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Handwerkerin der Macht

Die frühere Umweltaktivistin Leonore Gewessler wollte eigentlich den Klimaschutz forcieren. Jetzt muss sie dafür sorgen, dass uns die fossilen Brennstoffe nicht zu früh ausgehen. Wie lange kann dieser Spagat gelingen?

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Fotografie:
Ursula Röck
DATUM Ausgabe November 2022

Das Bundesamtsgebäude in Wien-Landstraße fehlt auf keiner Liste der hässlichsten Bauten Wiens. Acht monströse Säulen aus Backsteinziegeln halten die Anlage zusammen. Oben haben sie einen Gupf, wie Flaktürme aus dem Zweiten Weltkrieg. Dazwischen fächern sich dunkelgrüne Seitenteile, mit schmalen, glubschäugigen Fenstern. 

1986 übersiedelte das Verkehrsministerium in die damals neu errichtete Trutzburg, die nach Ansicht von Architekt Peter Czernin den Fortschritt symbolisieren sollte. Darunter verstand man damals vielspurige Autobahnen, die das Land vom Bodensee bis zum Neusiedlersee durchschneiden, möglichst kerzengerade. War ein Berg im Weg, dann musste er durchlöchert werden. Freie Fahrt für freie Bürger: Der ungebremste Individualverkehr war ein gemeinsamer Nenner von Rot, Schwarz und Blau; von Bauarbeitern, Beamtinnen und Industriekapitänen. Schon damals gab es Mahner. Aber die große Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher wollte sich von ein paar Naturschützern gewiss nicht den Spaß verderben lassen. 

Leonore Gewessler war damals zehn Jahre alt und pendelte unter der Woche von ihrem Elternhaus im steirischen St. Marein nach Graz ins Gymnasium. Sie war noch ein Kind, aber alt genug, um zu verstehen, worüber die Nachrichtensprecher im Mai 1986 berichteten. Im ukrainischen Tschernobyl war ein Atomkraftwerk explodiert, eine radioaktive Wolke zog über Österreich. Ihr Nachbar bekam es mit der Panik zu tun: Er baute seinen Keller zu einem Atombunker um. Und Gewessler, geprägt von einer Mutter, die auf Nachhaltigkeit hielt und penibel darauf achtete, dass der Hausmüll sauber getrennt wird, fasste einen Entschluss: Sie wollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um einen Zusammenbruch des Ökosystems zu verhindern. 

Heute hat sie in dem Haus mit den acht Flaktürmen das Sagen. Die inzwischen 44-jährige Umweltaktivistin wurde im Jänner 2020 für die Grünen als Ministerin angelobt. Da hatte sie bereits eine erste Ansage gemacht. Aus dem Verkehrsressort wurde das Wort Verkehr getilgt, Gewessler ist Bundesministerin für ›Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie‹. Damit steuert sie einen mächtigen Apparat mit einem Jahresbudget von rund zehn Milliarden Euro. So lässt sich etwa das Klimaticket finanzieren: Um weniger als hundert Euro im Monat kann man damit Zugfahren, so oft man möchte. Möglich ist das, weil das Ministerium rund 200 Millionen Euro im Jahr zuschießt. Auch der Klimabonus geht auf sie zurück: Im Frühherbst wurden erstmals allen in Österreich lebenden Erwachsenen 500 Euro ausgezahlt, für Kinder und Jugendliche gab es 250 Euro. Eigentlich sollte die CO2-Bepreisung sozial abgefedert werden. Die wurde aber verschoben. De facto wird der Klimabonus nun zum Teuerungsausgleich umfunktioniert. 

So oder so. Es sind populäre Maßnahmen, an denen nur Kritikerinnen und Kritiker der Staatsverschuldung etwas auszusetzen haben. Mit vielen anderen Maßnahmen bringt die grüne Ministerin aber regelmäßig die halbe Republik gegen sich auf: Etwa als sie 2021 alle Neubauprojekte der ihr unterstellten Autobahngesellschaft Asfinag auf Eis legte, darunter auch den seit zwei Jahrzehnten geplanten, mehr als acht Kilometer langen Schnellstraßentunnel unter dem Naturschutzgebiet Lobau, östlich von Wien. Ihr Dekret kam wenige Monate, bevor die ersten Bagger auffahren hätten sollen. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) war stinksauer, er will Gewesslers Entscheidung juristisch anfechten. Die legte im September nach: Mit einer Gesetzesänderung will sie das umstrittene Projekt endgültig abblasen. Die einstige Umweltaktivistin sitzt an einer der wichtigsten Schaltstellen der Republik. Sie handelt aus Überzeugung und hat kein Problem damit, anzuecken. ›Wenn wir mit dem Klimaschutz warten, bis alle bereit sind, fällt uns vorher der Planet auseinander‹, sagt Gewessler. 

Das sind starke Ansagen, auf die nicht immer die entsprechenden Maßnahmen folgen. Das von Gewessler zu Amtsantritt versprochene Klimaschutzgesetz liegt noch immer nicht vor. Andere Maßnahmen wurden zwar umgesetzt, haben aber bisher wenig Erfolg gebracht: Etwa der vor einiger Zeit von Gewessler eingesetzte ›Klimarat‹, bei dem sich hundert per Zufall ausgewählte Bürgerinnen und Bürger gemeinsam mit Fachleuten Gedanken über Maßnahmen gegen den Klimawandel machen sollten. Knapp zwei Millionen Euro kostet die Einrichtung, mehr als die Hälfte davon sind PR-Kosten. ›Absolut untauglich‹ nannte Johannes Schmuckenschlager, Klimasprecher der ÖVP, die Einrichtung. Auch beim Koalitionspartner ist Gewessler nicht immer gut angeschrieben. 

Ein anderer ÖVP-Abgeordneter verweist auf die ideologischen Differenzen zwischen seiner Partei und den Grünen. Man sei eben auch der eigenen Wählerschaft verpflichtet, denen Gewessler zu weit gehe, wenn sie bereits budgetierte Bauprojekte einfach abdreht. ›Aber wenn man sich wirklich durchsetzen will, geht es vielleicht nicht anders‹, räumt der ÖVP-Mann ein. ›Jeder vernünftige Mensch weiß, dass der Klimawandel eine Tatsache ist und wir etwas dagegen tun müssen.‹ 

›Die Leonore wird niemals laut, sie bleibt immer verbindlich‹, sagt ein hoher Mitarbeiter aus einem anderen grünen Kabinett. 

Umgänglich ist sie in der Tat. Gewessler steht in ihrem Büro im achten Stock vor dem Fenster, für ein Foto. Draußen wachsen Kräne in den Himmel über Wien, in der Innenstadt wird derzeit viel gebaut. Die Symbolwirkung ist klar: Es tut sich etwas. Die Ministerin posiert hier nicht zum ersten Mal. ›Moment‹, sagt sie. Kurz die Gesichtszüge lockern. ›Sonst friert das Lächeln ein.‹ Sieht so Macht aus, Frau Ministerin? Gewessler lacht. ›Wie sollte die Macht denn aussehen? Sie muss jedenfalls nicht garstig blicken.‹

Der grüne Kabinettsmitarbeiter sagt über Gewessler aber auch: ›In der Sache gibt sie nicht nach.‹ Kein anderes grünes Regierungsmitglied habe das Handwerk der Macht so schnell gelernt. Wie man den eigenen Willen gegen Widerstände durchsetzt, hat Gewessler in der Wiener Stadtpolitik gelernt. Nach einem Studium der Politikwissenschaften heuerte sie in Wien-Neubau an, als Büroleiterin des damals ersten grünen Bezirksvorstehers Thomas Blimlinger, der Autos Schritt für Schritt aus dem öffentlichen Raum drängte, um Radwege und Kinderspielplätze zu bauen – oft genug gegen den Willen der übermächtigen Sozialdemokraten im Wiener Rathaus. Nach einem Intermezzo im Europaparlament wurde sie schließlich Geschäftsführerin der Umweltorganisation Global 2000. Zwar brachte man ihr dort auch bei, wie man sich von einem Baukran abseilt, um ein Protestplakat zu entrollen. Oft kam das aber nicht vor. Global 2000 setzt weniger auf Aktivismus, mehr auf Allianzen mit strategischen Partnern aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Eine Erfahrung, die sich später bezahlt machte. Als der Koalitionspartner ÖVP vor zwei Jahren ein Pfandsystem für Einweg-Plastikflaschen boykottierte – aus Rücksichtnahme auf den Handel – verbündete sich Gewessler ausgerechnet mit dem Diskonter Lidl. Gemeinsam präsentierte man Einwegpfandautomaten nach deutschem Vorbild. Am Ende setzte sie sich durch: Ab 2025 werden pro Plastikflasche 25 Cent einbehalten. 

Zu oft müsse sie sich anhören, warum etwas angeblich unmöglich sei, meint Gewessler. ›Wenn man nur die Hälfte der Zeit damit verbringen würde, sich an einen Tisch zu setzen und nach Lösungen zu suchen, wären wir viel weiter.‹ 

Gewessler setzt sich an einen großen Besprechungstisch, schenkt sich aus einer Thermoskanne Tee in eine große Tasse nach. ›Haben Sie Ihren Traumjob gefunden?‹ – ›Das hat mich noch niemand gefragt.‹ Sie nippt vom Tee, denkt nach, lacht. ›Aber ich denke, ja.‹ – ›Muss man Sie sich als einen glücklichen Menschen vorstellen?‹ – ›Sie können sich mich als einen glücklichen Menschen vorstellen‹, sagt sie. ›Auch wenn man die europäischen Energieministerinnen und Energieminister derzeit eher an ihren Falten und grauen Haaren erkennt.‹

Denn mit dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine und den scharfen Reaktionen des Westens auf diesen Völkerrechtsbruch wurde Gewesslers Agenda auf den Kopf gestellt. Rasch wurde klar, dass Diktator Wladimir Putin bereit war, Gas als Druckmittel einzusetzen. Und das traf Österreich härter als andere Länder. Erst 2018 wurde ein Liefervertrag der OMV mit der Gazprom ausgeweitet, im Frühjahr betrug die Abhängigkeit von russischem Erdgas mehr als 80 Prozent. 

›Im Feber waren die Speicher beinahe leer, wir hatten kaum Puffer‹, sagt Gewessler. Ausgerechnet die Klimaschutzministerin, die sich den Ausstieg aus fossilen Energieträgern auf die Fahnen geschrieben hatte, musste nun neue Gasquellen ausfindig machen. Ein Schicksal, das sie mit ihrem deutschen Amtskollegen und Parteifreund Robert Habeck teilte. Der grüne Minister in Berlin musste sogar Kohlekraftwerke reaktivieren und die Laufzeit von Atomkraftwerken verlängern. Letzteres blieb ihr erspart – mangels Reaktoren in Österreich. Aber dass ein stillgelegtes Kohlekraftwerk im steirischen Mellach bisher noch nicht wieder hochgefahren wurde, liegt an einem Veto der Opposition im Nationalrat. Ausgerechnet Klimaschützerin Gewessler attackierte deswegen im Sommer die SPÖ: ›Unverantwortlich‹ sei deren Abstimmungsverhalten und ›einer sozialdemokratischen Partei nicht würdig‹.   

Anders als Gewessler ist Habeck schon lange in der Spitzenpolitik tätig, schon 2009 wurde der Schriftsteller in den schleswig-holsteinischen Landtag gewählt, drei Jahre später wurde er Landesminister für Energiewende und Landwirtschaft, 2021 Energie- und Wirtschaftsminister in Berlin. Der 53-Jährige mit dem markanten Wuschelkopf ist ein launiger Kommunikator, der für einen spontanen Kalauer nur allzu gerne vom vorbereiteten Redetext abweicht. Das kann man von Gewessler nicht sagen. Leute aus dem Regierungsbetrieb, die mit ihr zu tun haben, beschreiben sie als ausgesprochen diszipliniert: Vor jedem Termin akribisch vorbereitet, eine, die Akten selbst liest und nicht nur auf die schnellen Briefings ihres Stabs vertraut.  

Trotzdem oder deswegen verstehen sich Gewessler und Habeck prächtig. Man ist selbstverständlich per Du, trifft sich regelmäßig und kommuniziert am kurzen Weg per Whatsapp oder Telefon. Es ist wohl auch dem guten Draht zwischen den beiden Grünen zu verdanken, dass im Sommer gröbere bilaterale Verwerfungen zwischen Österreich und Deutschland vermieden werden konnten. Damals meldete Gewessler Ansprüche auf den riesigen Gasspeicher im Salzburger Haidach an. Der steht zwar auf österreichischem Staatsgebiet, war aber bisher ausschließlich an das süddeutsche Netz angeschlossen. Gewessler wollte eine Leitung für Österreich legen lassen – zum Unmut des bayerischen CSU-Ministerpräsidenten Markus Söder. Sollte die vielbeschworene europäische Solidarität enden, sobald es ans Eingemachte geht und kalte Wohnungen im Winter drohen? Gewessler und Habeck einigten sich schließlich, Haidach versorgt nun auch Österreich. ›Es ist ein Merkmal grüner Politik, mehr auf das große Ganze in Europa zu sehen und nicht nur auf das eigene Land‹, sagt Gewessler. ›Gerade in der Krise ist man aufeinander angewiesen.‹

Die weitaus größere Herausforderung sei es gewesen, neue Lieferquellen für Erdgas zu finden. Zwar verfügt die OMV über Gasfelder in Norwegen, deren Gas war allerdings nicht für Österreich bestimmt. Gemeinsam mit OMV-Chef Alfred Stern gelang es schließlich, einen Teil davon umzuleiten. Auch über Italien und die Niederlande fließt inzwischen Gas von den dortigen LNG-Terminals nach Österreich. Was bedeutet das für die Abhängigkeit von russischem Gas? ›Seriöse, finale Daten liegen noch nicht vor. Aber wir sind sicher schon deutlich unter 50 Prozent‹, sagt Gewessler. Wie es aussieht, wird im Winter niemand zu Hause frieren müssen. Aber wer weiß das schon genau? ›Wer in der momentanen Situation eine hundertprozentige Garantie abgibt, ist ein Scharlatan‹, sagt sie. Und auch für den übernächsten Winter will sie keine Prognose abgeben. Zu unsicher sei die Weltlage. Kein Mensch weiß, wie sich der Ukrainekrieg entwickelt, ob Putin die Gasleitungen nach Europa womöglich völlig kappt. Und ob die globale Nachfrage bald wieder steigt: Derzeit verbraucht China aufgrund der schwächelnden Wirtschaft deutlich weniger Gas als in den Jahren zuvor, davon profitiert Europa. Das kann sich freilich rasch ändern. 

Wie ihr deutscher Amtskollege Habeck hat daher auch Gewessler eine Reihe von praktischen Ratschlägen veröffentlicht, mit denen der Energiekonsum in privaten Haushalten gedrosselt werden kann: Lieber Duschen statt Baden, beim Kochen immer einen Deckel auf den Topf geben und im Zweifel die Heizung etwas nach unten drehen. Auch in ihrem eigenen Büro steht der Thermostat bei 19 Grad. Sie hat veranlasst, dass Gebäudetechnik und Beleuchtung erneuert werden, der Stromverbrauch konnte um immerhin 15 Prozent gesenkt werden. Mehr würde eine thermische Sanierung bringen. Aber das lässt die bauliche Substanz des ehemaligen Verkehrsministeriums nicht zu. Am einfachsten wäre es wohl, das Gebäude einfach abzureißen und neu zu bauen. Aber der Koloss steht unter Denkmalschutz – wie so vieles in Österreich, das das Klima schädigt. Ministerin Gewessler hat noch allerhand dicke Bretter zu bohren. •

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