In seinen Schuhen
Die NEOS waren zwei Dinge: Matthias. Und Strolz. Was hat Beate Meinl-Reisinger nun vor?
Die ›NEOSphäre‹, die Parteizentrale der NEOS, sieht genau so aus, wie man sich die Parteizentrale der NEOS vorstellt. Halbjunge Menschen in halbseriöser Kleidung wuseln durch das pink verzierte, offene Dachloft im siebten Wiener Gemeindebezirk. Es ist ein heißer Montag im August, die Stimmung ist hektisch. Beate Meinl-Reisinger bekommt schnell noch eine Suppe aus der Mikrowelle gereicht, Outfits zum Wechseln werden durch die Gegend getragen. In fünf Minuten soll ein Auto nach Krems aufbrechen, später am Abend wird das ORF-Sommergespräch aufgezeichnet. Es ist Beate Meinl-Reisingers erster großer Fernsehauftritt, seitdem sie Parteichefin ist.
Ein paar Wochen zuvor steht sie grinsend auf der Bühne der Wiener Stadthalle und hält einen Blumenstrauß in die Höhe. Es ist ihr persönlicher Moment des Triumphs. Mit 94,7 Prozent wird Meinl-Reisinger zur Parteivorsitzenden gewählt, im September wird die 40-Jährige auch das Amt der Klubobfrau übernehmen. Damit steht sie an der Spitze einer Partei (›Bewegung‹, würden die NEOS sagen), die sie mitaufgebaut hat. Und jetzt?
Man kann Meinl-Reisingers Geschichte auf verschiedene Arten erzählen. Man kann sie erzählen als Geschichte eines ambitionierten politischen Menschen, der irgendwann aus der dritten in die zweite, schließlich in die erste Reihe tritt. Man kann sie erzählen als Weg einer Frau in einer männlich geprägten Welt, die härter arbeitet als die Menschen um sie herum. Und man kann sie natürlich als die Geschichte erzählen, wie die ÖVP einen Teil des bürgerlichen Lagers verlor.
Meinl-Reisinger ist seit 2013 Berufspolitikerin und sehr viel länger schon ein politischer Mensch. In den Nullerjahren gab es mehrere Versuche, das bürgerliche Lager zu erneuern, die sich retrospektiv als ›Keimzelle der NEOS‹ lesen lassen. Meinl-Reisinger ist bei fast allen diesen Versuchen dabei. Sie gründet 2002 mit Bekannten wie Michael Schuster, heute Bundessprecher der Wirtschaftskammerorganisation UNOS, die Webseite schwarzgruen.org. Sie ist am Bürgerkonvent der ›Plattform für offene Politik‹ von Ferry Thierry beteiligt, der später als NEOS-Geschäftsführer agierte. Sie sitzt 2007 mit im Café Eulennest, als Matthias Strolz bürgerliche Querdenker an den Tisch holt, darunter auch Leute wie Harald Mahrer, die in der ÖVP bleiben. Sie ist Projektleiterin der ›Agenda Wien+‹, mit der ab 2011 die Wiener ÖVP geöffnet werden soll und die grandios an die Wand fährt. Und letztlich ist sie dabei, als 2012 die NEOS gegründet werden.
Den NEOS ist wichtig, keine Abspaltung der ÖVP zu sein. Trotzdem kennen sich die Meinl-Reisingers, die Mahrers, die Strolzes und Kurzes schon lange, haben teilweise zusammen gearbeitet. Meinl-Reisinger selbst kann mit dem Begriff ›Entfremdung‹ wenig anfangen. ›Es war nie mein Ziel, die ÖVP zu erneuern, sondern die Politik.‹
Beate Meinl-Reisinger wird 1978 in Wien geboren. Vater und Mutter sind beide Ärzte. Sie wird von ihren Großmüttern geprägt, die als Lehrerinnen an einer AHS arbeiten. Es ist ein bürgerlich-liberaler Haushalt, mit anfänglichen Sympathien für die Ökobewegung. Meinl-Reisingers Vater ist Arzt in Hainburg, als die Besetzer der Au ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die drei Reisinger-Kinder werden früh zu Eigenständigkeit angehalten, Beate arbeitet während des Studiums unter anderem bei einer Billa-Tochter an der Kassa.
Ehemalige Mitschüler beschreiben die junge Meinl-Reisinger als geradlinig und selbstbewusst. Anders als fast alle Männer in der Politik ist Meinl-Reisinger nie Schulsprecherin. Den Schulball organisiert sie trotzdem. Nach der Schule will sie eigentlich Schauspielerin werden, traut sich aber nicht, sich an der Schauspielschule zu bewerben. Letztlich wird es dann ein Jus-Studium, weil man damit später viel machen kann – die klassische Verlegenheitslösung des Bürgertums. Später hängt sie noch ein postgraduelles Europa-Studium in Krems an. Nachdem Meinl-Reisinger mit dem Studium fertig ist, rutscht sie in ein Trainee-Programm der Wirtschaftskammer. 2006 geht sie, damals 28 Jahre alt, als Mitarbeiterin zu Othmar Karas nach Brüssel.
Im Jahr 2007 ist Meinl-Reisinger nach anderthalb Jahren in Brüssel wieder in Wien, auch ihrer Beziehung wegen. Ihren Mann, Richter von Beruf, hat sie in Alpbach kennengelernt, die beiden haben heute zwei gemeinsame Kinder. Sie bewirbt sich im Kabinett von Staatssekretärin Christine Marek, entwickelt dort unter anderem das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld, das mehr gut verdienende Frauen zum Kinderkriegen ermutigen und Väter in die Karenz bekommen soll.
Marek nimmt Meinl-Reisinger 2010 mit zur ÖVP Wien. Die beiden Frauen schätzen einander noch heute sehr. ›Sie ist eine hartnäckige Idealistin, die auch konsequent versucht umzusetzen‹, sagt Marek über ihre ehemalige Mitarbeiterin. Insgesamt ist das gemeinsame Kapitel aber ein gröberes Missverständnis. Die liberale Marek lässt sich zu einem Law-and-Order-Wahlkampf überreden, Meinl-Reisinger trägt das mit. Die ÖVP fällt auf einen historischen Tiefstand von 13,99 Prozent. Marek bleibt nach der Wahl, versucht gemeinsam mit Meinl-Reisinger einen Erneuerungsprozess, der nie richtig in Gang kommt. Mächtige Männer in der Wiener ÖVP wollen Marek scheitern sehen, ein Jahr nach der Wahl ist das Kapitel zu Ende. Auch politische Gegner von Marek in der ÖVP beschreiben Meinl-Reisinger heute als ›damals eine der Gescheitesten bei uns‹. Allerdings darf man durchaus die Frage stellen, ob sie die Situation als ›politisch-strategische Referentin› richtig eingeschätzt hat. Sie selbst sieht das nicht als ihr Scheitern. Sie habe den Weg als liberale Stadtpartei eben als den richtigen für die ÖVP Wien gesehen und versucht, diesen durchzusetzen.
Meinl-Reisinger kommt aus der Gleichstellungspolitik, was in einer auf Individualisierung getrimmten Partei nicht immer einfach ist. In ihrem Wiener Büro arbeiten viele Frauen, auch ihr neues Büro im Bund wird stark weiblich besetzt sein. ›Mir war es bei den NEOS immer wichtig, talentierte Frauen nach vorne zu holen‹, sagt Meinl-Reisinger. Auf die Frage, ob sie Feministin sei, antwortet sie schnell und direkt mit einem Ja. Die NEOS haben heute ein Promotee-Programm für Frauen, das auch gegen interne Widerstände durchgesetzt wurde. ›Ich hab gesehen: Von allein geht’s nicht.‹
Der Gründungsmythos der NEOS rankt sich um ein Treffen im Helenental, bei dem knapp 40 Leute im Jahr 2012 auf einer Hütte die Möglichkeiten einer neuen Partei ausloten. Meinl-Reisinger, gerade hochschwanger, bekommt einen Anruf und fährt hin. Vor Ort wird viel in Workshops und mit Aufstellungen gearbeitet. Strolz, der Organisationsentwickler, lässt die Leute unter anderem nach ehemaligem Wahlverhalten aufstellen. Meinl-Reisinger findet die Tage ›unheimlich anstrengend. Aber ich hab gespürt: Da brennt was, das trifft meine Anliegen.‹ Zu diesem Zeitpunkt ist ihr klar, dass sie nach der Karenz nicht mehr zur ÖVP zurückgehen wird. 2012 legt sie ihre Mitgliedschaft bei den ÖVP-Frauen, die sie auf Druck der Wiener Landespartei angenommen hat, wieder zurück. Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter dockt sie bei den NEOS an und wird Stellvertreterin von Matthias Strolz. Meinl-Reisinger zieht 2013 als Abgeordnete in den Nationalrat ein, wird Justiz- und Kultursprecherin. Privat spielt sie Tennis, sammelt Kunst, hat vor kurzem wieder angefangen, Klavier zu spielen.
Meinl-Reisinger ist ein ›political animal‹, ein politisches Talent, wahrscheinlich neben Matthias Strolz das größte, das die NEOS haben beziehungsweise hatten. Niemand bestreitet das, egal wen man fragt, Freund oder Feind. Meinl-Reisinger arbeitet hart und kontrolliert, möchte bei jedem Termin am liebsten 20 Minuten vorher da sein und am besten noch selbst fahren. Sie kann Macht, drängt in der Partei seit langem nach vorne. Sie ist auch als Vize-Parteichefin und Chefin des größten und mächtigsten Landesverbands viel in anderen Bundesländern unterwegs, ruft hier mal an, leiht dort mal einen Transporter. Sie kümmert sich mit um den Aufbau der NEOS, sammelt nebenbei Verbündete und baut Vorbehalte ab. Vor ein paar Jahren gab es noch eine gemeine Verballhornung ihres Nachnamens, die nach zwei Bier unter Mitarbeitern vor allem der Bundespartei kursierte. Die hört man heute nicht mehr. Als Strolz ihr seinen Entschluss zum Rücktritt bei einem gemeinsamen Spaziergang im Lainzer Tiergarten mitteilt, kann nur noch sie selbst sich verhindern. In der Partei hat sie keinen ernsthaften Gegenkandidaten. Die NEOS in ihrer jetzigen Form sind auch ein Projekt von Meinl-Reisinger. Ihr Mann sagt, sie müsse den Job jetzt entweder machen oder mit Strolz zurücktreten, einen Mittelweg gebe es nicht. ›Sie hat die Ambition und das Politikverständnis, um das sehr gut zu machen‹, sagt der langjährige NEOS-Begleiter und Spender Hans-Peter Haselsteiner.
Das Bild eines Parteichefs wird vor allem dadurch geprägt, welche Tonalität er in der Öffentlichkeit anschlägt. Matthias Strolz kultivierte von sich selbst das Bild des intuitiven Gefühlsmenschen, der die Gesundheitsministerin im Nationalrat anschrie und in Interviews schon mal erzählte, gerne Bäume zu umarmen. Und doch überschneiden sich das öffentliche und das interne Bild immer nur teilweise. Der intuitive Gefühlsmensch Strolz kontrollierte auch die Beistriche in Presseaussendungen.
Meinl-Reisinger umarmt keine Bäume, und doch ist ihr Ton Gegenstand ständiger Diskussionen. Als sie 2015 Spitzenkandidatin in Wien wird, ist das ein heikler Moment, für sie wie für die junge Partei. Eine Niederlage hätte vermutlich beide Karrieren beendet. Die NEOS Wien lassen sich – angeblich unentgeltlich – von Tal Silberstein beraten, der im Nationalratswahlkampf 2017 für die SPÖ arbeitet und dort unter anderem Fake-Seiten wie ›Die Wahrheit über Sebastian Kurz‹ aufsetzt.
Die Kampagne 2015 ist hart, es wird unter anderem gegen ›g’stopfte Politiker‹ plakatiert. Nicht allen in der Partei gefällt der Ton, auch zwischen Strolz und Meinl-Reisinger kommt es zu Unstimmigkeiten. Die Wien-Chefin bleibt stur, legt ihr Nationalratsmandat zurück, verknüpft die Kampagne dadurch auch mit ihrem eigenen Schicksal. Am Ende behält sie recht: 6,16 Prozent und fünf Mandate lügen nicht.
Seitdem hat Beate Meinl-Reisinger den Ruf, hart in die Auseinandersetzung zu gehen, gerne anzuecken. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Wenn Meinl-Reisinger einen Satz wie ›If you can’t stand the heat, stay out of the kitchen› sagt, stellt sie ihm die Relativierung ›Man mag mir das als Härte auslegen, aber…‹ voran. Meinl-Reisinger ist kein Sepp Schellhorn, kein Gerald Loacker, die Spaß daran haben, öffentlich die neoliberale Dampframme zu geben. ›Ich hab da einen gewissen Pragmatismus›, sagt Meinl-Reisinger. ›Wenn ich mich hinstelle und sage, ich bin liberale Politikerin, dann weiß ich, dass ich damit maximal 18 Prozent erreiche, was eben auch heißt: 82 Prozent nicht.‹
Die NEOS lassen regelmäßig durch die Meinungsforschung abfragen, welche Eigenschaften ihrem Spitzenpersonal zugeschrieben werden. Meinl-Reisinger wird da als forsch, direkt, aber auch als ›hysterisch‹ beschrieben. Und da wird es kompliziert, weil man sehr schwer über Beate Meinl-Reisinger reden kann, ohne auch über Frauen in der Politik zu reden. Nicht nur, weil sie jetzt die einzige Parteichefin Österreichs ist.
Meinl-Reisinger ist kein Sepp Schellhorn, kein Gerald Loaker, die Spaß daran haben öffentlich die neoliberale Dampframme zu geben.
Hysterie‹ ist eine klassische Zuschreibung für jede Frau, die in der Öffentlichkeit nicht so leise wie möglich auftritt. Und auch manche der Vorwürfe, die Beate Meinl-Reisinger intern von manchem gemacht werden (sie habe nie in der Privatwirtschaft gearbeitet, habe keinen ideologischen Kern, würde sich Themen eher kontrolliert erarbeiten, statt sie authentisch zu leben), mögen ihre Berechtigung haben. Die Frage ist halt, ob man das einem Mann nicht als taktische Finesse auslegen würde. Ein strukturelles Dilemma, an dem Medien Mitschuld tragen. Denn natürlich ertappt man sich als männlicher Journalist in einem Glaskasten in der NEOS-Zentrale, wie man mit einer Politikerin über Dinge spricht, über die man mit einem männlichen Politiker nicht reden würde. Wie über die Frage, ob sie in der Öffentlichkeit nicht zu forsch rüberkomme. ›Mir ist schon bewusst, dass ich meine Rolle sehr hart angelegt habe‹, sagt Meinl-Reisinger. ›Mir haben Bekannte schon zu verstehen gegeben, dass es Seiten an mir gibt, die in der Öffentlichkeit nicht durchkommen.› Mitarbeiter beschreiben sie als humorvoll, herzlich, allerdings auch fordernd. Man müsse ihr Tempo mitgehen können. Wer das nicht kann, gerate irgendwann ins Abseits. ›Man kann sie überzeugen, braucht aber gute Argumente‹, sagt Simon Tartarotti, ehemaliger Kommunikationschef der NEOS Wien. Meinl-Reisinger streitet Dinge auch intern aus, wird dabei gelegentlich laut, ohne Mitarbeiter persönlich zu demütigen. Auch in Interviews kann sie genervt wirken, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt. Man sieht Meinl-Reisinger oft an, was sie denkt. Das kann lustig sein: Bei der Elefantenrunde 2015 schlägt sie dem ORF-Moderator, der ihren Namen immer wieder falsch ausspricht, vor, er könne sie ›auch Reinl-Meisinger nennen.‹
Ob Strolz den NEOS so fehlen wird, wie mancher Journalist nach seinem Rücktritt schrieb, wird sich zeigen. Vor Meinl-Reisinger liegen jedenfalls große Herausforderungen. Im Mai 2019 ist Europawahl, das eine Mandat gilt nicht als sicher. In den Flächenländern Steiermark und in Oberösterreich, wo die NEOS 2015 den Einzug in den Landtag verpassten, muss der Aufbau der Landesorganisationen vorangetrieben werden. Und eine Baustelle hat sich Meinl-Reisinger mit Wien im Grunde selbst erschaffen. Sie hinterlässt ein Loch, ihr Nachfolger Christoph Wiederkehr ist so unbekannt, dass die NEOS das zuletzt selbstironisch plakatierten. In Wien zeigt sich ein grundsätzliches Problem: Die NEOS brauchen irgendwann eine Regierungsperspektive, und mit allen möglichen Themen machen sie sich derzeit Feinde. In Wien wird es nur mit der SPÖ oder FPÖ gehen, egal ob man das dann Koalition oder Arbeitsübereinkommen nennt.
Meinl-Reisinger ist klug genug, um zu wissen, dass die NEOS irgendwann in die Umsetzung kommen müssen. Aktuell dreht sie vor allem an organisatorischen Schrauben. Sie hat Johannes Vetter, der schon für Christian Kern und die OMV die Kommunikation gemacht hat, als Berater zu den NEOS geholt, will eine Kommunikationsleitung installieren, ihr Büro weniger als die „Insel“ anlegen, die Strolz bisweilen war. In der Bundespartei heißt es, dass der frühere Parteichef eher mit der Präsenz im Netz und in den Medien zufrieden gewesen wäre. Die (ehemalige) Kommunalpolitikerin Meinl-Reisinger rede jetzt dauernd davon, dass die NEOS mehr auf die Straße müssten. Ein grundsätzlich neuer Kurs ist unter Meinl-Reisinger nicht zu erwarten, dafür ist sie auch zu lange dabei und zu tief drin. Es wird weiterhin eine Mischung aus wirtschafts- und gesellschaftsliberalen Positionen geben. ›Das ist in Österreich nicht gelernt, aber möglich‹, sagt Meinl-Reisinger. Und erzählt am Ende des Gesprächs eine Anekdote: Über das Programm der schwedischen Liberalen habe kürzlich jemand geschrieben, es lese sich, als hätten Margaret Thatcher und die Grüne Claudia Roth gemeinsam ein Partei-Programm verfasst. Was nicht positiv gemeint war. Beate Meinl-Reisinger aber sieht man an, dass ihr die Geschichte gefällt.