen: nein. Mir wäre lieber, jeder würde für seine Arbeit angemessen bezahlt, unabhängig vom Geschlecht.

HERR: Herr Wöginger, Klubobmann der ÖVP, hat in einem Interview gesagt, wie gut alles funktioniere. Er bekomme das zu Hause mit, wie seine Frau mit den Kindern lernt und den Haushalt schmeißt. Wo ich mir denke: So ist es. Frauen leisten den Löwenteil der Arbeit, die notwendig ist. Hausarbeit darf nicht länger als Frauensache betrachtet werden.

SCHNEIDER: Meine Utopie ist, dass eine Frau, die einen solchen Mann zu Hause sitzen hat, der sie kochen, waschen und putzen lässt, einfach sagt: Wir leben im 21. Jahrhundert, das mache ich so nicht mehr mit. Wir befinden uns mitten in einem gesellschaftlichen Wandel. Wenn Frauen selbstbewusst sagen: ›Ich möchte dasselbe verdienen, denn ich leiste dasselbe‹, dann ist das am Ende einfacher und liberaler, als das gesetzlich zu regeln.

Worauf freut ihr euch am meisten in der Zeit nach Corona? Was würdet ihr jetzt schon gerne tun?

HERR: Eine Party veranstalten. Wir warten nur mehr, bis wir die Einladungen verschicken können und alle Freunde treffen und einmal fett feiern. Und dass ich meine Eltern über einen Monat nicht gesehen habe, ist richtig belastend. Also Mama und Papa treffen am Vormittag, und am Abend Party.

SCHNEIDER: Ähnlich bei mir. Ich war seit Weihnachten nicht zu Hause. Wien fehlt mir. Ich wollte auch aufs Primavera-Festival nach Barcelona – abgesagt. Also ein Konzert besuchen, am besten draußen, das würde ich am liebsten tun. Oder in eine Bar gehen. Leben. •