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Affe statt Monster

Martin Selmayr war einst Spitzenbeamter in Brüssel. Jetzt soll der machtbewusste Deutsche Österreich die EU schmackhaft machen. Kann das gutgehen ?

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Fotografie:
Stefan Fürtbauer
DATUM Ausgabe September 2021

Weiß der Bürgermeister, in welcher Montur wir kommen? ‹ Martin Selmayr steht an einem Montagmittag in kurzer Radlerhose und blauem EU-Leiberl im Rathaus von Wiener Neustadt. Ein Helm baumelt von seiner linken Hand, die blanken Waden zeichnen sich weiß vom Boden ab. Hinter der Tür wartet der Bürgermeister einer 40.000-Einwohner-Stadt in Niederösterreich. Ja, er wisse es schon, versichern ihm die Herren um ihn herum. Aber so ganz sicher schauen sie dabei nicht aus.

Der Herr, der hier im unpassenden Outfit im Rathaus steht, war in Brüssel einmal ein sehr mächtiger Mann. Von 2014 bis 2019 war Selmayr unter dem Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker einer der wichtigsten Beamten in der Schaltzentrale der Europäischen Union. Davor war er zehn Jahre lang Sprecher der Kommissarin Viviane Reding. Seit 2019 ist der 50-Jährige Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Österreich und damit so etwas wie ihr Botschafter. In einem Land, das zwei Prozent der EU-Bevölkerung stellt und als sehr EU-kritisch gilt. Eine Konstel­lation, die Menschen vor Rätsel stellt, in Brüssel wie in Wien.

Wiener Neustadts Bürgermeister Klaus Schneeberger ist ein direkter Mann, der auch in ein Gespräch mit dem höchsten Repräsentanten der Kommission mit einem Satz wie › Was hackelts ihr eigentlich, dass ihr Zeit für sowas habt? ‹ einsteigt. Selmayr lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und erklärt es gerne. Er ist diesen Sommer gemeinsam mit Paul Schmidt, dem Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik, auf ›EU-Zukunftstour‹. Die beiden reisen per Bahn und Rad in alle Bundesländer und kommen dort mit Politikern, Bürgern und Interessenvertretern zusammen. Das Ganze ist Teil eines gesamteuropäischen Prozesses: Zwei Jahre wird über die Zukunft der EU geredet, am Ende gibt es eine ganze Reihe von Berichten. Es ist ein typisches, immaterielles EU-Projekt. Es ist nicht einfach, den direkten Nutzen zu erkennen, aber so richtig etwas dagegen sagen kann man auch nicht.

Vor etwas mehr als zwei Jahren verhandelte Selmayr noch mit den mächtigsten Männern und Frauen Europas, heute sitzt er mit Lokalpolitikern am Plastiktisch eines Würstlstandes und bestellt sich ein kleines Bier. Vom Zentrum der Macht in die Peripherie. Es gibt deshalb eine zentrale Frage, um die man nicht herumkommt: Ist Österreich nicht zu klein für jemanden wie ihn?

›Das ist völliger Quatsch ‹, sagt Selmayr ein paar Tage nach seinem Termin in Wiener Neustadt. Er sitzt in seinem Büro im Haus der Europäischen Union in Wien, wieder in Radlerhose. Österreich sei nicht klein, und man würde doch merken, dass ihm der Job Spaß mache. › Es macht Spaß, monatelang in Sitzungen in Brüssel zu verhandeln. Das habe ich gemacht, das kann ich auch. Es macht aber auch Spaß, draußen mit den Menschen vor Ort zu reden. ‹Man gewinnt tatsächlich das Gefühl, dass Selmayr Freude an seinem aktuellen Job hat. Im persönlichen Gespräch ist er am stärksten. Und er hat sichtlich kein Problem damit, sich ein bisschen zum Affen zu machen, solange es der Kommunikation dient. Es ist natürlich nicht so, dass man in Brüssel nicht noch andere Gründe hört, warum der ehemalige Stabschef jetzt fernab von der Zentrale sitzt. Zum Beispiel seine Staatsangehörigkeit – eine deutsche Kommis­sionspräsidentin bedeutet nach EU-Logik, dass es für andere Deutsche schwerer wird, Top-Jobs in der EU zu besetzen. Aber das schließt sich ja alles nicht aus. › Was ich jetzt mache, ähnelt im Grunde dem, was ich im Alter von 15 bis 25 Jahren getan habe: Durch die Lande zu fahren und mit Leuten über Europa zu reden ‹, sagt Selmayr.

Als er 15 Jahre als ist, nehmen ihn seine Großeltern mit auf die Schlachtfelder von Verdun, wo sich deutsche und französische Soldaten im Ersten Weltkrieg ein Gemetzel lieferten. Es sei die Aufgabe seiner Generation, dass so etwas nicht mehr passiere, gibt ihm sein Großvater mit. Es ist ein europapolitischer Erweckungsmoment, der direkt den 50er-Jahren entnommen scheint. Aber er wirkt. Noch heute will Selmayr das Argument von › Europa als Friedensprojekt ‹, das andere spöttisch in Sonntagsreden verorten, nicht aufgeben. › Demokratie kann kaputt gehen, Frieden kann kaputt gehen ‹, sagt er. Die Pandemie habe wieder gezeigt, wie schnell sicher geglaubte Errungenschaften verloren gehen könnten.

Man muss ein bisschen vorsichtig sein mit Martin Selmayr. Es ist sein Job, überzeugende Geschichten zu erzählen, das macht er sehr gut, und vielleicht gilt das auch ein bisschen für seine eigene. Er weiß um die Macht der Worte. Er bezeichnet sich selbst gerne als › EU-Kritiker ‹ oder › -Skeptiker ‹, um zu beweisen, dass er weiter an Verbesserung arbeite. Das ist ein sehr guter Satz. Aber wenn man ihn im Interview, im Gespräch mit dem Bürgermeister und dem anschließenden Bürgergespräch hört, dann verliert derselbe Satz ein bisschen an emotionaler Kraft.

Man merkt Selmayr die Jahre als Sprecher in Brüssel an, wo eine Armee aus Sprechern einem Heer aus Journalisten gegenübersteht. In Hintergrundgesprächen kann er Journalisten, die nicht perfekt vorbereitet sind, innerhalb von Minuten um den Finger wickeln. In Unterhaltungen wechselt er auch mal ins ›Du‹ und unauffällig zurück, wenn das Gegenüber nicht darauf einsteigt.

Selmayr ist ein absoluter Vollprofi. Das ist nicht mal ein Lob, sondern eine schlichte Feststellung. Das musste auch die heimische Politik schnell lernen. Im Herbst 2020 gibt es leichte Unstimmigkeiten zwischen Österreich und der Kommission, weil diese die Pläne der Regierung für eine Ausweitung des Fixkostenzuschusses noch nicht abgesegnet hat. Die Minister Elisabeth Köstinger und Gernot Blümel laden daraufhin Vertreter der Tourismuswirtschaft, Journalisten und Selmayr zu einem Termin. Das Setting ist absurd. Der Kommissionsvertreter soll vorgeführt werden, was ein Profi wie Selmayr nicht mit sich machen lässt. Er lässt ein paar Sätze fallen, von denen er weiß, dass die anwesende Presse sie mit Handkuss verbreiten wird (›Wenn sich drei intelligente Menschen zusammen hinsetzen, ist der Antrag in einer halben Stunde erledigt‹). Blümel und Köstinger bleiben düpiert zurück. Dass hinter der ganzen Sache ein realer politischer Konflikt steht, der deutlich komplizierter ist als ›Österreichs Finanzminister ist dumm‹, geht in der Folge unter.

Auch wenn er das nie zugeben würde – die Szene dürfte Selmayr eine diebische Freude bereitet haben. Er nimmt solche Dinge eher sportlich, sagen auch Leute, die ihn kennen. Das mag ihm mancher als Arroganz auslegen, aber besser als Dinge persönlich zu nehmen ist es allemal. › Das Verhältnis zwischen Wien und Brüssel ist sehr gut, die österreichische Regierung ist ein verlässlicher Partner der Europäischen Kommission ‹, sagt Selmayr heute dazu. ›Dass man sich gelegentlich auch mal kritisch begegnet, gehört zum politischen Geschäft dazu.‹

Es gibt Momente mit Martin Selmayr, da hat man Angst, dass er gleich vor Selbstbewusstsein platzen und alle um ihn herum mit in den Tod reißen könnte. Da ist er dann der prototypische Piefke in Österreich, der nichts Böses tut und nicht Böses will, aber bereits dadurch problematisch wirkt, dass er sieben Sprachen spricht und weiß, was er kann. Sehr selten überhebt er sich dann auch: Als er sich gegen Blümel und Köstinger wehrt, verstehen das sogar Menschen, die der ÖVP prinzipiell gewogen sind. Dass er sich danach – mitten im Wien-Wahlkampf – öffentlichkeitswirksam mit Bürgermeister Michael Ludwig trifft, kommt deutlich weniger gut an.

Sein Ruf in Brüssel ist vielschichtig. Jeder, mit dem man spricht, bescheinigt ihm schnelle Auffassungsgabe, rhetorische Brillanz und hohe Intelligenz. Aber auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit. Selmayr würde › bewundert, verachtet und gefürchtet ‹, schrieb Politico vor fünf Jahren in einem Porträt über ihn. Er führe die EU nicht wie ein Kurator, der über die Debatte wacht, sondern wie die rechte Hand eines Königs, die keinen Widerstand duldet. Der Text trug den Titel ›Das Monster vom Berlaymont‹, einer seiner Spitznamen. Juncker verpasste ihm diesen einmal ironisch, die Brüsseler Blase trug ihn ein Stück weniger ironisch weiter. Über seinen ehemaligen Chef redet Selmayr nur in den höchsten Tönen. In seinem Büro hängt ein Foto von Von der Leyen, für alle Besucher deutlich sichtbar. Von seinem Schreibtisch aus blickt Selmayr aber auf ein Foto von Juncker.

Nach der Reise nach Verdun beginnt der 15-Jährige eine Brieffreundschaft mit einem gleichaltrigen Franzosen. Die beiden schreiben sich einmal die Woche, Selmayr auf Französisch, sein Freund auf Deutsch. Später kommen noch zwei junge Männer aus Polen und der damaligen DDR dazu. Die vier gründen eine europapolitische Zeitschrift, in der junge Menschen über ihre Vorstellungen, ihre Themen schreiben können. Sie erscheint drei Mal im Jahr, Selmayr editiert sie bis zum Ende seines Stu­diums mit. Eine europäische Jugend, lange bevor die EU als Freiheitsraum von Lissabon bis Bukarest existierte. Der politiknahe Bereich ist ihm familiär nicht fremd: Als Selmayr geboren wird, ist sein Vater persönlicher Referent des späteren deutschen Bundespräsidenten Karl Carstens. Selmayr gilt bis heute als CDU-nah, auch wenn Teile der EVP-Fraktion Von der Leyen Druck gemacht haben sollen, nicht mehr mit ihm zusammenzuarbeiten.

Selmayrs Lebenslauf ist zu lang, um ihn ausführlich zu zitieren. Er studiert Jus in Passau, Genf und London, schreibt seine Dissertation über die rechtlichen Grundlagen des Euros und arbeitet beim Vorläufer der Europäischen Zentralbank. 2001 geht er nach Brüssel, um das Büro der Bertelsmann AG zu leiten. Noch während er dort ist, macht er den EPSO-Test, die Qualifikation für einen Job als Beamter der Kommission. In den nächsten Jahren werden ihm immer wieder Positionen angeboten, die ihn aber nicht interessieren. 2004 bildet sich die Kommission Barroso I, und die Karten werden neu gemischt. Selmayr schreibt Bewerbungen, trifft sich mit Benita Ferrero-Waldner, die ihn als Redenschreiber haben möchte.

Die Niederländerin Viviane Reding, zuständig für ›Informationsgesellschaft und Medien ‹, macht den Sack aber früher zu. Selmayr wird ihr Sprecher – ein ›anfangs miserabler‹, der aber schnell lernt, wie er betont. In den zweiten fünf Jahren ist Reding dann für › Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft ‹ zuständig. Selmayr beschreibt diese Jahre als die schönsten in Brüssel.

2014 geht die Zeit seiner Chefin zu Ende, und auch ihr Sprecher bereitet sich wieder auf ruhigere Zeiten vor. Dann kommt ein Anruf, von dem ihm viele prophezeit haben, dass er kommen würde: Juncker fragt Selmayr, ob er seinen Wahlkampf leiten könne. Er kann. Danach ist er fünf Jahre lang ganz nahe an der Macht: erst als Junckers Stabschef, ab 2018 dann als Generalsekretär der Kommission, nach einer umstrittenen Beförderung durch seinen Chef, mit der er sich zusätzlich Feinde macht. Die größte Errungenschaft dieser Zeit ist für ihn die Rettung des Euros (› Ich bin fest davon überzeugt: Wenn Griechenland 2015 aus dem Euro ausgeschieden wäre, würden wir hier jetzt wieder in Schilling bezahlen ‹), seine offene Wunde ist der Rechtsstaatskonflikt mit Polen, der nicht gelöst werden konnte. Als sich in Brüssel 2019 wieder einmal alles neu mischt, fragt ihn Von der Leyen, welchen Job er denn machen wolle. Er nennt die Position in Wien, die gerade wieder einmal neu besetzt werden muss. Alle sind überrascht, inklusive Von der Leyen, aber jetzt ist er eben seit zwei Jahren da.

Selmayr hat aus Brüssel vor allem zwei Dinge mitgenommen. Eines davon erklärt man am besten mit einer Anekdote: In seiner Zeit bei Bertelsmann begleitet er den Vorstand eines großen Unternehmens bei einer Tour durch die EU-Institutionen. Als sie vor dem Europäischen Parlament stehen, hält dieser das für den Amtssitz des damaligen Wettbewerbskommissars. › Ich war überrascht, dass ein so mächtiger, gebildeter Mensch den Unterschied zwischen Kommission und Parlament nicht kennt ‹, sagt Selmayr. › Da habe ich gemerkt: Es bleibt immer die Hauptaufgabe, Brüssel zu erklären. Und dessen werde ich nicht müde. ‹ Für Menschen wie Selmayr wird es im regulatorischen Moloch EU immer einen Job geben, weil es immer etwas zu erklären gibt, zuletzt die Impfstoffbeschaffung.

Darüberhinaus hat er nach 20 Jahren in der EU-Bubble auch ein Gespür dafür, wo es hingehen könnte. Wenn Selmayr ins Reden über die Zukunft der Europä­ischen Union kommt, dann wird das hochspannend. Dann geht es um Konzepte wie Kerneuropa oder ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Das sind dann auch die Momente, in denen man versteht, warum die Gerüchteküche um ihn nicht aufhören will zu brodeln. Im für gewöhnlich gut informierten Newsletter von Politico stand vor einigen Wochen, dass Selmayr als europapoli­tischer Berater zu Armin Laschet wechseln könnte, sollte dieser die Wahl gewinnen. › Da sieht man, dass Politico nicht immer gut informiert ist ‹, sagt Selmayr. Nach Wien zu kommen sei eine sehr persön­liche Entscheidung gewesen. › Ich habe sie keinen Tag bereut. ‹

Es gibt keinen Grund, ihm das nicht zu glauben. Aber an der Tatsache, dass Selmayr objektiv eine Nummer zu groß für seinen aktuellen Job ist, ändert das nichts. Das ist überhaupt nicht schlimm, und in vier von fünf Momenten fügt sich die Figur Martin Selmayr problemlos in die gerade passende Situation ein. Aber beim fünften ist es eben plötzlich doch so, dass sich die Enden ein wenig dehnen. Vielleicht ist es auch ganz praktisch, dass er in letzter Zeit häufig Radlerhose trägt und sich zum Affen macht. So wirkt er weniger wie ein Monster, das für Österreich wahrscheinlich wirklich ein Stück zu groß wäre. •

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