Hass, der nicht vergeht
Die Zahl der antisemitischen Vorfälle hat sich innerhalb nur eines Jahres verdoppelt. Es braucht mehr Bildung und Bewusstsein. Ein Jugendprojekt der ikg Wien zeigt, wie das gehen kann.
Ein Holocaust relativiert nicht den anderen‹, ›Tod dem jüdischen Land‹, ›Hitler wäre stolz‹, stand auf den Plakaten. Als der Nahostkonflikt Anfang Mai wieder aufflammte, wurde auch in Wien demonstriert. Viele der wütenden Teilnehmer, darunter auch radikale Muslime, schrieben nicht etwa der israelischen Regierung, sondern allen Jüdinnen und Juden die Schuld zu. ›Steckt euch den Holocaust in den Arsch‹, gellte ein Schrei durch die Menschenmenge, woraufhin Jubel ausbrach. Direkt bei der Staatsoper, mitten in Wien. ›Das war schon sehr schlimm für uns‹, sagt Sashi Turkof, Präsidentin der Jüdischen Hochschülerschaft (jöh). Turkof und andere Teilnehmer einer Gegendemo wurden übel beschimpft, letztlich ist aber alles glimpflich verlaufen. Angst hatte sie trotzdem.
›Vor Antisemitismus ist man nur auf dem Monde sicher‹, schrieb Hannah Arendt schon 1941. Die jüdische Journalistin und Autorin musste 1933 selbst vor den Nazis fliehen, bevor sie im New Yorker Exil zu einer der wichtigsten politischen Stimmen werden sollte. Dass ihr Zitat unverändert bis heute gilt, zeigen Vorfälle und Statistiken weltweit.
Leider auch in Österreich: Laut Zahlen der Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (ikg) Wien verdoppelten sich antisemitische Vorfälle innerhalb nur eines Jahres. 562 Vorfälle wurden im ersten Halbjahr 2021 gemeldet, also durchschnittlich drei pro Tag: 331 Mal verletzendes Verhalten, 154 gemeldete Massenzuschriften, 58 Sachbeschädigungen, elf Bedrohungen und acht physische Angriffe.
›Erschreckend‹ nennt diesen Anstieg Benjamin Nägele, Generalsekretär der ikg Wien. Er spricht von zwei Hauptgründen: den Anti-Israel-Demos aufgrund des im Mai eskalierenden Nahost-Konflikts sowie der Corona-Leugnerszene. ›Dort werden jahrtausendealte antisemitische Stereotype transportiert, von der Brunnenvergiftung bis zur angeblichen Bereicherung‹, sagt Nägele. ›Dazu kommt die Relativierung der Schoah, etwa durch die Gleichsetzung von Impfgegnern mit Opfern der Schoah.‹ Vor allem in Zeiten der Krise kämen die alten Vorurteile wieder zum Vorschein.
Davon kann auch jöh-Präsidentin Turkof ein Lied singen. ›Warum macht ihr das so? Warum tut ihr das den Palästinensern an?‹ Solche Nachrichten erhielten sie und ihre Freunde, als der Nahostkonflikt im Mai wieder aufflammte. Als Präsidentin der Jüdischen Hochschülerschaft (jöh) schien sie offenbar vielen als geeignete Ansprechperson. ›Es gibt viel Unwissen, aber schon auch gewisse Doppelstandards gegenüber Israel sowie gegen Jüdinnen und Juden‹, sagt Turkof, die übrigens keineswegs die ›rechte‹ israelische Regierung verteidigen will. ›Das werde ich nie machen. Ich finde es problematisch, wenn wir als Anwälte von Israel dargestellt werden. Das sind wir nicht.‹
Die Sprachsoziologin Ruth Wodak beschäftigt sich schon lange mit antisemitischen Vorurteilen und sprach am Wiener Sir-Peter-Ustinov-Institut von einer ›Iudeus ex machina‹: Wann immer es politisch opportun erscheint, werde dem scheinbar homogenen Kollektiv von Juden die Schuld für alle Probleme in die Schuhe geschoben. Dies geschehe in regelmäßigen Zyklen und sei besonders in Krisenzeiten attraktiv – um abzulenken und einen altbekannten Sündenbock hervorzuholen.
Freilich würde heute keiner mehr zugeben, Antisemit zu sein. Vielmehr wird mit Codes gearbeitet, von der Weltverschwörung bis zur Wall Street. Oder wenn sich Demoteilnehmer mit Holocaust-Opfern vergleichen, indem sie Judensterne oder gelbe Armbinden mit der Aufschrift ›ungeimpft‹ tragen. Das Impfen sei ein abgekartetes Spiel, mit dem ›die Juden‹ alle anderen kontrollieren wollen, heißt es da. In den Sozialen Medien findet jede noch so verrückte Verschwörungstheorie ihre Anhänger.
Laut Nägele ist die Situation für Jüdinnen und Juden in Wien zwar nach wie vor sicher: Nicht zuletzt, weil die Kultusgemeinde ein Fünftel – zuletzt rund vier Millionen Euro – ihres Budgets für den Schutz jüdischer Einrichtungen ausgibt. Dennoch sorgt sich der ikg-Generalsekretär, dass die Ressentiments in die Mitte der Gesellschaft überschwappen. Erste Anzeichen gibt es, wenn sich Corona-Maßnahmengegner radikalisieren und neben Rechtsextremen mitlaufen, ohne sich daran zu stören.
Dass mitunter die Polizei doppelte Standards anlegt und bei zur Schau gestellten antisemitischen Symbolen oftmals passiv bleibt, dokumentieren zahlreiche Berichte und Fotos. ›Da braucht es noch mehr Sensibilisierung. Solche Vorfälle müssen selbstverständlich rasch und mit aller Härte der Gesetze aufgeklärt und bestraft werden‹, sagt Nägele. Grundsätzlich sei die Zusammenarbeit mit Polizei und Innenministerium aber sehr gut, wie er betont. In Kürze soll etwa ein verpflichtendes Antisemitismus-Modul in die Ausbildung angehender Polizisten aufgenommen werden.
›Ein Meilenstein‹ sei auch die nationale Antisemitismus-Strategie, die Anfang 2021 präsentiert wurde. 38 Projekte zählt sie auf 184 Seiten – teils fortgeführte ältere, teils gänzlich neue Initiativen. Ein Schwerpunkt liegt auf Bildung, Forschung, dem Schutz jüdischer Einrichtungen sowie Schulungsmaßnahmen in den Sicherheitsbehörden, um das Problembewusstsein zu stärken. Die ikg war an der Ausarbeitung der Strategie beteiligt und zeigte sich damit hochzufrieden.
Ein weiterer Fortschritt aus Sicht Nägeles: Dass man sich in der Strategie auf die Antisemitismus-Definition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (ihra) geeinigt hat, die da lautet: ›Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.‹ Zur Veranschaulichung listet die ihra konkrete Beispiele, etwa ›falsche, entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Jüdinnen und Juden‹. Ebenso ›das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volks auf Selbstbestimmung‹,oder das ›kollektive Verantwortlichmachen von Jüdinnen und Juden des Staats Israel.‹
Keine andere Definition sei so klar und verständlich, sagt Nägele. ›Sie muss Leitfaden in jedem Ministerium, aber auch im gesellschaftlichen Diskurs sein. Denn erst wenn wir das Problem definieren, können wir es wirksam bekämpfen.‹ Antisemitismus zu bekämpfen, sei keine Kerntätigkeit der Jüdischen Gemeinde, sondern Aufgabe der gesamten Gesellschaft, betont er.
Für die Umsetzung der Strategie ist Antonio-Maria Martino verantwortlich, seit Sommer Direktor der neuen Stabstelle ›Österreich-Jüdisches Kulturerbe‹ im Bundeskanzleramt. Zuvor leitete er die österreichische Delegation in der Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission zur Bekämpfung des Antisemitismus in Brüssel, von wo ihn Nägele bereits gut kennt. Martino war mitverantwortlich für die Umsetzung der europäischen Antisemitismus-Resolution, ein ›riesiger Schritt‹ für Nägele. Über Martinos Tätigkeit in der neuen Bundesstelle sagt er: ›Ich halte ihn für den richtigen Mann am richtigen Ort.‹ Gern hätten wir Martino gefragt, wie er die Tätigkeit anlegen möchte, doch das Bundeskanzleramt hat datum ein Interview verwehrt.
Politisch müsse jedenfalls noch deutlich mehr passieren, sagt Turkof. ›Dass Synagogen und jüdische Institutionen ausschauen wie Gefängnisse, ist ja nichts Neues. In den letzten zwei Jahren sind aber Neonazis auf den Straßen viel normaler geworden.‹ Die Angst in der Gemeinde sei gewachsen, auch die jöh müsse als offen jüdische Organisation viel mehr aufpassen. ›Das ist für mich ein Zeichen, dass etwas schiefläuft‹, sagt Turkof.
Vor einem Jahr erlebte sie selbst, wie Neonazis jüdische Akteure aus dem öffentlichen Raum verdrängten. Damals forderten mehrere Aktivistinnen und Aktivisten, nicht zum ersten Mal, eine Umgestaltung des Lueger-Denkmals beim Wiener Stubentor. Der frühere Wiener Bürgermeister Karl Lueger war offen antisemitisch, was Historiker seit Jahrzehnten wiederholen, Politiker aber angesichts seiner Verdienste immer wieder als Bagatelle abtun. Als ›einen der gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten‹ bezeichnete ihn Hitler. Im Herbst 2020 sprayte eine Künstlergruppe mehrmals ›Schande‹ auf den Sockel des Denkmals, woraufhin die jöh und andere Organisationen ›Schandwachen‹ abhielten, um die kritischen Schriftzüge vor der Entfernung zu schützen. Rechtsextreme Aktivisten der Identitären Bewegung haben sie aber verdrängt und die Intervention zerstört.
›Wir müssen Angst haben, öffentlich aufzutreten. Rechtsextreme nehmen sich den Raum mit großer Selbstverständlichkeit‹, sagt Turkof. Auch sie kritisiert, dass die Polizei oft nicht so genau hinsieht. Das habe sie selbst erlebt: Als ein Teilnehmer einer Coronademo einen Hitlergruß machte, fragte sie beistehende Polizisten, was sie denn dagegen zu tun gedenken. ›Wir wollen deeskalieren, nicht eskalieren. Das geht jetzt nicht‹, war laut Turkof die Antwort. Auch dass Juden von offizieller Seite immer wieder empfohlen wurde, bei solchen Demos zu Hause zu bleiben und keine jüdischen Symbole zu tragen, sei ›Ausdruck, dass viel zu wenig gemacht wird – von der Regierung, von der Polizei.‹
Der jöh-Präsidentin ist wichtig, dass man Teilnehmer der Coronademos nicht bloß als verwirrte Schwurbler abtut. ›Das sind Menschen, die mit gewaltbereiten Faschisten mitmarschieren.‹ Turkof ist überzeugt, dass die von ihr als ›rechtsextrem‹ bezeichnete Regierung von övp und fpö bis heute nachwirkt und verweist auf die Liederbuch-Affäre und andere Vorfälle, die nie vollumfänglich aufgearbeitet worden seien.
Für mehr Verständnis sorgt das Dialogprojekt Likrat, ein Aushängeschild der ikg. Auf hebräisch bedeutet Likrat ›auf jemanden zugehen‹, und der Name ist Programm. Das Projekt startete 2002 in der Schweiz, seit 2012 gehen jüdische Jugendliche auch in Österreich in Schulklassen, um mit Gleichaltrigen über ihre Religion und ihren Alltag zu sprechen. ›Wir haben immer wieder gemerkt, dass viel Unwissen herrscht. Und dass es mehr persönlichen Austausch braucht‹, sagt Betty Kricheli, Vorsitzende der Jugendkommission und Likrat-Projektverantwortliche bei der ikg.
Fast nebenbei werden damit auch antisemitische Vorurteile bekämpft: Warum zahlen Juden keine Steuern (stimmt natürlich nicht)? Warum machen sie ›dasselbe‹ mit den Palästinensern, was Nazis mit Juden gemacht haben (ebenso)? Aber auch: Wie sieht der Alltag eines jüdischen Jugendlichen aus? Diese und andere Fragen werden behandelt. Die mittlerweile rund hundert Freiwilligen besuchten mittlerweile mehr als hundert Schulen, waren aber auch schon bei Pfadfindern, in Flüchtlingsunterkünften und in einem Pensionistenheim. Dabei gibt es immer wieder Aha-Momente. Etwa als einer der Peers erzählte, dass er erfolgreicher Schwimmer ist. Das hätte man sich nicht von einem Juden erwartet, hieß es. ›Es gibt ganz viele Stereotype, wie man sich eine Jüdin oder einen Juden vorstellt. Gleichzeitig geben 90 Prozent der Dialogpartner an, noch nie einem Juden begegnet zu sein‹, sagt Benjamin Gilkarov, Abteilungsleiter der ikg-Jugendarbeit und Projektleiter von Likrat.
Immer wieder kommt auch die Frage nach den Palästinensern, vor allem, wenn der Konflikt wieder aufflammt, wie im letzten Mai. ›Wir bedauern das Leid auf beiden Seiten, aber wir haben keinen Einfluss auf die Geschehnisse‹, sagt Kricheli. Auch darum gehe es: Zu zeigen, dass Juden eben kein homogenes Kollektiv sind, als das sie so oft dargestellt werden.
Auch wenn es manchmal gezeichnete Hakenkreuze oder verletzende Fragen gibt, ›wie es denn in der Gaskammer so ist‹, entspringe die überwiegende Zahl der Fragen ehrlicher Neugierde. ›Dann zeigt sich, dass die Gemeinsamkeiten überwiegen. Dass nichtjüdische und jüdische Jugendliche dieselben Fußballteams anfeuern oder dieselbe Musik hören‹, sagt Gilkarov.
Dass Antisemitismus bereits früh um sich greift, merkte auch Victoria Borochov, Vorstandsmitglied der jöh. ›Als ich zehn Jahre alt war, kam ein türkischer Junge aus der Parallelklasse auf mich zu und schubste mich: »Du scheiß Jüdin, ich bring dich und deine ganze Familie um!«‹, erzählt sie. Das hat sich eingeprägt – noch Jahre später habe sie ihre Identität versteckt, ›weil ich Angst hatte, dass so etwas wieder passieren kann.‹ Erst die Tätigkeit in der jöh gab ihr ein Zugehörigkeitsgefühl. Dennoch: ›Man wird viel achtsamer und aufmerksamer, muss aufpassen, wem man was erzählt‹, sagt sie. Und geht deswegen auch weiterhin auf die Straße, um gegen Antisemitismus zu demonstrieren.
Grundsätzlich müsse Antisemitismus viel stärker in den Schulen thematisiert werden, sagt Turkof. ›Es reicht nicht, die Jahre 1939 bis 1945 zu behandeln, »Schindlers Liste« zu schauen und einmal nach Mauthausen zu fahren. Dann sagen alle: Das war früher, aber damit haben wir nichts mehr zu tun.‹ So mache man es sich zu einfach, denn Antisemitismus sei ›eben kein Thema der Vergangenheit.‹
Die Stabstelle im Bund sei wohl eine gute Sache. ›Aber es ist schwierig, so richtig glücklich darüber zu sein. Danke, dass es das gibt. Aber es reicht nicht.‹ Die Kämpfe seien immer wieder auch an den Universitäten auszutragen, berichtet Turkof, die Bildungswissenschaften studiert. Etwa als der deutsche Philosoph Georg Meggle, der immer wieder von Israel als ›Apartheidstaat‹ sprach, in eine Ringvorlesung der Universität Salzburg zum Thema ›Israel boykottieren‹ geladen wurde. Die jöh protestierte gemeinsam mit der öh dagegen. Mit Erfolg: Der Vortrag wurde abgesagt.
Ein anderes Problem sei, dass – besonders auf Fachhochschulen – immer wieder Prüfungen auf hohe jüdische Feiertage gelegt oder ein Fernbleiben als Fehlstunde gezählt würde. Das sei nicht zwingend Antisemitismus, doch fehle es an Verständnis, sagt Turkof. Auch antisemitisch motiviertes Mobbing gebe es immer wieder: ›Diese Kämpfe passieren ständig, wenn auch nicht immer vor den Augen der Öffentlichkeit. Aber es hört nie auf.‹ •
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