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Große Pause

Wer sagt eigentlich, dass man im Winter was tun muss ? Viele heimische Tierarten drosseln jetzt ihre Aktivitäten auf ein Minimum. André Stadler, Direktor des Alpenzoos Innsbruck, erklärt, warum Winterschläfer die Wissenschaft faszinieren – und welche Gefahren ihnen in freier Wildbahn drohen.

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Illustration:
Alexandra Turban
DATUM Ausgabe Dezember 2020

Die Murmeltiere haben sich schon eingegraben, in Höhlen tief in der Erde, wo genau, weiß man im Zoo nicht. Zu sehen sind nur Löcher im Boden, die Eingänge zu sehr verzweigten Gängen, die zu den Schlafhöhlen führen. Bereits Anfang Oktober haben sich die Murmeltiere des Alpenzoos Innsbruck zum Winterschlaf zurückgezogen. Eine Schautafel vor ihrem nun leeren Gehege informiert die Besucher darüber, was das bedeutet : Körpertemperatur, Puls und Atemfrequenz werden auf ein Minimum reduziert, um möglichst wenig Energie zu verbrauchen. In dieser Zeit bauen die Tiere ihre zuvor ange­fressenen Fettreserven ab. Wenn sie im Frühjahr aufwachen, werden sie 30 bis 40 Prozent ihres Körpergewichts ver­loren haben.

Der Winterschlaf ist eine Überlebensstrategie in extremen Lebensräumen. Im Lauf der Jahrmillionen haben Tiere viele kreative Wege gefunden, sich an lebensfeindliche Bedingungen an­zupassen. Die Bedingungen werden jedoch immer extremer, und ein wesentlicher Faktor dafür ist der Mensch.

Im Alpenzoo Innsbruck gibt es nur Tiere aus den Alpen, Elefanten oder Löwen sucht man dort vergeblich. Die Tiere leben hier in ihrem natürlichen Umfeld. Seitens des Zoos sind daher ­wenige Vorbereitungen auf die Winterruhe nötig, die Tiere ziehen sich selber zurück, erklärt Direktor André Stadler, wie eben die Murmeltiere : › Die sind jetzt weg, und wir hoffen, sie im März dann wieder begrüßen zu können. ‹ 

Der gebürtige Wuppertaler leitet den Alpenzoo Innsbruck seit 2018. Dem studierten Biologen, der auch am Institut für Zoologie an der Universität Innsbruck lehrt, sind besonders Bildung und Forschung ein großes Anliegen. Aktuell betreut er ein Forschungsprojekt über Schneehasen : Die Tiere passen sich dem Winter an, indem sie sich ein dichtes, schneeweißes Fell zulegen.

Winterschläfer hingegen ziehen sich bei sinkenden Temperaturen unter die Erde oder in Höhlen zurück. Die Braunbärin Martina hat das eigentlich schon getan, aber an diesem ungewöhnlich warmen Tag Ende Oktober ist sie noch einmal herausgekommen. Sie wird den Winter in einer Höhle verbringen, geschützt vor Lärm und den Blicken der ­Besucher. Durch eine Klappe in ihrem Gehege gelangt sie hinein. Alle paar Tage wird sie erwachen, manchmal bekommt sie dann von ihren Pflegern ein Löf­felchen Honig. Ihr Gefährte, Ander, benannt nach dem Tiroler Nationalhelden Andreas Hofer, ist hingegen einer von wenigen Bären, die auf eine Winterruhe verzichten. Wie so vieles ist eben auch das Winterschlafverhalten individuell unterschiedlich.

Auch eine einsame Kreuzotter scheint noch einmal die Sonne genießen zu wollen. Aufmerksame Besucher können sie in ihrem Gehege hinter der Glasscheibe erspähen, sie hat sich an einen von der Sonne gewärmten Stein geschmiegt. Ihre Artgenossinnen haben sich schon ein­gegraben, um in der Erde geschützt zu überwintern. Denn wenn die Temperatur zu niedrig wird, fallen diese wechsel­warmen Reptilien, die ihre Körpertempe­ratur nicht selbst regulieren können, in Win­terstarre und werden völlig bewegungslos.

Winterschlaf ohne Schlaf

Mit Schlaf hat der sogenannte Winterschlaf in Wirklichkeit wenig zu tun. Im Zustand des Torpor – so lautet der wissenschaftlich korrekte Begriff für den Zustand, in den sich Tiere im Winterschlaf versetzen – werden lebenserhaltende Funktionen wie Stoffwechsel, Körpertemperatur und Herzschlag auf ein Minimum reduziert. Auf diese Weise können die Winterschläfer ihren Energiebedarf um bis zu 99 Prozent reduzieren. Zwar ist das Phänomen Winterschlaf schon ziemlich gut erforscht, trotzdem ist es für die Wissenschaft nach wie vor faszinierend, denn es ist noch ungeklärt, welche Vorgänge genau im Körper ablaufen und warum die Tiere mehrere Monate fast ­bewegungslos verbringen, aber keinen Schaden davontragen : Weder verkümmern ihre Muskeln, noch leidet in der Regel ihr Gedächtnis unter dem monatelangen Kühlzustand. › Das ist Natur zum Staunen ‹, meint Zoodirektor André Stadler. Eine Klärung der Frage, wie Organe und Muskulatur die niedrige Sauerstoffzufuhr unbeschadet überstehen, ist auch für die Humanmedizin interessant und könnte etwa Organtransplantationen oder die Behandlungen nach Herzstillständen verbessern.

Die kalte und dunkle Jahreszeit einfach zu verschlafen, ist für Menschen aber, mag es manch einem noch so verlockend erscheinen, nicht realistisch : › Dafür ist unser Körper nicht gebaut ‹, sagt André Stadler, › wir müssen regelmäßig essen. ‹

Auch die Winterschläfer wachen während des Torpors alle paar Tage auf. Die genauen Gründe sind noch unbekannt, Forscher vermuten eine Kombination aus Aktivierung der Immunabwehr, Organregeneration, dem Ausscheiden von Stoffwechselgiften und dem Nachholen von Schlaf – denn der Winterschlaf hat mit dem Schlaf eben nur den Namen gemein, biologisch sind es völlig unterschiedliche Prozesse.

Dass es Zeit ist, sich zurückzuziehen, sagt den Winterschläfern ihre innere Uhr, die unter anderem über Temperatur und Licht gesteuert wird. Der Rückzug erfolgt jedes Jahr ungefähr zum gleichen Zeitpunkt, sagt Zoodirektor Stadler, aber er habe sich im Laufe der Jahrzehnte nach hinten verschoben : › Wir bemerken, dass es immer später in den Winterschlaf reingeht und sie früher rauskommen. Das sind die Effekte der globalen Erwärmung. ‹

Die Evolution kommt nicht nach

Die klimatischen Bedingungen in den Hochalpen sind hart, im Winter kann es schon mal sieben Meter Schnee geben. Pflanzen- und Knollenfresser finden dann nichts mehr zu fressen. Die einzelnen Tierarten haben unterschiedliche Strategien gefunden, mit den lebensfeindlichen Bedingungen umzugehen. Dem Schneehasen beispielsweise, im Sommer braun wie die Landschaft, wächst im Winter ein weißes Fell, wodurch er in einer Schneelandschaft getarnt und vor Feinden geschützt ist. Wenn aber, wie es zunehmend passiert, kein Schnee liegt, leuchtet sein weißes Fell wie ein Signal, und er wird zur leichten Beute für die Geier. Das seien die eigentlichen negativen Effekte der glo­balen Erwärmung, erklärt der Zoodirektor : › Dass es wärmer wird, ist nicht das Problem. Darauf kann die Natur reagieren, die sortiert dann sozusagen die Tiere aus, die zu lange weiß bleiben, diese werden eher gefressen. Aber die Evolution kommt nicht schnell genug hinterher mit diesem rasanten Anstieg, den wir Menschen verursacht haben. ‹

Auch auf die Winterschläfer wirken sich die veränderten klimatischen Be­dingungen aus : Wenn die Winter kürzer werden, wird es auch der Winterschlaf. Die Winterschlafsaison von Gelbbauchmurmeltieren hat sich zwischen 1976 und 2000 um 38 Tage verkürzt. Das hat auch gesundheitliche Folgen. Britische Forscher haben etwa herausgefunden, dass Murmeltiere aufgrund des Klimawandels immer dicker werden, weil sie durch den verkürzten Winterschlaf weniger Fett verbrauchen und mehr fressen.

Ob Winterschläfer insgesamt zu den Gewinnern oder Verlierern der Folgen des Klimawandels gehören werden, ist ungewiss, schreibt Lisa Warnecke in ihrem 2017 erschienenen Buch › Das Geheimnis der Winterschläfer ‹. Die Zoo­login hat Winterschläfer auf vier Kon­tinenten studiert und sich auch damit beschäftigt, welche Faktoren die Winterruhe der Tiere stören und welche Folgen das hat.

Gewiss ist jedenfalls, dass die Länge der einzelnen Torporphasen unter an­derem von der Umgebungstemperatur abhängt. Kürzere Torporphasen bedeuten automatisch mehr Aufwachphasen. Schon geringe Schwankungen der Umweltbedingungen können also das fein austarierte Energiegleichgewicht von Win­terschläfern stören.

Eine besondere Herausforderung sind starke Temperaturschwankungen, die es in den vergangenen Jahren zunehmend gegeben hat, denn das › Aufwachen ‹ ist ein sehr energieaufwendiger Prozess : Körpertemperatur, Stoffwechsel, Puls und Verdauung werden wieder hochgefahren, dabei wird viel Fett verbrannt. Bis zu 80 Prozent der Energie, die Tiere während des Winterschlafs verbrauchen, geht für die › Aufwachphasen ‹ drauf.

Wenn es längere Zeit warm bleibt, kommen die Tiere aus ihren Winterhöhlen; wird es dann wieder kalt, ist das ungünstig. Manche Tierarten können darauf reagieren, einige Zugvogelarten fliegen dann eben wieder weg, erklärt Zoodirektor Stadler. Manche Winterschläfer begeben sich noch einmal in den Winterschlaf und müssen beim erneuten Aufwachen wieder viel Energie investieren. › Das kann man ein-, zweimal machen, aber wenn das zu oft passiert, sind sie tot. ‹

Auch Tiere, die keine Winterruhe halten, etwa Gämsen, Steinböcke oder Rothirsche, schrauben im Winter ihre Stoffwechselaktivität herunter. Werden sie, etwa von Wintersportlern, gestört, müssen sie vom Spar- in den Fluchtmodus umschalten – ein extrem energieaufwendiger Vorgang.

Auswilderung aus dem All-inclusive-Hotel

Stresssituationen und Gefahren wie diese drohen den Zoobewohnern nicht. André Stadler vergleicht den Zoo gerne mit einem All-inclusive-Hotel : › Ich habe keine Fressfeinde, ich kriege meinen Partner zur Verfügung gestellt, wenn er nicht passt, stellt man mir einen neuen. Habe ich einen Husten, kommt der Leibarzt, ich habe jeden Tag persönliches Personal, das mir bestes Futter bringt und alles saubermacht. ‹

Diese Pflege und der Schutz sind besonders für Tierarten wichtig, die vom Aussterben bedroht sind, und das betrifft nicht nur Exoten wie den Tiger oder den Roten Panda, sondern auch heimische. 

Nicht nur › fünf vor zwölf, sondern eine Sekunde vor zwölf ‹ steht es etwa für die Bayerische Kurzohrmaus, die es, anders als ihr Name vermuten lässt, nur noch auf einer einzigen Wiese in Tirol gibt. Um diese Tierart vor dem Aussterben zu retten, wird im Alpenzoo zusammen mit der Uni Wien und den Bun-
desforsten gerade ein Artenschutzprogramm gegründet.

Einige dieser Programme waren bereits sehr erfolgreich. › Dass wir wieder Steinböcke in Nordtirol in den Alpen haben, das ist das Verdienst der Zoos. Dass es wieder Geier in den Alpen gibt, das ist das Verdienst der Zoos. Es gibt allein 50 Tierarten auf der ganzen Welt, die nur durch zoologische Gärten gerettet wurden ‹, erklärt der Zoodirektor.

Die Bartgeier wurden im 19. Jahrhundert so gut wie ausgerottet, heute leben in den Alpen bereits wieder 120 sich selbst reproduzierende solche Raub­vögel. Doch : › Ein gutes Drittel bis die Hälfte der Tiere, die man auswildert, versterben natürlich, denn die freie Wildbahn ist kein All-inclusive-Hotel. ‹

Ein ruhiger Winter steht bevor

Dass sich einige Tierarten in der Winterruhe befinden, bedeutet nicht, dass es im Alpenzoo nichts zu sehen gäbe. Wölfe, Steinböcke, Elche, Gämsen, Luchse, Wildkatzen, Eulen, Geier, Fische und viele andere Zoobewohner zeigen sich unbeeindruckt von der kalten Jahreszeit.

› Im Winter ist im Zoo eigentlich besonders viel los ‹, sagt Direktor Stadler. Im Winter in den Zoo zu gehen, sei sogar ein Geheimtipp : › Da sind weniger Besucher, die Tiere reagieren stärker auf einen, da kann man viel mehr bei den Tieren beobachten und sehen, als wenn man nur am Pfingstsonntag kommt. ‹

Der Winter 2020 wird allerdings wohl unfreiwillig viel ruhiger als beabsichtigt, denn als Maßnahme gegen die Corona-Pandemie musste der Zoo Anfang November für Besucher schließen.

Der Zoodirektor bedauert das zwar, › möchte aber nicht mehr jammern als notwendig ‹. Weder vom Personal noch von den Tieren sei jemand krank, das sei das Wichtigste. 

Bei den Tieren macht sich das Ausbleiben des Publikums durchaus bemerkbar : Die Gämsen werden zunehmend menschenscheu. Im März seien sie richtiggehend verwildert, weil sie so wenige Besucher gesehen haben. Kühe, Schafe und Ziegen aus dem Streichelzoo hingegen vermissen die Besucher und fordern die Streicheleinheiten stattdessen von den Zoomitarbeitern ein.

Die Wölfe und Luchse wiederum langweilen sich. › Ein Kind mit einer roten Bommelmütze und ein Erwachsener mit einer gelben Jacke, das ist ja auch für die Zootiere interessant, die schauen ja auf den Besucher. Und da passierte gar nichts, die haben ein Testbild gesendet gekriegt. ‹

Die Schlangen, Frösche, Murmeltiere und die Bärin allerdings bekommen von diesem ungewöhnlichen Winter nichts mit. Wenn sie im Frühling aus ihren Winterhöhlen kommen, werden sie hoffentlich wieder von Besuchern empfangen. •