Treuherzige Putzfrauenversteher
Warum ›andere sichtbar machen‹ zu wollen, Teil des Problems ist.
Jede Branche hat ein Repertoire an Sätzen, die abgespult werden, um gewisse Herangehensweisen und Abläufe vor anderen und vor sich selbst zu rechtfertigen. In meiner Branche gibt es auch so einen Satz. Man möchte fast sagen, ein Gebot, das immer dann heruntergebetet wird, wenn die eigene Geltungssucht als besonders hehr und wohlwollend kaschiert werden soll. Der französische Regisseur Emmanuel Carrère kennt es und teilt sein Wissen mit der ganzen Welt in seinem neuen Film ›Ouistreham‹.
Darin spielt Juliette Binoche eine Autorin, die vorgibt, eine Putzfrau zu sein, um sich für ein Buch ein paar Monate im Prekariat auszuprobieren. Jedes Mal, wenn ihre wahre Identität auffliegt, lässt sie Carrère ihren heimlichen Ausflug in die Unterschicht treuherzig mit einem Satz verteidigen: ›Ich will die Unsichtbaren sichtbar machen.‹
Ein schöner Satz, der nur so strotzt von guten Absichten, die bei aller Aufrichtigkeit eines nie verschleiern können: den eigenen Dünkel. Denn wer in der Position ist, andere sichtbar zu machen, kann unmöglich auf einer Stufe mit ihnen stehen. Da steht man schon drüber. Wie würde es denn auch aussehen, sich selbst und seinesgleichen auszuleuchten? Viel zu intim, und alles eine Liga höher: tabu.
Ansonsten würde es sich in all den Büchern und Artikeln um die ›unsichtbaren‹ Vermögensverwalterinnen und Krisenmanager der Reichen und Mächtigen – und diese selbst – drehen. Aber in ihre Kreise rutscht es sich nicht so leicht, undercover mit ein wenig Akzent und schlechtsitzenden Haaren. Stattdessen wird der Scheinwerfer gönnerhaft auf jene gerichtet, die weder die Ressourcen noch die Energie haben, ihn abzuwenden.
Und wieso sollten sie auch? Dankbar sollen sie sein für die Aufmerksamkeit und ihre Sichtbarmachung in einer Gesellschaft, in der man sich für die eigene Bodenständigkeit und Nächstenliebe auf die Schulter klopft, wenn man morgens im Büro einmal die Putzfrau grüßt und sich ein paar Minuten mit dem Uber-Fahrer unterhält, den man jovial nach dem Namen fragt, um ihn wenig später wieder zu vergessen.
Die Unsichtbaren sichtbar machen. Der Satz ist in Wahrheit das Schuldeingeständnis einer Klasse über einen Zustand, aus dem sie nicht nur als Nutznießerin hervorgeht, sondern zu dem sie selbst beigetragen hat. Denn wer wird unsichtbar gemacht? Und wer spielt Houdini, der verschwinden und wiederauftauchen lässt?
In Italien haben Feministinnen versucht, dieser Dynamik etwas entgegenzusetzen, wie die Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach in ihrem Buch ›Die Erschöpfung der Frauen‹ dokumentiert: ›Affidamento‹ heißt das Konzept, zu Deutsch: ›sich aufeinander beziehen‹. Demnach sollen Frauen sich nicht länger an Männern und den von ihnen etablierten Maßstäben orientieren, sondern sich auf andere Frauen beziehen, die sie wertschätzen. Das Ziel war es, den vorherrschenden Strukturen auf diese Art die Autorität zu entziehen, erklärt Schutzbach: ›Von wem möchte ich Anerkennung für mein Handeln? (…) An wem und wessen Haltung arbeite ich mich ab, auf wen lasse ich mich ein und richte ich meine Aufmerksamkeit?‹
Auch andere Gruppen können sich am Affidamento versuchen. Breiter betrachtet, kann es ein wahrer Gamechanger für eine Gesellschaft sein. Denn egal, wie blind sich manche anstellen, sie spielen irgendwann keine Rolle mehr. Die unsichtbar Gemachten pfeifen auf die Scheinwerfer all der treuherzigen Houdinis, sie haben längst ihre eigene ausgeleuchtete Bühne gebaut, auf der sie stehen – und das ganz ohne fremdes Wohlwollen. •