›Die Entfremdung hat lange vor Corona begonnen‹

Auch in Deutschland hat sich das Protestgeschehen radikalisiert. Wie gehen unsere Nachbarn damit um? Wo gibt es Parallelen, wo Austausch, worin unterscheiden sich die Szenen? Ein Gespräch mit dem Soziologen Matthias Quent.

DATUM Ausgabe Februar 2022

Professor Quent, Sie forschen seit vielen Jahren zum Thema Rechtsextremismus, Radikalisierung und Hasskriminalität. Wann und wie sind Sie auf die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen aufmerksam geworden?
Matthias Quent: Wir haben sehr schnell gesehen, dass Rechtsextreme versuchen, diese Proteste zu übernehmen. Zum einen waren sie in Gestalt von NPD, Drittem Weg, AFD und anderen besonders in Ostdeutschland physisch sehr präsent, zum anderen haben sie es als Kampagnenthema entdeckt. Ihr Landsmann Martin Sellner hat unter dem Titel ›Nach Corona die Remigration‹ das erste Strategiepapier dazu verfasst, wie man den Unmut ausnutzen kann, um die Bevölkerung gegen ›die Eliten‹, gegen Globalisierung und gegen Migranten aufzubringen. Das Ergebnis sieht man bis heute auf Transparenten mit der Aufschrift: ›Kontrolliert die Grenze, nicht euer Volk‹.

Wie hat sich die Demonstrationsszene in den fast zwei Jahren seit Ausbruch der Pandemie verändert?
Es gab von Anfang an gewalttätige Auseinandersetzungen im Umgang mit Autorität, Polizei, Staatsgewalt. Aber insgesamt beobachten wir seit dem Sommer 2021 eine verstärkte Radikalisierung. Seither gab es verschiedene Schübe mit unterschiedlichen Auslösern und Foren des Ausdrucks: größere Demonstrationen, Ungehorsam gegenüber der Polizei – bis hin zum Mord in Idar-Oberstein.

Dort hat ein Mann einen Tankstellenkassierer erschossen, nachdem dieser ihn auf die Maskenpflicht hingewiesen hat.
Genau. Da ist es eskaliert, aber es gibt inzwischen in jeder Regionalzeitung immer wieder Berichte über Angriffe auf Impfzentren, Busfahrerinnen, Supermarktverkäuferinnen. Wir wissen nicht, ob das organisierte Leute aus dem Querdenker-Umfeld sind oder solche, die die Einstellung teilen, aber sonst nicht auf Demonstrationen gehen. Man sieht: Die Gereiztheit ist riesig, die Zündschnur vieler Leute sehr kurz. Diese mobilisierte Szene ist eine tickende Zeitbombe. Es kann jederzeit passieren, dass Einzelne oder kleine Gruppen Anschläge verüben. Das wird im Netz verherrlicht, es gibt den Zugang zu Waffen, den Handlungsdruck, der im Kontext der Impfpflicht-Debatten noch mal gestiegen ist. Und es gibt auch die Erfolgserfahrungen: Wenn ständig Polizeiketten erfolgreich überrannt werden, wächst das Selbstbewusstsein. Auch in anderen Protestbewegungen waren Erfolgser­lebnisse Radikalisierungstrigger. Davon abgesehen beobachten wir eine Professionalisierung. Man geht konspirativer vor, lernt mit jeder Woche neu dazu, jedenfalls was die Organisation niedrigschwelliger aber nicht angemeldeter Straßenproteste angeht.

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