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Die erwünschte Sucht

Konsum ist zentraler Bestandteil unseres Lebens und Lebensader der Wirtschaft. Ist Kaufsucht deshalb immer noch nicht als Krankheit anerkannt?

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Illustration :
Alina Mosbacher
DATUM Ausgabe September 2020

Heute ist einer dieser Tage, an denen ich mich selber nur schwer ertrage. Wie kann man nur so hässlich sein, wie ich es bin? Ich hoffe, ich finde das passende Kleidungsstück, damit ich morgen wenigstens schöner aussehe. Ich finde endlich, wo­­nach ich gesucht habe, und es sticht mir sogar noch etwas anderes ins Auge. Ich haste in die Umkleidekabine. Hoffentlich ist eine frei, falls nicht, müssen die beiden Tei­le einfach so mit. Es wird schon passen.

Lea, die eigentlich anders heißt, hat etwas nicht mehr unter Kontrolle, was wir alle tun: einkaufen. Die Ende-20-Jährige führt ein Doppelleben. Fast niemand weiß von ihrer Kaufsucht. Mit DATUM hat sie darüber ge­sprochen, › weil das Thema sonst immer totgeschwiegen wird ‹. Und sie hat – im Folgenden immer kursiv – auch selbst aufgeschrieben, wie sie ihre Sucht erlebt.

In Österreich ist laut einer Studie im Auftrag der Arbeiterkammer aus dem Jahr 2017 rund jede vierte Person (24 Prozent) ab dem vollendeten 14. Lebensjahr kaufsuchtgefährdet, zeigt also ein stark ausgeprägtes kompensatorisches Kaufverhalten. Das be­­deutet, dass Kaufen vermehrt als Verar­­bei­tungsstrategie eingesetzt wird, obwohl Probleme damit nicht direkt gelöst werden. Rund sechs bis acht Prozent der Ge­­samtbevölkerung ab dem 15. Lebensjahr sind tatsächlich kaufsüchtig. Die Anzahl alkoholsüchtiger Menschen liegt im Vergleich bei etwa fünf Prozent. Wa­­rum ist Kaufsucht vergleichsweise unsichtbar und unbekannt, obwohl viele Menschen betroffen sind? Und was hat das mit der Rolle von Konsum in unserem Leben – insbesondere in Zeiten der Wirtschaftskrise – zu tun?

› Die Kaufwelt, die heute geschaffen wird, ist eine schöne Welt, um auszusteigen aus der belastenden Realität ‹, meint Dominik Battyány, Leiter des Institutes für Verhaltenssüchte der Sigmund-Freud-Universität. Zahlreiche Studien zeigen: Menschen nutzen Einkaufen gezielt zur Gefühlsregulation und Selbst­­werterhöhung. Zudem wurde etwas, das sich jeder wünscht, kommerzialisiert: Anerkennung. Produkte werden bewusst mit Attributen besetzt und bekommen Kultstatus. Markenprodukte versprechen Gruppenzugehörigkeit, andere Individualität, auf jeden Fall ein gutes Image. All diese Bedürfnisse, so wird uns vermittelt, lassen sich durch Konsum befriedigen. Wir haben gelernt, uns durch ihn zu definieren.

Ich habe noch eine dreiviertel Stunde Zeit, bevor das Geschäft schließt. Ich brauche unbedingt auch so einen Cardigan wie die eine, damit ich aussehe wie sie. Ich habe das Gefühl, nicht mehr lange Zeit zu haben. Es ist, als würde mich jemand anschieben, als würde jemand mit einer Pistole hinter mir her sein. Ich spüre viel Druck auf mir. Heute kaufe ich noch ein und morgen. Morgen dann reiße ich mich zusammen. Ab morgen wird alles anders werden. Es kann doch nicht so schwer sein. All die Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich mir doch ab und an etwas gönnen kann, mir doch was Gutes tun kann, aber ich tue mir schon lange nichts Gutes mehr.

Lea beschreibt ihre Kindheit als schön und unbeschwert. › Aber ich habe mich schon immer verglichen und mir wurde Druck von außen gemacht ‹, sagt sie. Leistungsdruck in der Schule ist für Lea der Auslöser für alles Weitere. In der Oberstufe erkrankt sie an Depressionen und  Bulimie. Lea verheimlicht ihre Krankheit, bis sie in der Schule nicht mehr mitkommt, weil sie sich nicht mehr konzentrieren kann. Suizidgedanken, Selbstverletzung, innere Aggressionen, Traurigkeit. Als es nicht mehr anders geht, holt sie sich Hilfe in einer Klinik. Danach hat sie das Essen besser im Griff, muss nicht mehr erbrechen.

Kaufsucht kommt nie allei­­ne. Sie tritt immer mit anderen psychischen Begleiterkrankungen, sogenannten Komorbiditäten, auf. › In den aller­meisten Fällen bestehen die­se bereits vor der Kaufsucht. Ei­ne Lebenskrise kann aber auch zuerst die Kaufsucht auslösen, die dann ein Nähr­­boden für Begleiterkrankungen ist ‹, so Michael Musalek, Leiter des Anton-Proksch-Instituts, einer der größten Suchtkliniken Europas mit rund 1.800 Patienten pro Jahr, die auch ein spezielles Therapiekonzept für Kaufsüchtige entwickelt hat.

An sich trage jeder Mensch Suchtpotential in sich. › Wer gerne einkauft und das zur Gefühlsregulierung tut, ist eher gefährdet. Genauso wie niemand alko­holkrank werden wird, der nicht gerne trinkt ‹, sagt Musalek. 

Nach ihrem Krankenhausaufenthalt hat Lea viel Zeit, viel Langeweile. Sie ist noch zu krank, um eine Ausbildung oder Arbeit anzufangen. Also be­­ginnt sie zum Zeitvertreib viel einkaufen zu gehen. Einkaufen ist für sie Trost, Ablenkung und Selbstbestätigung. Es gibt ihr das Gefühl von Kontrolle. Die Kaufsucht schleicht sich langsam und lange unbemerkt ein.

Kaufen ist, anders als die meisten suchterzeugenden Substanzen, weitgehend positiv besetzt. › Konsum ist wirtschaftlich und politisch erwünscht, die Steigerung der Kaufkraft ist ein zentrales Ziel. Etwas mit Krankheitswert wird daher oft lange nicht erkannt und zuerst einmal bewundert ‹, meint Battyány. Weil genau dieses Bedürfnis nach Anerkennung oft die Grundlage für die Kaufsucht bildet, fördert dieser Umgang die Sucht zusätzlich.

Sieglinde Zimmer-Fiene hat etwas gewagt, das Lea niemals in solcher Offenheit tun würde: Die Deutsche setzt sich seit über 20 Jahren für die politische und medizinische Anerkennung der Kaufsucht ein, indem sie ihre eigene Geschichte erzählt. Durch ihre Sucht verschuldet sich Zimmer-Fiene Mitte der 90er-Jahre so hoch, dass es zum Ge­­richts­prozess kommt. Das Urteil: Sie muss in die forensische Psychiatrie. Sie sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, da es nicht auszuschließen sei, dass sie neue Schulden anhäufe. Acht Jahre verbringt sie dort – ihr Aufenthalt wird immer wieder verlängert. Richter, Anwälte und Psychiatriemitarbeiter verkennen ihre Kaufsucht. Deswegen wird sie nicht di­rekt behandelt.

Als sie 2002 entlassen wird, kauft sie immer noch un­­kontrolliert ein, macht Schulden. Eine Lokalzeitung be­­rich­tet von Zimmer-Fienes Geschichte. Daraufhin wird sie von einer Sozialarbeiterin kontaktiert: Ob sie eine Selbsthilfegruppe für Kaufsüchtige gründen wolle? Nachdem sie über zehn Jahre süchtig ist, be­­kommt ihr Problem das erste Mal einen Namen. Auch für sie selbst ist die Gruppe jahrelang Therapie. › Mit anderen Betroffenen zu reden war wie das erste Mal aufatmen. Niemand sonst hat mich verstanden ‹, sagt Zimmer-Fiene.

Durch den sozialen Halt und den gegenseitigen wertschätzenden Austausch über Umgangsstrategien mit der Sucht hat sie das Kaufen immer besser im Griff – und unterstützt andere dabei. Heute leitet sie die Selbsthilfegruppe seit 18 Jahren und führt Telefonberatungen durch. Die Schulden – über 150.000 Euro haben sich über die Jahre angesammelt – zahlt sie noch immer ab. Mittlerweile ist sie stabil, ihr letzter Rückfall, bei dem sie unkontrolliert eingekauft hat, ist über zehn Jahre her. Sie weiß aber auch: Die Sucht bleibt eine Narbe, die immer wieder aufreißen kann. › Das ist wie bei einem trockenen Alkoholkranken. Der bleibt auch trotzdem immer süchtig. Es braucht nur einen unerwarteten Lebensschlag und die Gefahr des Rückfalls wird wieder real ‹, sagt Zimmer-Fiene.

Auch Lea bemerkt, dass sie ein Problem hat, als sie realisiert, dass sie das Einkaufen nicht mehr genießt und mehr ausgibt als gewollt. › Wahrer Genuss bedeutet auch Verzicht, und das kann ich halt nicht mehr ‹, sagt sie. › Ich gebe täglich Geld aus, weil es mir einen Kick gibt, weil der Zwang da ist, obwohl ich eigentlich gar nicht will. ‹ Mit der Sucht beginnt sie, nur noch alleine einkaufen zu gehen. Dieser soziale Rückzug verstärkt ihre Krankheit zusätzlich.

Ich tröste mich mit einem Paar Schuhe, anstatt mich mit Worten zu trösten. Und mit einem neuen Kleid, mit einem neuen äußeren Ich. In mir aber ist alles gleich ge­­blieben. Der Trost und das Glücksgefühl halten nicht lan­ge an, sie wirken nicht einmal für einen kurzen Mo­­ment, sie vergehen, bevor sie richtig gekommen sind. Flüchtig. Der Trost und das Glücksgefühl sind nicht da, aber die Sucht, das Einkaufen, der Drang, das Immer-Mehr-Wollen. All das ist größer, als ich selbst es bin. In mir sind so viel Einsamkeit, so viele Tränen und Leere.

Am Anfang sind es kleine Beträge, die genügen, um Lea ein Suchterlebnis zu verschaffen. Über die Jahre braucht sie immer mehr, immer teurere Dinge, um den inneren Drang zu stillen. › Die Toleranzgrenze ist extrem gestiegen. Wenn ich alleine einkaufe, kann es sein, dass hohe dreistellige Beträge fallen. Für das, was ich verdiene, ist das sehr viel ‹, erzählt Lea. Genaue Summen bringt sie nie über die Lippen, dafür ist die Scham zu groß. 

Im internationalen Klassifikationshandbuch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind sechs Kriterien zur Diagnose eines Abhängigkeitssyndroms festgelegt: Verminderte Kontrollfähigkeit, Toleranzentwicklung samt der damit verbundenen Dosis­­steigerung, der starke innere Drang zur Suchtausübung, ein körper­liches Entzugssyndrom, die Vernachlässigung anderer Vergnügen und Interessen, weil sich der Lebensinhalt vermehrt nur noch um die Sucht dreht, und anhaltende Suchtausübung trotz belastender Folgen und Problembewusstsein. Treffen drei davon über einen längeren Zeitraum zu, spricht man von einer Abhängigkeit.

› Der Kaufsüchtige erfüllt alle Suchtkriterien ‹, sagt Suchtexperte Michael Musalek. Trotzdem lässt sich die Kaufsucht offiziell nicht als solche diagnostizieren. Von allen substanzunabhängigen Süchten scheinen nur die Glücksspielsucht und die Computerspielsucht im Diagnosehandbuch auf. › Suchtexperten sind sich einig, dass es eine Suchterkrankung ist, aber leider ist das in den entsprechenden Gremien noch nicht angekommen ‹, meint Musalek. Zu wenige quantitative Daten gäbe es laut WHO. Denn obwohl die Kaufsucht unter dem Fachbegriff › Oniomanie ‹ bereits 1909 in einem Lehrbuch des Psychiaters Emil Kraepelin aufschien und somit bereits seit langem Thema ist, viel länger als Computerspiele überhaupt existieren, gibt es bis heute kaum Forschung zu ihr.

Auch eine Selbsthilfegruppe hat Lea in Wien vergeblich gesucht, in der Stadt gibt es keine. Seit ihrem Klinikaufenthalt ist sie in Psychotherapie und nimmt Medikamente. Ihre Therapeutin hilft ihr, aber ist nicht auf Suchttherapie spezialisiert. Als Lea sich einlesen will, findet sie kaum Literatur. 

Kaufsucht zieht sich durch alle sozioökonomischen Schichten. Auch Zim­mer-Fiene berät Niedrigverdiener genauso wie bekannte deutsche Spitzensportler und Politiker. Die Ältes­te in ihrer Grup­pe war 87, die Jüngste 19. Erwachsene unter 30 sind statis­­tisch gesehen aber häu­figer betroffen. Nach manchen Studien sind Frauen häufiger kaufsüchtig, andere bilden ein beinahe ausgewogenes Geschlechterverhältnis ab. In Zimmer-Fienes Gruppe waren anfangs fast nur Frauen, mittlerweile sind die Geschlechter ausgeglichen. Für Männer sei die Kaufsucht nur noch tabuisierter und schambesetzter.

Ich gehe zur Kassa. Als die Verkäuferin mir die Summe sagt, erschrickt ein kleiner Teil in mir, aber der andere Teil sagt mir immer wieder, wie sehr ich die Kleidungsstücke haben MUSS. Außerdem spüre ich ein kleines Glücksgefühl in mir hochkommen. Ich bezahle mit Karte, denn das Bargeld reicht nicht aus. Wie immer. Ich stopfe die Kleidungsstücke in meine Tasche und verstecke sie gut, damit niemand denkt, ich war einkaufen. Ständig habe ich Angst, jemandem Bekannten über den Weg zu laufen. Ich sehe auf die Uhr. Das Geschäft schließt in 15 Minuten. Ich war wirklich schnell. So wie immer.

Lea hat gelernt zu lügen, auszuweichen, abzulenken und Ausreden zu finden: Fast jedes Mal wenn sie Freunde oder Familie trifft, wird sie mit der Frage konfrontiert, ob sie etwas Neues trägt. Sie ist die immer gut gelaunte, gut angezogene, lustige, coole, sorgenlose Lea. Dass sich die Menschen um sie wegen ihrer Sucht von ihr abwenden könnten, das bezeichnet sie als ihre Urangst. Während Lea sonst gefasst über ihre Erlebnisse spricht, hat sie bei diesen Worten Tränen in den Augen. › Beziehungen sind einfach meine größte Ressource ‹, sagt sie. Auch wegen der Angst, für diese Beziehungen nicht zu genügen und wegen der Bestätigung, es doch zu tun, ist sie süchtig geworden.

Leas Freundeskreis lebt bewusst, konsumiert nachhaltig. Auch ihr wäre das wichtig, aber ihre Suchterkrankung stellt sich in den Weg. › Meine Freun­de würden es verurteilen, wenn sie wüss­ten, wie verschwenderisch ich lebe ‹, ist sich Lea sicher. Der Krankheitswert der Kaufsucht ist vielen nicht bewusst. › Du gehst halt gerne mal einkaufen. Das ist ein Luxusproblem. Dir geht’s doch gut ‹: So reagiert ihr Gegenüber häufig, wenn Lea andeutet, dass sie das Kaufen nicht unter Kontrolle hat. 

Für Lea wird der Druck durch Soziale Medien und das Internet verstärkt: › Diese Selbstinszenierungsmaschinerie macht es nochmal gefährlicher. ‹ 

Ich hasse einkaufen. Ich hasse es, shop­pen zu gehen. Ich möchte wieder lieben lernen. Ich will einfach JEMAND sein. Ich spüre ein kurzes Glücksgefühl in mir auflodern. Heute werde ich einkaufen gehen. Ich habe so viel und doch habe ich NICHTS

Wenn Leas Sucht sie zum Einkaufen zwingt, wird sie zuerst kribbelig, bekommt Herzrasen und Atemprobleme, beschreibt das als Vorstufe einer Panikattacke. Erst wenn der Kaufprozess beendet ist, das Geld die Seiten gewechselt hat, nimmt dieser Druck ab. › Dann ist es, als ob mir jemand eine Beruhigungsspritze gegeben hätte ‹, sagt Lea. Wenn es ihr schlecht geht, ist die Sucht am stärksten. Durch das Einkaufen geht es ihr besser. Aber nach diesem Hoch kommt kurz darauf jedes Mal die Ernüchterung. Schuldgefühle, Scham, Enttäuschung, Verzweiflung. › Ich verfalle oft noch mehr in eine Depression. Das ist ein Teufelskreis ‹, meint Lea. Besonders schlimm ist es, wenn sie wieder so wenig Geld am Konto hat, dass sie nicht weiß, wie sie das Monat über die Runden kommt.

In solchen Situationen ist ihr Partner für sie da. Neben ihm weiß nur ihre beste Freundin wirklich, was in ihr vorgeht. Er ist ihr wichtigster Anker, verwaltet für sie auch ihr Weihnachts- und Geburtstagsgeld: › Da bettle ich ihn dann immer wieder an, aber er bleibt Gott sei Dank standhaft. ‹ Zusammen haben sie einen Finanzplan erstellt, Lea kleine Ziele gesetzt und festgelegt, wann er ihr Geld gibt. Sie nimmt sich jedes Mal fest vor, alles wie geplant durchzuziehen. › Aber die Sucht drängt sich einfach so dazwischen. Das ist Wahnsinn ‹, sagt Lea.

Das Kleidungsstück ist zwar viel zu teuer, sitzt aber zu perfekt, um es nicht zu kaufen. Ich weiß, dass ich es mir aber nicht leisten kann, ohne ins Minus zu rutschen, aber ich MUSS es einfach haben. Dieses Kleidungsstück nicht zu besitzen, das halte ich einfach nicht aus. Ich MUSS es einfach haben. Ich MUSS. Es geht nicht anders. Ich rechne mir gar nicht aus, wie viel die Gesamtsumme ausmacht. Das will ich gar nicht wissen.

Wenn Lea ihr Gehalt bekommt, gibt sie es meist innerhalb weniger Tage aus. Nachdem sie sich einmal gerade noch aus einem hohen Minus retten kann, senkt sie ihr Überziehungslimit. Es ganz auf Null zu setzen bringt sie nicht über sich. › Schulden heißt nicht Kaufsucht, aber Kaufsucht heißt fast immer Schulden ‹, sagt Zimmer-Fiene. Betroffene nehmen Kredite auf oder setzen kriminelle Handlungen wie Unterschriftenfälschung und Kartenbetrug, um weiter zu kaufen – in Österreich kann Kaufsucht vor Gericht als Milderungsgrund berücksichtigt werden. 

Sieglinde Zimmer-Fiene glaubt, dass die Kaufsucht oft versteckt wird, weil sie mit Geld zu tun hat. › Damit nicht umgehen zu können, wird verurteilt. Kaufsucht hat immer den Beigeschmack der Verschuldung. Und Verschuldung bedeutet bei uns persönliches Versagen ‹, weiß sie von ihrer eigenen Geschichte und denen vieler hundert anderer.

› Kaufsucht ist die stigmatisierendste und dementsprechend am schamvollsten er­­lebte Suchterkrankung. Bei Suchtmitteln verstehen Ange­­hörige eher, dass sie abhängig machen. Bei Kaufen ist das Unverständnis meist viel größer, gerade weil jeder kauft ‹, so Musalek. Obwohl viele von Kaufsucht betroffen seien, kämen daher kaum Menschen in Behandlung.  Sie zu erreichen und in der Therapie zu halten, sei eine besondere Herausforderung. Oft sei die Suchterkrankung außerdem weit fortgeschritten. Da es an Problembewusstsein fehle, würden persönliche Gefahrenmomente selten frühzeitig erkannt.

Im Anton-Proksch-Institut gibt es drei Schritte in der Kaufsuchttherapie: Erst Kaufgewohnheiten re­­flek­tieren und Trigger identifizieren, dann Begleiterkrankungen psychotherapeutisch und medikamentös behandeln und schließlich eine Le­­bens­­neu­gestaltung initiieren und begleiten. › Es braucht eine neue Schwerpunktsetzung, ein möglichst selbstbestimmtes und freudvolles Leben, damit die Attraktivität des Suchterlebnisses an Wertigkeit verliert ‹, so Musalek.

Leere in Geschäften. Leere auf den Straßen. Leere in mir. Immer schon. 

Lockdown. Lockdown bedeutet für mich, dass die Leere mit Konsum nicht mehr zugeschüttet werden kann. Lockdown bedeutet aber auch, dass meine Sucht weniger Platz hat und sich andere Wege suchen muss. 

Lockdown. Es bedeutet aber auch eine Hinnahme und Annahme. Eine Richtungsverschiebung, ein Umdenken, vielleicht was wirklich von Wert ist. 

Auf einmal wird mir be­­wusst, dass materielle Dinge an sich nicht zu meinen Werten gehören, obwohl ich ihnen viel zu viel Wert beimesse.

Der Lockdown zu Beginn der Coronakrise, der viele Menschen mit psychischen Erkrankungen zusätzlich belastet, ist für Lea eine Erleichterung. Sie ist zusammen mit ihrem Partner am Land, kauft weniger und kontrollierter ein. Weit weg von all den Geschäften und Werbeflächen der Großstadt tritt die Sucht etwas in den Hintergrund. Auch generell be­­stimmt die Stellung und Präsenz jedes Suchtmittels und Suchtverhaltens dessen Einfluss mit: Als durch den Mauerfall die Verfügbarkeit von Konsumgütern in den ehemalig ostdeutschen Bundesländern zu­­nahm, stieg auch die Rate der Kaufsuchtgefährdeten dort deutlich an.

Mit dem Ende des Lockdowns und Leas Rückkehr in die Stadt ist auch der Kontrollverlust zurückgekommen. › Ich habe das Gefühl, jetzt hole ich alles auf ‹, erzählt sie. Diese Zyklen aus besseren und schlechteren Phasen, aus Stabilisierung und Rückfall, sind typisch für die Kaufsucht. Im Anton-Proksch-Institut wurde deswegen das Modell der partiellen Abstinenz entwickelt, bei dem bestimmte Orte und das Einkaufen während depressiver Phasen vermieden werden – denn eine völlige Abstinenz ist in der heutigen Konsumwelt unmöglich. Wenn das ganze Therapie­programm des Instituts durchlaufen wird, ist die Prognose gut: 80 Prozent der Patienten bleiben laut Musalek auch über lange Zeit symptomfrei. Ohne Therapie liege die Selbstheilungsrate bei zehn bis 15 Prozent.

Ende vergangenen Jahres hat Lea eine auf Kaufsucht spezialisierte Therapie begonnen. Zwölf Jahre nachdem sie süchtig geworden ist. › Ich habe gemerkt, wenn ich mir jetzt keine Hilfe hole, werde ich bald pleitegehen ‹, erinnert sich Lea. Die Angst davor habe ihr die Kraft gegeben, sich trotz der Scham Hilfe zu holen. 

Lea lernt in der Therapie, Gefühle zuzulassen, positive wie negative: › Einfach mal hinzuspüren, das habe ich nie gemacht. Davor habe ich am meisten Angst gehabt. Ich habe die Gefühle immer mit Kaufen runtergedrückt und abgetötet. ‹ Heute kann Lea manchmal wieder über längere Zeit kontrolliert einkaufen. Dann hat sie Entzugserscheinungen, wird unruhig, hat das Gefühl, gleich durchzudrehen und ihr Kontrollverlust verlagert sich wieder auf Essattacken. › Aber nach einiger Zeit, es braucht ein paar Anläufe, kommt dann eine Entspannungsphase ‹, sagt sie. Seit sie süchtig ist, hat sie es einmal geschafft, sechs Wochen nichts zu kaufen. › Dann war ich einkaufen und es war ein total lebensveränderndes Ereignis, weil ich total entspannt war ‹, erinnert sie sich. 

Sie war zwei Stunden lang in nur einem Geschäft. Sie hat sich Zeit gelassen, die Stoffe gefühlt, sich nicht abgehetzt. Sie hat kontrolliert eingekauft. Dann hatte sie wieder einen Rückfall. Hat über Monate nur unkontrolliert eingekauft.  Aber Lea lässt sich nicht durch Rückschläge von ihrem Kampf gegen die Sucht abbringen. An eine Therapiestunde denkt sie oft zurück. Ihre Therapeutin hat zu ihr gesagt: › Ein Kind wird auch dafür geliebt, dass es eigentlich nichts tut. ‹ Lea wünscht sich, sie hätte diesen Satz viel früher gehört. •

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