Sie wissen, was sie tun
Wenn Menschen mit iranischen Wurzeln in Österreich gegen das Mullah-Regime protestieren, rechnen sie mit Bespitzelung. Die Angst vor Teherans Agenten ist groß, die Hoffnung auf den Sturz des Regimes größer.
Es war ein Dienstag im September und Jîna Mahsa Amini seit vier Tagen tot, als Mona Shams ihr Handy in die Hand nahm und ihrer Wut in Form eines Instagram-Postings Luft machte. ›The biggest war for feminism is happening in Iran right now‹, tippte die gebürtige Iranerin ins Gerät und, sinngemäß übersetzt, weiter: Wer jetzt noch schweige, möge es später nicht mehr wagen, über Frauenrechte zu sprechen.
Der Beitrag wurde einen Tag lang geteilt, kopiert, ging viral. Am Morgen darauf riss die Türklingel ihrer Wiener Wohnung Mona Shams aus dem Schlaf. ›Ich erwartete keinen Besuch und hatte nichts bestellt‹, sagt die 32-Jährige. Innerhalb der nächsten halben Stunde habe es fünfmal geläutet, jedes Mal sei ein anderer Mann vor der Haustür gestanden, alle trugen sie eine Kappe, ›das konnte ich vom Balkon aus erspähen‹, sagt sie. ›Gleichzeitig sah ich, dass mein Instagram-Konto gehackt worden war. Ich hatte solche Angst.‹
Mona Shams lebt seit drei Jahren in Wien, wo sie als Sängerin und Toningenieurin arbeitet. In den vergangenen Wochen konnte sie weder anständig essen noch schlafen. ›Ich bin voll Wut, breche ständig in Tränen aus. Es ist, als wäre da eine Wunde aufgerissen worden, aus der jetzt der ganze alte Dreck quillt‹, sagt sie.
Die Wut begleitet Mona Shams seit ihrer Kindheit. Die Wut war da, als sie in der Volksschule nicht tragen durfte, was sie wollte; nicht sagen durfte, was sie dachte. Als ihr klarwurde, dass sie in so vielen Situationen ihres Lebens die Erlaubnis eines Mannes brauchen würde – zuerst die ihres Vaters, später die eines Ehemanns. Dass sie als Frau unter diesem Regime nie allein auf eine Bühne treten und singen dürfte, für künstlerische Freiheit ihr Heimatland hinter sich lassen müsste. Auch als sie nach einer Vergewaltigung nicht die Polizei verständigte, weil im Iran stets die Frauen anstatt der Täter büßen, war die Wut da. Sie war allgegenwärtig und ist es noch, wenn sich Mona Shams mit Papierkram der österreichischen Einwanderungsbehörde herumschlagen muss, anstatt sich ganz Kunst und Karriere zu widmen.
Zur Wut gesellt sich in diesen Tagen Misstrauen. Das Interview hätte Shams beinahe wenige Stunden davor abgesagt. ›Wie kann ich sichergehen, dass nicht auch Sie eine von ihnen sind?‹, fragte sie am Telefon. Eine von ihnen, damit meint Shams Spitzel der iranischen Regierung. Sie habe derzeit ständig das Gefühl, beobachtet zu werden, sagt sie. Zu manch langjährigen Bekannten habe sie inzwischen den Kontakt gekappt, vor allem zu jenen, die schweigen.
Die Angst, beobachtet, verraten, gemeldet zu werden, sei ›begründet‹, sagt der in Wien lebende Arzt und Menschenrechtsaktivist Siroos Mirzaei. ›Es wimmelt hier nur so vor lauter Spitzeln‹, ist er sicher.
Mirzaei hat seine Heimat Maschhad, die zweitgrößte Stadt Irans, vor 42 Jahren in Richtung Wien verlassen. Das war im Jahr nach der Islamischen Revolution, Mirzaei hatte soeben die Schule abgeschlossen. ›Ein paar Jahre nach meinem Medizinstudium in Wien fing ich an, mich bei Amnesty International zu engagieren‹, erzählt der Nuklearmediziner. Aus einer Arbeitsgruppe organisierten er und andere österreichisch-iranische Medizinerinnen und Mediziner sich als Medical Professionals for Human Rights in Iran. ›Als wir uns zur Gründungssitzung im Keller des Wiener Amnesty-Büros versammelten, nahm an meiner Seite ein fremder Mann Platz. Gegen Ende des Treffens stand er wortlos auf und ging‹, erinnert sich Mirzaei. Ob den Mann jemand gekannt hat, habe er die anderen im Raum damals gefragt, doch die schüttelten alle ihre Köpfe. ›Da war uns klar: Der kam von der iranischen Botschaft.‹
Eine weitere Begegnung mit einem mutmaßlichen Spitzel hatte Siroos Mirzaei vor einigen Jahren an einem seiner Arbeitsplätze im Wilhelminenspital, nunmehr Klinik Ottakring. Ein iranischer Arzt in Ausbildung habe angefragt, ihn eine Woche lang zu begleiten. Mirzaei stimmte zu. Als er ihn einmal aus den Augen ließ, habe eine Assistentin den Iraner dabei ertappt, wie er die Schubladen von Mirzaeis Schreibtisch durchwühlte. ›Ein paar Tage später legte er mir ein Dokument des iranischen Justizministeriums vor, welches ihn selbst als »zuständig für Exiliraner in Europa«´ auswies.‹ Warum aber sollte sich ein Spitzel outen? ›Ich glaube, man wollte mir ausrichten: Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, was du machst‹, sagt Mirzaei.
›Ich stelle die iranische Regierung offen infrage, bin gegen den Revolutionsführer und werfe dem Regime vor, dass es foltert und tötet‹, sagt Siroos Mirzaei. Bei einer Einreise in den Iran würde man ihm ›vermutlich Dinge wie Gefährdung der nationalen Sicherheit, Verleumdung des Revolutionsführers oder Verleumdung der Religion vorwerfen‹. Lapidar schiebt er hinterher: ›Dreimal Hinrichtung in meinem Fall.‹ Sein Herkunftsland hat Mirzaei seit 42 Jahren nicht mehr betreten.
Iranerinnen und Iraner, die in diesen Tagen in Österreich demonstrieren, riskieren damit, nie wieder in ihr Heimatland einreisen zu können. Manche Familienmitglieder nie wieder zu sehen, zumindest nicht auf iranischem Boden. Zu unsicher wäre die Einreise in den Iran, wenn man es sich zuvor mit dem Mullah-Regime verscherzt hat und die Falschen davon Wind bekommen. Siroos Mirzaei hat einen ganzen Stapel an Artikeln vor sich auf dem Tisch liegen, die von entführten, inhaftierten oder hingerichteten Regimekritikern berichten. Manche der Opfer kennt der Arzt persönlich: Kamran Ghaderi etwa, ein österreichisch-iranischer Doppelstaatsbürger, der 2016 am Flughafen Teheran von Angestellten des Geheimdienstministeriums festgenommen und später zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, Amnesty International zufolge wegen ›Zusammenarbeit mit feindlichen Staaten gegen die Islamische Republik‹. Oder Massud Mossaheb, Generalsekretär der Österreichisch-Iranischen Gesellschaft. Er war 2019 mit einer Delegation der niederösterreichischen MedAustron in Teheran, als man ihn festnahm. Mit Ausnahme einer kurzen Beurlaubung aus medizinischen Gründen vergangenen Spätsommer ist er seither in Haft. Ihm wird Spionage vorgeworfen. Sowohl Mossaheb als auch Ghaderi befinden sich im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran, wo es erst Mitte Oktober einen Brand mit mehreren Toten und Verletzten gegeben hat.
Bei den jüngsten Demonstrationen in Wien habe er immer wieder unbekannte Männer gesehen, die ›unsere Gesichter sehr nah filmen und fotografieren‹, sagt Siroos Mirzaei. Nach den ersten großen Protesten in Wien kursierten im Netz Screenshots von Nachrichten, denen zufolge die iranische Botschaft in Wien dazu aufgerufen habe, Demonstrierende zu melden. ›Fake News‹ konterte die Iranische Botschaft auf Twitter und wies in einer schriftlichen Stellungnahme alle Vorwürfe zurück.
Als am ersten Oktobersamstag erstmals mehr als 2.000 Menschen auf dem Wiener Stephansplatz ihre Stimmen für ›Frauen, Leben, Freiheit‹ im Iran erhoben, servierte die Studentin Nil Käsespätzle. Diese standen an jenem Tag auf dem Menü des Wiener Cafés, in dem die gebürtige Iranerin kellnert. ›Ich wollte unbedingt an der Demo teilnehmen. Alle meine Freundinnen gingen hin, auch die sonst so vorsichtigen‹, erzählt sie. Die Schicht im Kaffeehaus konnte sie aber nicht absagen, ›ich brauche ja das Geld‹.
Nil heißt eigentlich anders, sie ist in Teheran großgeworden und möchte zum Schutz ihrer selbst sowie ihrer Familie im Iran anonym bleiben. ›Im Nachhinein war ich froh, nicht auf die Demo gegangen zu sein‹, erzählt sie und wirkt dabei etwas beschämt. ›Ich habe Angst‹, sagt sie.
Als Tochter eines liberal eingestellten Paares genoss Nil in ihrer Jugend viele Freiheiten – zumindest im engsten Familienkreis. ›Meine Eltern nahmen früher selbst an Protesten teil. Wenn ich oder meine Schwester einen Freund hatte, dann war das kein Problem für sie. Und am Familientisch wurde schon mal mit einem Glas Wein angestoßen‹, erzählt die Studentin. Vor dem Rest der Familie verheimlichte man solche Dinge. So wuchs Nil in einer Welt auf, in der sie nicht nur Fremden, sondern auch Verwandten misstrauen musste, um sicher zu sein.
Danach gefragt, ob sie an den kommenden Demonstrationen in Wien teilnehmen wird, sagt Nil: ›Ich weiß es nicht. Wenn wir dieses Mal wieder verlieren, wird es so schlimm.‹ Sie fühle sich derzeit hin- und hergerissen zwischen vielen Gefühlen: ›Da ist die Angst, jemand könnte irgendetwas gegen mich oder meine Familie verwenden. Da ist Trauer, weil im Iran gerade so viel Schlimmes passiert. Und dann ist da plötzlich eine große Hoffnung, dass dieses Mal doch alles anders ist.‹ Beflügelt von dieser Hoffnung war die Studentin zu Beginn der Proteste im September noch mutiger, nahm auch an zweien davon selbst teil. Um auf etwaigen Aufnahmen nicht identifiziert werden zu können, trug sie Maske und Sonnenbrille. Nils ältere Schwester lebt in den USA und geht dort ebenfalls auf die Demonstrationen. ›Aber dort ist es anders‹, sagt Nil, dort sei die Angst vor Spitzeln nicht so groß. Wien, oder eher die hiesige iranische Botschaft, habe einen speziellen Ruf.
Viele Erlebnisse, von denen Betroffene berichten, sind schwer belegbar. Ein Fall aus dem Jahr 2018 hingegen zeichnet ein deutliches Bild von der speziellen Rolle der iranischen Botschaft in Wien: Wie zwei Jahre später, während eines Gerichtsprozesses in Belgien, zahlreiche Medien berichteten, wurde damals ein Bombenanschlag in Frankreich vereitelt, indem belgische Polizisten ein iranisches Paar festnahmen. Die beiden waren am Weg zu einem Treffen iranischer Regimekritiker in einem Pariser Vorort gewesen. Im Gepäck hatten sie ein halbes Kilo Sprengstoff. Diesen wiederum hat ein hochrangiger Diplomat via Linienflug aus dem Iran nach Wien und weiter nach Luxemburg geschmuggelt und dort dem Paar übergeben: nämlich Assadollah A., dritter Botschaftsrat der Islamischen Republik Iran in Wien – und mutmaßlicher iranischer Geheimdienstagent. Er wurde im Vorjahr in Antwerpen wegen versuchten Mordes und Beteiligung an einer terroristischen Straftat zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Mit ihrer Sorge vor Repressalien durch Geheimdienste ihres Herkunftslands sind Iranerinnen und Iraner in Österreich nicht allein. Auch viele hier lebende Menschen mit Wurzeln in beispielsweise Ägypten, Russland oder der Türkei würden es längst nicht mehr wagen, in ihre Heimat einzureisen. ›In Österreich wählt man aber seit jeher den Weg des Wegschauens‹, kritisiert der Soziologe und Integrationsexperte Kenan Güngör. Er selbst ist als Sohn kurdischer Gastarbeiter von der Türkei nach Köln gezogen und dort aufgewachsen, inzwischen lebt er in Wien. Der Staatschef seines Geburtslandes, Recep Tayyip Erdoğan, lässt seine Kritikerinnen und Kritiker im Ausland mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit bespitzeln, als es Regierungen anderer Länder tun: ›Seit 2016 macht er das ganz offiziell, ruft Auslandstürken offen dazu auf, Gegnerinnen und Gegner auch außerhalb der Türkei zu melden‹, sagt Güngör. Freiwillige können das inzwischen etwa mittels der App EGM Mobil tun, welche auch in Österreich in herkömmlichen App-Stores erhältlich ist. ›Die Kontrolle von Sozialen Netzwerken ist sehr wichtig geworden‹, sagt Kenan Güngör. ›Über Social Media wirkt die Zensurpolitik der Türkei auch in Österreich. Das hat zur Folge, dass hierzulande das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht mehr für alle Bürgerinnen und Bürger sichergestellt werden kann.‹
Anfang des Jahres teilte man Kenan Güngörs Anwältin mündlich mit, dass in der Türkei in zwei Verfahren gegen ihn ermittelt werde: wegen Beleidigung des Präsidenten Erdoğan – dieses Verfahren dürfte inzwischen wieder fallengelassen worden sein – sowie wegen Propaganda für eine Terrororganisation. Für den Soziologen wenig überraschend: ›In einem ungerechten System überrascht Unrecht nicht.‹ Er habe sich schon vor einigen Jahren gegen das Schweigen entschieden: ›Im Zweifelsfall bin ich bereit, den Preis zu zahlen – nämlich nie wieder in die Türkei einreisen zu können. Aber ich werde nicht schweigen.‹
Kenan Güngör selbst wollte die beiden Haftbefehle gegen ihn anfangs nicht in die Öffentlichkeit tragen. ›Ich kenne Menschen, die für ihre regierungskritische Haltung mit dem Leben bezahlt haben. Was mir widerfährt, ist dagegen lächerlich‹, sagt er. Nach einem halben Jahr aber, vergangenen Sommer, schrieb Güngör doch in einem Tweet darüber. Er tat es nach einer Bergtour am Attersee, angetrieben durch die Sehnsucht nach den kurdischen Bergen, welche sich vermischte mit Entsetzen über den freundschaftlichen Umgang, den österreichische Politiker neuerdings wieder mit Erdoğan pflegten.
Güngör ortet in Österreich eine ›außenpolitische Unreife sondergleichen. Einmal ist Erdoğan nur schlecht, dann wieder ist alles gut.‹ Er würde sich einen differenzierteren Umgang wünschen: ›Man könnte ruhig die neue Vermittlerrolle der Türkei anerkennen, ohne bestehende Missstände außer Acht zu lassen.‹ Man solle die Wahrung der Grundrechte in Österreich lebender Menschen zur außenpolitischen Agenda machen, sagt Güngör, ›und klarstellen: Wir lassen nicht zu, dass Teile unserer Bevölkerung hier bespitzelt und in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt werden.‹
›Aber Österreich greift die heiße Kartoffel ungern an‹, sagt der Arzt Siroos Mirzaei und spricht dabei, für seinen Teil, wiederum von den Beziehungen zum Iran. Weil das Leben manchmal verrückte Geschichten schreibt, hat sich die medizinische Expertise des Arztes ausgerechnet bei Angehörigen des iranischen diplomatischen Corps herumgesprochen. In seiner Ordination untersucht Mirzaei erst Schilddrüsen, dann sucht er das Gespräch. Er spricht die iranischen Diplomaten auf unschuldig Inhaftierte an, wirft die Namen Kamran Ghaderi und Massud Mossaheb in den Raum. Wenn der oft zitierte lange Arm der iranischen Regierung eine Hand hat, dann ist Siroos Mirzaei einer, der sie schüttelt. Nicht wie die Hand eines Freundes, sondern wie die einer Person, von der man etwas fordert.
Mona Shams hat ihr Instagram-Konto indes wieder im Griff. Seit dem Hackerangriff teilt die Sängerin nahezu rund um die Uhr und unter ihrem Klarnamen Videos und Artikel; macht mehr denn je auf Leid, Unterdrückung und Gewalt, aber auch Mut der Protestierenden im Iran aufmerksam. ›Es ist, als hätte ich mit dem Account auch meinen Mut wiedererlangt‹, sagt sie. •
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