Ein Tag mit Kleinkind in der Großstadt
Wie der Tag wird, entscheidet sich lange vor Sonnenaufgang. Es kann um Mitternacht passieren, um drei Uhr früh oder um fünf: Der kleine Mensch im Nebenzimmer wird munter, weil irgendein Zahn herauswill. Zähne wollen grundsätzlich in der Nacht heraus. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn ein Zahn durchs Zahnfleisch stößt, aber ich weiß, wie es sich anhört. Man geht also hinüber und versucht den weinenden kleinen Menschen zu trösten. Wenn das nicht hilft, versucht man es auf die einfache Art: mit einem Schluck Milch. Wenn auch das nicht hilft, auf die komplizierte Art: mit einem lindernden, die quartäre Ammoniumverbindung Cetylpyridiniumchlorid enthaltenden Zahngel. Irgendwann aber akzeptiert man: Der Zahn will aus dem Fleisch, also will das Kind aus dem Bett. Und darum holt man es schließlich ins Elternschlafzimmer.
Doch in manchen Nächten bleibt der Zahn drin. Der Tag beginnt dann gemütlich um acht oder neun – und verspricht, ein guter Tag zu werden.
Wenn beide Eltern arbeiten, spaltet sich die Familie nach dem Frühstück. Derjenige, der aus dem Haus muss, kann sich schon einmal darauf einstellen, wie irreal ihm die Existenz seines Kindes nach ein paar Stunden Abwesenheit vorkommen, wie schnell er es vermissen wird. Das kommt daher, dass das Kind ansonsten so präsent ist. Man kann mit einer Eineinhalbjährigen keine WG führen; man kann nicht im gleichen Haushalt neben seinem Kind herleben. Es springt einem immer wieder dazwischen.
Ist man der Part, der heute beim Kind bleibt, muss man mit dem Tag irgendetwas anfangen. Im Sommer dreht man eine Runde mit dem Kinderwagen, zeigt dem Kind die Bäume, die Autos, den Himmel, so lange, bis man im Zoo angelangt ist oder im Park oder auf dem Spielplatz. Jetzt, im Spätherbst, ist es schwieriger. Draußen ist es kalt – aber wenigstens regnet es heute nicht, und darum verpackt man die Tochter gut und nimmt die Straßenbahn. Wenn man nach sechs, sieben Stationen und der fünfmaligen Wiederholung des immergleichen Dialogs (›Papa, festhalten!‹ – ›Ich brauche mich nicht festzuhalten, ich sitze!‹) am Spielplatz angekommen ist, hat es doch zu regnen begonnen, weshalb man in den Supermarkt vis-à-vis wechselt und dem Kind dabei zusieht, wie es zwischen den Regalen umherstapft. Man denkt dabei an die eigene Kindheit, die sich nicht in der Großstadt zugetragen hat, und daran, dass einem die eigenen Eltern wahrscheinlich keinen Supermarkt als Spielplatz verkauft haben. Auch wenn der Tochter der Unterschied egal ist, weil sie sich vor den mit Hund und Katz verzierten Tierfutterpackungen fast genauso amüsiert wie im Schönbrunner Zoo vor den lebenden Exemplaren.
Nach dem Einkauf hat es zu regnen aufgehört. Also ab auf den Spielplatz. Man muss nur die Schaukel trockenwischen. Apropos nass und trocken: Langsam ist es Zeit für eine frische Windel. Und fürs Essen. Und dann für die Trinkflasche. Und dann für die nächste Windel. Das hört alles niemals auf, bis zum Abend nicht mehr, und am nächsten Tag geht es weiter, jeden Tag – und dass das alles nie aufhört, ist auch der Grund, warum einem das Kind so sehr fehlt, wenn man es einmal ein paar Stunden lang nicht sieht. Denn was sollte man auch mit seiner Zeit anstellen, das besser ist, als sie mit seinem Kind zu verbringen?
Der verrückte Publizist und späte Vater Dr. Dr. Günther Nenning hat es 2001 im Profil so ausgedrückt: ›Herrlich, herrlich. Das Kind ist die Quelle. Da kann die ganze Innenpolitik scheißen gehen.‹ Man möchte ergänzen: nicht nur die.