Funkstille
Knapp ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie kennt fast jeder jemanden, der an der › offiziellen ‹ Darstellung der Bedrohung zweifelt. Was aber, wenn dieser Jemand Teil der eigenen Familie ist ?
Es gab immer zwei Arten von Schweigen bei unseren Familientreffen. Das zufriedene und das betretene. Das zufriedene Schweigen trat dann ein, wenn alle Vorwürfe, die offenen und die versteckten, geschickt platziert worden waren, um so bei allen Anwesenden ausreichend Schuldgefühle für das Zustandekommen des nächsten Treffens zu erzeugen. Und wenn man sich endlich jener Beschäftigung widmen konnte, die Trost versprach für all die enttäuschten Erwartungen und die erwarteten Enttäuschungen : dem Essen.
Die richtige Buttercremetorte vermochte, was selbst 20 Stunden Familientherapie nicht geschafft hatten, sie legte sich über vergangene Verletzungen, kleisterte alte Wunden zu und erzeugte eine Stimmung, die dem Zustand der Harmonie schon sehr nahe kam.
Ich mochte diese Momente. Wenn niemand sprach, sich niemand beklagte, wenn alle einträchtig kauten, schluckten und sich anlächelten.
Wenn sich zufriedenes Schweigen langsam zwischen allen ausbreitete und man sich bei dem Gedanken ertappte, dass Familie eigentlich doch keine ganz schlechte Erfindung ist.
Ganz anders hingegen verhielt es sich mit dem betretenen Schweigen. Es kam immer ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Und es fühlte sich an, als würden wir alle, die gesamte Familie, miteinander auf einer Bühne stehen, auf der sich von einem Moment auf den anderen ein Teil des Bühnenbildes aus der Verankerung gelöst hatte. Um dann mit lautem Knall zu Boden zu fallen. Die Illusion war tot, was blieb, waren Scherben.
Das betretene Schweigen war ein Zustand, kein Augenblick. Und häufig war es vieles auf einmal : Fremdscham, Verlegenheit, Realitätsflucht. Nur nichts sagen, dann geht alles schnell vorbei. Aber auch : Mir fehlen echt die Worte. Und schließlich : Hab ich wirklich richtig gehört ?
Das betretene Schweigen war die Reaktion auf Einblicke in die Gedankenwelt meiner Verwandten, die ich nun wirklich niemals bekommen wollte. Seit März ist es zum Dauerzustand geworden. Und ich weiß nicht mehr genau, wie es so weit kommen konnte. Ich weiß nur, es geht nicht mehr weg.
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