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Barbarische Ignoranz

Warum sich der Westen für seine Unwissenheit über Afghanistan schämen sollte.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Oktober 2021

In aufgeklärten Kreisen ist Scham ein eher verpöntes Gefühl. Eines, das nach Schwäche und Kapitulation riecht. Denn wer sich schämt, hat sich der sozialen Kontrolle gebeugt. Er hat die Sicht auf sich selbst von außen dermaßen verinnerlicht, dass jede Abweichung von den sozialen Erwartungen und Normen einer Gesellschaft sofort mit Scham gegeißelt werden muss. Eine Form der eleganten Machtausübung ist sie, soll Konfuzius einmal gesagt haben  : › Wenn es keine Scham gibt, muss man Gewalt anwenden, um Menschen zu beherrschen, mit Scham kann man sie regieren, weil sie die Regeln, wie sie sich anderen Menschen gegenüber verhalten sollen, internalisiert haben. ‹ Kein Wunder also, dass den meisten die Scham suspekt ist.

Dennoch lässt sich der Scham einiges abgewinnen, insbesondere der Scham vor der eigenen Unwissenheit. Mit ihr geht die Hoffnung einher, dass der Beschämte seine Unwissenheit in Angriff nimmt, weil sie ihm selbst irgendwann zu dumm wird.

Seit einigen Wochen ist diese Scham latent spürbar, jedesmal wenn jemand über Afghanistan spricht. Westliche Politikerinnen und Medienschaffende ringen um Antworten, wenn sie die Lage eines Landes kommentieren sollen, von dem sie keine Ahnung haben. Peinlich berührt fragen sie nach : Wie konnte Kabul so schnell an die Taliban fallen ? Was haben wir da übersehen ? Wir, die wir immer alles sehen !

Für einen Moment gönnen sie dann jenen die Bühne, die tatsächlich eine Ahnung haben. Die vor laufender Kamera den Schmerz um den abermaligen Verlust ihrer Heimat runterschlucken, wissend, dass sie das kleine Zeitfenster, in dem Afghanistan noch › hot ‹ ist für den Westen, nicht mit Sentimentalität verschwenden dürfen. Sie müssen es nutzen, um zu erklären, zu kontextualisieren, um Nuance und Komplexität zu liefern, die jedes Mal dann zu fehlen scheint, wenn bärtige Männer und verschleierte Frauen im Spiel sind.

Zu selten kommen diese Expertinnen zu Wort. Lieber vertraut man den anderen, jenen, die keine der Landessprachen beherrschen, aber dafür umso fitter sind in Floskeln, die man so gut nachplappern kann, wenn sie vom › Friedhof der Supermächte ‹ schwafeln und von Taliban, die ganz viel Zeit haben, aber keine Uhren, oder so ähnlich. Gendersensibel, wie sie sind, vergessen sie natürlich nicht auf die afghanischen Frauen. Dass sie es sind, die der Westen im Stich lässt. Schade, wird dann bedauert, diese tapferen Afghaninnen, die zwei Jahrzehnte lang ins Empowerment gebombt wurden und nun wieder ihr Dasein hinter diesen blauen, kratzigen Polyesterstoffen fristen müssen. Unter den Taliban, diesen Barbaren, deren › toxische Männlichkeit ‹ immer schon irgendwie toxischer war als › die hemmungslose weiße Gewalt, weiße Besatzung, weiße Folter, weißen Drohnen ‹, wie die Wissenschaf­terinnen Anila Daulatzai und Sahar Ghumkhor in einem Kommentar auf Al Jazeera schreiben.

Daran wird im Westen festgehalten : der Talib, der Barbar. Er eignet sich hervorragend als Vergewisserung des eigenen zivilisierten Selbst. Hinter seiner Brutalität lässt sich die eigene gut verstecken. Mitsamt ihrer vorgelagerten Ignoranz.

› Wir hatten nicht den blassesten Schimmer ‹, werden amerikanische Berater und Militärs in den ›Afghanistan Papers‹ zitiert, jenem von der Washington Post 2019 ausgewerteten und unter Verschluss gehaltenen US-Kongress-Bericht zur Lage in Afghanistan. 18 Jahre und keinen blassen Schimmer von dem Land, in das man einmarschiert ist. Wie naiv zu glauben, dass ihre Unwissenheit sie beschämt hätte. Und dass sie in ihr die eigene Barbarei erkannt hätten. •

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